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Die Geschichte geht weiter

Andreas Rödder blickt auf eine für viele neue Welt – die alten, vergessenen und nun wiederentdeckten Welten nicht unähnlich sein dürfte.
Dieses Buch wurde Monate vor dem schon jetzt legendären Auftritt von James David Vance bei der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz geschrieben. Es wurde vollendet lange vor dem Eklat im Weißen Haus zwischen dem ukrainischen Präsidenten und seinem amerikanischen Amtskollegen sowie dessen Vize. Und es blickt daher auf eine Welt, die es nach Meinung vieler Kommentatoren heute nicht mehr gibt. Ist es daher überholt? Muss man es noch lesen? Man sollte. Denn Andreas Rödder hat ein beinahe zeitloses Buch über Zeitvergessenheit geschrieben. Dies spiegelt sich bereits in seinem Titel über einen verlorenen Frieden. In ihm schwingt der bis heute im – alten, bisherigen – Westen stark verbreitete Glaube mit, man könne Frieden gleichsam auf Dauer stellen. Wie ahistorisch dieses Denken ist, kann man bei Rödders Reise durch die jüngere Vergangenheit erleben.
Der Professor für Neueste Geschichte an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz ruft noch einmal die Abfolge der internationalen Entwicklungen seit dem Ende des alten Kalten Krieges in Erinnerung. Wie ein roter Faden ziehen sich dabei Fehlwahrnehmungen und Fehlurteile durch die Jahre und Jahrzehnte – sowohl bei den Protagonisten wie bei ihren Beobachtern. Stellvertretend dafür kann gelten, was Rödder aus der Rede von George H. W. Bush vor dem amerikanischen Kongress am 11. September 1990 zitiert. Der damalige Präsident habe die Vision einer neuen Ära beschworen, „in der die Nationen der Welt in Ost und West, Nord und Süd gedeihen und in Frieden leben können. 100 Generationen haben diesen Weg zum Frieden gesucht, während 1000 Kriege tobten. Heute wird diese neue Welt geboren, und sie ist sehr anders als diejenige, die wir kannten: Eine Welt, in der die Herrschaft des Rechts das Gesetz des Dschungels ersetzt. Eine Welt, in der die Nationen ihre gemeinsame Verantwortung für Freiheit und Gerechtigkeit erkennen. Eine Welt, in der die Starken die Rechte der Schwachen respektieren.“
Die Arroganz des Westens
Diese vermeintlichen Gewissheiten sollten dann genau auf den Tag elf Jahre später mit dem World Trade Center in New York einstürzen. Und auch nach 9/11 sollten neue Zeitalter ausgerufen werden, bei jeder größeren Erschütterung der internationalen Ordnung beziehungsweise Unordnung – wieder und wieder, in immer kürzeren Abständen. Dieser Trend setzt sich bis in die aktuelle Nachrichtenlage fort.
Heute wirkt die Vision von Bush senior in ihr Gegenteil verkehrt: Die Welt scheint nun eine Ära zu erleben, in der die Nationen in Ost und West, Nord und Süd nicht mehr gedeihen und nicht mehr in Frieden leben können. Die gegenwärtige Generation muss erneut einen Weg zum Frieden suchen, während Kriege toben. Heute ist eine alte Welt wiedergeboren, und sie ist sehr anders als diejenige, die man inzwischen zu kennen glaubte: Eine Welt, in der das Gesetz des Dschungels die Herrschaft des Rechts ersetzt. Eine Welt, in der die Nationen ihre gemeinsame Verantwortung für Freiheit und Gerechtigkeit nicht mehr erkennen. Eine Welt, in der die Starken die Rechte der Schwachen nicht mehr respektieren.
Was ist in den Jahren und Jahrzehnten dazwischen geschehen? Mit Rödder kann man es nicht nur noch einmal nacherleben. Mit seiner Darstellung der Ereignisse sind auch drei Thesen verbunden: Der Sieg im alten Kalten Krieg habe den Westen zur Hybris verleitet. Dort sei das Ende des alten Ost-West-Konflikts mit zu hohen Erwartungen überfrachtet worden: der Überzeugung von der universalen Gültigkeit der eigenen Ordnung, der Vorstellung des globalen Demokratieexports und einer Arroganz der Macht – nicht zuletzt symbolisiert im Irak-Krieg 2003.
Kein Ende der Geschichte
Rödders zweiter These zufolge haben dann die Machtverhältnisse nach dem Ende des alten Kalten Krieges die fortbestehende Konkurrenz grundlegend unterschiedlicher Ordnungsvorstellungen verdeckt: zwischen einer liberalen, universell geltenden Ordnung, die auf der Souveränität und der Integrität der Teilnehmer dieser Ordnung beruhe, und hegemonialen Vorstellungen multipolarer Machtzentren, die als Vormächte über die Souveränität und Integrität der Staaten in ihrer Einflusssphäre bestimmten.
Diese unterschiedlichen Vorstellungen seien schließlich zum Tragen gekommen, so Rödders dritte These, als sich die Machtverhältnisse verschoben hätten und konkrete politische Entscheidungen zur Revision der Ordnung getroffen worden seien. Das Ergebnis sei ein neuer Konflikt zwischen einem herausgeforderten globalen Westen und einem neu formierten, revisionistischen globalen Osten – wobei Rödder betont, den Begriff „revisionistisch“ in einem rein analytischen Sinne zu verwenden.
Vor dem Hintergrund der von Rödder pointiert geschilderten Entwicklungen kann man sich allerdings fragen, ob nicht ebenfalls das Ausrufen des Endes des Ost-West-Konflikts zu früh erfolgt ist. Denn auch für ihn gab es in Wirklichkeit kein Ende der Geschichte – zumindest bislang. Vielmehr spiegelte er sich in der bereits ab den frühen 1990er Jahren fortgesetzten Gewaltgeschichte Europas wider. Die Konflikte auf dem Balkan setzten als Stellvertreterkriege nicht nur eine Tradition des alten Kalten Krieges, sondern in ihren politischen Frontstellungen auch jahrhundertealte Konfliktlinien quer durch Europa fort.
Zwei von drei Krisenherden in Flammen
Rödder verweist darüber hinaus auf das weltweite Kontinuum von Gewalt, das sich an sich durch das gesamte vermeintliche Ende der Geschichte gezogen habe: von den Jugoslawienkriegen über Ruanda 1994, die Attentate vom 11. September 2001 und den amerikanischen „Krieg gegen den Terror“, den „Islamischen Staat“ und Moskaus Krieg gegen Kiew bis zum Hamas-Angriff auf Israel. Dabei charakterisiert Rödder treffend Charakter wie Dimension der gegenwärtigen Auseinandersetzungen: Russische Truppen hätten am 24. Februar 2022 in der Ukraine einen Krieg begonnen, der die Zerstörungskräfte von mehr als einem Jahrhundert kombiniere: den Stellungskrieg des Ersten Weltkrieges und die Kriegführung gegen die Zivilbevölkerung des Zweiten Weltkrieges sowie den Cyberkrieg des 21. Jahrhunderts. Im Jahr darauf, am 7. Oktober 2023, habe die Hamas dann in Israel das größte Gewaltverbrechen gegen Juden seit dem Holocaust verübt.
In Rödders Augen stehen seitdem zwei von drei globalen Krisenherden lichterloh in Flammen. Und im Hinblick auf den dritten habe der chinesische Staatspräsident Xi Jinping Ende 2023 keinen Zweifel daran gelassen, dass er – unabhängig vom Willen der Betroffenen – die Einverleibung Taiwans durch China anstrebe. Rödder blickt damit auf eine für viele Kommentatoren neue Welt, die alten, vergessenen und nun wiederentdeckten Welten nicht unähnlich sein dürfte.

Andreas Rödder
Der verlorene Frieden. Vom Fall der Mauer zum neuen Ost-West-Konflikt
C. H. Beck Verlag 2024,
250 Seiten, 26 Euro

Dr. Thomas Speckmann ist Historiker und Politikwissenschaftler und hat Lehraufträge an den Universitäten Bonn, Münster, Potsdam und der FU Berlin wahrgenommen.
© Laurence Chaperon