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Ein Kurswechsel ist nötig

Aktuell - Ein Kurswechsel ist nötig
Kuppel des Bundestages © Pixabay (alle Fotos)

Die Parteien auf der Suche nach einem außenpolitischen Standort — ein Text von Paul Kevenhörster

01.07.2022

Als "die Schlafwandler" hat der Historiker Christopher Clark vom St. Catharines College in Cambridge in Anlehnung an die Roman-Trilogie von Hermann Broch die Politiker bezeichnet, die Europa in den Ersten Weltkrieg hineingezogen haben. Die hierfür Verantwortlichen hätten in allen beteiligten Regierungen gewirkt: mächtige Männer, von Paranoia getrieben und mit Blindheit geschlagen. Sie wussten nicht wirklich, was sie anrichteten. Dieser Befund des Historikers kann auch als Warnung an die Politiker der Gegenwart verstanden werden, die Fehleinschätzungen ihrer Russland-Politik aus den letzten beiden Jahrzehnten zu überprüfen. Dazu bietet der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine genügend Anlass.

In dieser Krise erweckt die Bundesrepublik jedoch den Eindruck eingeschränkter Führungsfähigkeit. Der Bundeskanzler hat bisher nicht ausreichend deutlich gemacht, worin die deutsche Strategie angesichts der Aggression Russlands bestehe. Diese Mängel der Kommunikation haben Deutschland ohne größere Erklärungen und parlamentarische Debatten immer tiefer in die Auseinandersetzung um den Krieg in der Ukraine schlittern lassen. Wie konnte es dazu kommen?

Einen ersten Hinweis geben die politischen Hypotheken, die die vergangenen Bundesregierungen zur Rechtfertigung ihrer vermeintlich visionären, in Wirklichkeit aber illusionären Russlandpolitik aufgenommen haben – getragen von außenpolitischer Blindheit und energiepolitischer Realitätsverweigerung. Diese Politik befand sich weitgehend in den Händen der deutschen Putin-Freunde von Bundeskanzler Gerhard Schröder bis hin zur Ministerpräsidentin Manuela Schwesig in Mecklenburg-Vorpommern. Beide stehen für die Gründung einer "Klima-Stiftung", die die deutsch-russische Gaspipeline Nord Stream 2 und damit Russlands Interessen vor amerikanischen Sanktionen schützen sollte. Dem haben die Bundesregierung unter Angela Merkel und die beteiligte Landesregierung mit großer Beflissenheit gedient.

Entsprechend hat Altkanzler Schröder von diesem Engagement und seinem eigenen Einsatz für den russischen Partner Gazprom auch finanziell profitiert. Auch die Stellungnahmen anderer führender Sozialdemokraten – wie die des früheren Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi — deuten darauf hin, dass sich in der SPD seit der Bundestagsdebatte über das Petersberger Abkommen als eines Grundsteins der westlichen Integrationspolitik im Jahre 1949 Elemente eines tiefsitzenden Antiamerikanismus wie einer pseudoromantischen Russlandverehrung erhalten haben.

"Warten auf Olaf"

In der akuten Krise bemängelt das Magazin Der Spiegel das "Warten auf Olaf": Der Bundeskanzler entscheide in den Fragen der Waffenlieferungen und Sanktionen "erst dann, wenn er nicht mehr anders kann. Und keiner weiß, was er wirklich will". Die Verteidigungsministerin habe längst die Übersicht über die zu liefernden Waffensysteme verloren. Ebenso das Verteidigungsministerium selbst. Diesem desolaten Eindruck und dem dahinterstehenden kommunikativen Chaos entspricht, dass ein Krisengipfel im Kanzleramt erst gar nicht vorgesehen war.

Der politische Vertrauensschaden ist indessen gewaltig. Der Spiegel-Kommentator Markus Feldenkirchen hat Schwesigs Klimastiftung folgerichtig als "eine der größten Dummdreistigkeiten der Nachkriegsgeschichte" bezeichnet. Der Freundeskreis von Putin reicht offensichtlich immer noch tief in die Führungsschicht der SPD hinein und vor allem in den neuen Bundesländern weit darüber hinaus. Aber auch die Christdemokraten waren, wie Alexander Kissler in der Neuen Zürcher Zeitung kritisch anmerkt, "als blauäugige Handlungsreisende unterwegs" – besonders während Merkels Kanzlerschaft. Unvergessen ist die außenpolitische Charmeoffensive des bayrischen Ministerpräsidenten Markus Söder gegenüber Wladimir Putin im Januar 2020 im Kreml.

Der außenpolitische Experte der CDU Norbert Röttgen hat die SPD aufgefordert, ihre "langjährigen geheimen Verstrickungen" mit dem russischen Staat und der herrschenden Klasse Russlands aufzudecken. Diese Aufforderung muss aber auch der eigenen Partei gelten, die sich ihrerzeit nicht nur für die Ostseepipeline Nord Stream 2 eingesetzt hat, sondern sich dabei auch mit der CDU Mecklenburg-Vorpommerns im Januar 2021 für den Erhalt der "partnerschaftlichen Beziehungen mit Russland" ausgesprochen hat. Zudem hat die Regierung Merkel den Bau von Nord Stream 2 selbst dann nicht gestoppt, als Russland bereits die Krim annektiert hatte. So konnte die breit aufgestellte politische Klasse Deutschlands mit schlafwandlerischer Sicherheit ihren russophilen Träumen folgen, obwohl sich die Zeichen gewaltbereiten russischen Expansionsstrebens bereits seit vielen Jahren mehrten.

Verplemperte Zeit?

Was ist zu tun? Vergangenheitsbewältigung ist keine "verplemperte Zeit", wie die frühere Bundeskanzlerin ihrer Parteivorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer entgegenhielt, als diese eine Aufarbeitung der Fehlleistungen der Regierung in der Flüchtlingskrise des Jahres 2015 für die Christlichen Demokraten forderte. Sinnvoll scheint jedenfalls derzeit die Einberufung einer parlamentarischen Enquete-Kommission durch den Deutschen Bundestag, um die vielfältigen Verstrickungen von Abgeordneten und Parteien in der Russlandpolitik offenzulegen. Diese Chance liegt im Interesse aller Abgeordneten, denen an einer Klärung des Verdachts des Interessenfilzes und einseitiger Parteinahme zugunsten der herrschenden Klasse Russlands gelegen ist. Darüber hinaus liegt es im eigenen Interesse der Parteien, dem Verdacht des russophilen Filzes in ihren eigenen Reihen nachzugehen und Putins Freundeskreise wirksamer einzugrenzen.

Wo bleibt die Selbstkritik? fragt Alexander Kissler zu Recht. An den geostrategischen Irrtümern der Merkel-Regierungen haben SPD und CDU jedenfalls beharrlich und ergeben mitgewirkt. Je selbstkritischer sie jetzt mit dem außenpolitischen Erbe der Kanzler Schröder und Merkel umgehen, umso besser dürften die Chancen einer neuen, überzeugenden außenpolitischen Standortbestimmung einzuschätzen sein. Es ist ermutigend, dass der neue SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil inzwischen dazu aufgefordert hat. Die CDU hingegen duckt sich einstweilen im Schatten ihrer lange Zeit schweigsamen Ex-Kanzlerin verlegen weg und muss sich dem programmatischen Erneuerungsbedarf erst noch stellen.

Die Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands haben sich demgegenüber seit langem in der außenpolitischen Ratlosigkeit und in einer pazifistischen Idylle, für die insbesondere der rheinische SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich steht, wohlig eingerichtet. Diese Orientierung war schon nach dem Wahldebakel 2017 zu beobachten, erst recht nach den Wahlniederlagen in den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen im Frühjahr 2022. Eine schonungslose Aufarbeitung dieses Debakels hat jedenfalls bisher nicht stattgefunden. So befindet sich die SPD außen- und sicherheitspolitisch weiterhin im Krisenmodus.

Außen- und sicherheitspolitisch leiden die Genossen an einer Bewusstseinsspaltung. Außenpolitisch wähnen sie sich in der Tradition Willy Brandts. Aber die Fäden ihrer devoten Russlandpolitik laufen seit langem in Niedersachsen bei den Freunden Gerhard Schröders zusammen und werden in Mecklenburg-Vorpommern von der dortigen Ministerpräsidentin Manuela Schwesig in Zusammenarbeit mit den "Offizieren Russlands" weitergesponnen. Nach den Sicherheitsrisiken der sozialdemokratischen Außen- und Energiepolitik wird seit fast einem Jahrzehnt, spätestens seit der russischen Krim-Annexion im Jahre 2014 und dem Verkauf deutscher Gasspeicher an Russland im September 2015, gefragt

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Über die Pipeline Nordstream 2 sollte Deutschland mit Erdgas versorgt werden. Doch der Bau ist zum Stopp gekommen.

Das Projekt Nord Stream 2, von der Regierung Merkel nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland zielstrebig vorangetrieben, fand seine Fürsprecher in der Deutschen Wirtschaft und in den beiden Regierungsparteien. Der prominente Sozialdemokrat Klaus von Dohnanyi hat auch in dieser Lage bei Putin keinerlei Neigung zu einer Westexpansion erkennen können und träumte im Hinblick auf die Zukunft Europas sogar von einer "allianzneutralen Politik". Die Zahl der "Putinversteher" war Legion – in der Wirtschaft, der Wissenschaft, der SPD, der CDU und ganz besonders der CSU.

Die Parteien stehen nun vor der dornigen Aufgabe, diese Illusionen aufzuarbeiten und ihre traditionelle Neigung zu außenpolitischem Wunschdenken wirksamer zu bekämpfen – die Sozialdemokraten vor allem ihre Neigung zu ihrem "mit Antikapitalismus vermengten Antiamerikanismus" (Heinrich August Winkler), ihre Illusionen über Russland und ihre romantische Selbststilisierung als "Friedenspartei". Inzwischen hat immerhin ihr früherer Vorsitzender Sigmar Gabriel in mehreren Beiträgen den russlandpolitischen Irrweg seiner Partei beklagt und eine Kursumkehr gefordert.  

Der emeritierte Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn Martin Hellwig hat in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass sich die damalige rot-grüne Bundesregierung schon im Jahre 2002 mit ihrer Ministererlaubnis für die Fusion der beiden Energiegiganten Eon und Ruhrgas "nassforsch" über schwere Bedenken der Wettbewerbshüter hinweggesetzt habe. Diese Entscheidung begründete eine starke Abhängigkeit der deutschen Gasversorgung von Russland und schränkt zugleich die deutsche Handlungsfreiheit in der jetzigen Krise dramatisch ein. Die Ministererlaubnis für Eon/Ruhrgas, die Förderung von Nord Stream, die Vernachlässigung von Flüssiggas und die Übertragung des Speichers Rehden an Gazprom sind markante Bausteine dieser russophilen Energiepolitik, deren Erträge vor allem der russischen Regierung sowie einigen sozialdemokratischen Spitzenpolitikern zugutegekommen sind. Wer trägt dafür die politische Verantwortung? Dieser Frage stellt sich die SPD bislang nicht.

Während sich die Sozialdemokraten mit diesen außenpolitischen Hypotheken ihrer Politik auf Dauer auseinandersetzen müssen, herrscht in der CDU beim Blick zurück eine merkwürdige Funkstille. Und die Politikerin, die die außen- und energiepolitische Fehlentwicklung der letzten beiden Jahrzehnte politisch letztlich zu verantworten hat, ist lange Zeit unter dem Schutzmantel der Medien im Süden Europas abgetaucht. In der Kanzlerdemokratie stellt sich aber die Frage nach der Richtlinienkompetenz auch rückwirkend: Was hat die frühere Kanzlerin zu verantworten? Und welche Rolle spielen dabei die "Merkelianer" wie Peter Altmaier, Helge Braun und Thomas de Maiziere? Und warum ist von ihnen in dieser zentralen Frage politischer Verantwortung so gut wie nichts zu vernehmen?   

Dem neuen Parteivorsitzenden Friedrich Merz stellt sich jedenfalls die dornige Aufgabe, die Felder der christdemokratischen Außen-, Verteidigungs- und Energiepolitik klar zu besetzen und überzeugende Zukunftsperspektiven zu entwickeln. Aufgabe einer neuen Außenpolitik wäre es, die Zukunft Osteuropas neu zu entdecken und auf diesem Wege an die Politik der früheren Bundekanzler Willy Brandt und Helmut Kohl anzuknüpfen.

Der programmatische Nachholbedarf der CDU ist nach der weitgehenden Verkümmerung ihrer Verteidigungs-, Osteuropa- und Energiepolitik in den letzten eineinhalb Jahrzehnten selbstgenügsamer Regierungsführung gewaltig: Kein einziges Regierungsmitglied empfing die aus Afghanistan heimkehrenden Bundeswehrsoldaten. Und nicht einmal die der Union nahestehende Konrad-Adenauer-Stiftung sieht sich in der Lage, eine Debatte über dieses beeindruckende Versagen zu führen. Dies ist, wie die Zeit-Kommentatorin Miriam Lau anmerkt, Symptom der "gigantischen Trägheit und Verfettung des Parteiapparats".

Die CDU neigt dazu, die außenpolitischen Fehler der Regierung in der Russlandpolitik der SPD zuzuweisen – als ob sie selbst nicht 16 Jahre lang die Spitze der Regierung gestellt hätte. Die politische Klasse führt von links bis rechts derzeit nur vor, wie unterentwickelt ihre Fehlerkultur ist. Nur wenige Wochen nach dem Ausrufen der "Zeitenwende" durch den Bundekanzler erweckt sie den Eindruck, sich wieder zum Schlafen hingelegt zu haben: "Es ist, als hätte Deutschland mit Kriegsbeginn eine neue Rolle annehmen wollen, aber beim Betreten der Weltbühne den Text vergessen", klagt Ulrich Fichtner im Spiegel. Alle Verantwortlichen quälten sich improvisierend durch ein Stück, "dessen Inhalt keiner versteht, weil einer der Hauptdarsteller schweigt". Die Erinnerung an die verfassungspolitisch so zentrale Richtlinienkompetenz des Kanzlers wirkt in dieser Situation wie ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten. Nicht einmal ein Gefühl der Dringlichkeit außenpolitischen Krisenhandelns vermag sich einzustellen.

Der grüne Verteidigungsexperte Winfried Nachtwei beklagt Deutschlands fehlende Verteidigungsfähigkeit als Folge einer Mischung aus "strategischer Dummheit plus politischer Feigheit". Der außenpolitische Imageschaden dieser Politik, die auf das strategische Versagen der Kanzlerschaft Angela Merkels mit der Folge einer geradezu "selbstmörderischen Abhängigkeit von Russland" (Ulrich Fichtner) zurückgeht. International wirkt die außenpolitische Führungsschicht der Bundesrepublik folglich weniger als Reformkraft denn als Bremser der Initiativen ihrer Partner.

Allianz der Ahnungslosen

Die außenpolitisch Verantwortlichen erwiesen sich in den letzten beiden Jahrzehnten als eine gutwillige, aber schlecht informierte Allianz der Ahnungslosen, welche die Kanzlerin, einen Großteil ihrer Minister, die Fraktionsvorsitzenden der Regierungsparteien und viele Berichterstatter in den Medien umfasste. Soweit Experten in nachgeordneten Behörden und in Think Tanks Bedenken oder Warnungen ausgesprochen haben, wurden diese offensichtlich entweder missachtet oder verdrängt. Entsprechend phlegmatisch sind die Erklärungen der früher Verantwortlichen vier Monate nach dem Beginn des Ukraine-Krieges: Die früheren Kanzler Schröder und Merkel äußern übereinstimmend: kein "mea culpa"!

Der frühere Fraktionsvorsitzende Wolfgang Schäuble ging sogar so weit, die Kritiker der fehlgeschlagenen Ost- und Energiepolitik zu verspotten ("Wer vom Rathaus kommt, ist immer klüger!"). Wenn es denn so einfach wäre! Doch das Scheitern dieser Politik war vorhersehbar. Dies haben in den letzten zehn Jahren mehrere Warnungen gezeigt. Doch im Regierungsapparat wurde Osteuropa in den letzten Jahrzehnten offensichtlich nicht ernst genug genommen. Der Historiker Timothy Snyder von der Yale-University wirft den Deutschen vor, "Nie wieder Faschismus" zu sagen, diesen aber nicht entschlossen zu bekämpfen, wenn er sich wirklich – wie jetzt in Russland – zeige. Dies führe in gerader Linie zu dem zögerlichen, international stark beklagten Regierungshandeln der Bundesrepublik im Ukraine-Krieg: "Die Deutschen behandeln die Ukraine reflexhaft von oben herab" (Die Zeit, 19. Mai 2022, S. 10).

Als der französische Philosoph Michel Eltchaninoff im Jahre 2014 an seinem Buch "In Putins Kopf" arbeitete, hat der russische Rechtsextremist Alexander Dugin ihm gegenüber bereits den großen russischen Krieg gegen den "dekadenten Westen" vorausgesagt und hinzugefügt: "Wissen Sie, der nächste Schritt nach der Annexion der Krim ist, das Ostufer des Dnjepr zu nehmen und es in den russischen Staat zu integrieren. Und dann auf der anderen Seite im Westen einen kleinen folkloristischen Staat daraus zu machen, ohne jegliche Macht" (Der Spiegel, 9. April 2022, S.117). Putin steht jedoch nach der Aussage von Eltchaninoff so fest im Gefängnis seiner aggressiven, totalitären Ideologie, dass es "keine Beweglichkeit, keine offenen Türen mehr in diesem System" gebe. Wer Putins Sowjetismus verstehen wolle, müsse sich daher auf einen langwährenden Krieg einlassen.           

Der Philosoph als Wegweiser?

Die vormals tonangebende publizistische Führungsschicht der "Neuen Linken" zeigt sich von der anhaltenden Diskussion um die außen- und verteidigungspolitischen Folgen des russischen Angriffskrieges stark verunsichert, wenn nicht getroffen. Eine ihrer Ikonen, der Philosoph Jürgen Habermas, kritisiert von seinem Alterssitz am Starnberger See aus die "moralisch entrüsteten Ankläger in Deutschland" (NZZ vom 29. April 2022). Als Philosoph formuliert er das Dilemma, bietet aber keine Lösung an, sondern tritt dem stets zaudernden Kanzler ("reflektiert und zurückhaltend auftretend") zur Seite. Der Philosoph als Wegweiser: Er zeigt den Weg, geht ihn aber nicht. Aus dieser Position heraus attestiert er der Jugend politische Unzuverlässigkeit und sieht die Bundesrepublik als "moralische Ordnungsmacht" desavouiert. Und was ist mit Russland? Die von Putin überfallene Ukraine mache die Bundesrepublik, die viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, vielmehr zum Objekt einer "moralischen Erpressung". So richtet sich die alte Neue Linke das Leben in einer unsicher gewordenen Welt bequem ein. Allenfalls in einem ist Habermas zuzustimmen:  Die junge Generation ist "aus ihren pazifistischen Illusionen herausgerissen" worden.

Die politische Klasse ist ebenso aus ihrer über Jahrzehnte gepflegten Illusion politischer Bequemlichkeit und strategischer Blindheit erwacht, mit der Regierung und Wirtschaft in Deutschland den früheren Kanzlern Schröder und Merkel in ihrem Einsatz für Nord Stream 2 willig gefolgt sind und damit letztlich dem Kriegsausbruch Vorschub geleistet haben. So erwiesen sich die Vertreter der politischen Klasse als "leichtgläubig und provinziell" (Paul Ingenday, in: FAZ, 21. April 2022). Schließlich zeigten sich auch die beiden letzten Regierungschefs zur Selbstkritik nicht imstande. Der eine sagt: "Nicht: mea culpa!", die andere hat lange Zeit ihre Zuflucht in vielsagendem Schweigen gesucht. In ihrem ersten öffentlichen Interview danach hat die frühere Kanzlerin eine Entschuldigung für ihre Russland-Politik abgelehnt. Doch die meisten Medien und viele Wähler halten inzwischen ihre Diplomatie gegenüber Russland für einen Irrweg. Über die Bedenken von Nachbarn und Freunden habe sie sich hinweggesetzt; Nord Stream 2 aber sei von Anfang an ein grober Fehler gewesen. Die vormals so gefeierte Kanzlerin ("Deutsche Queen") hat jedenfalls nicht die königliche Größe aufgebracht, sich für diese Politik und ihre eigenen Fehlentscheidungen zu entschuldigen.  

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Putin pokert seit Jahren und gewinnt auf vielen Gebieten.

Es bleibt somit ein zentrales Problem politischer Verantwortung ungelöst, auf das der Mannheimer Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmansegg in seiner Analyse "Putins Krieg" aufmerksam gemacht hat: die "Blindheit, mit der diese politische Klasse ihr Land bewusst in die Energieabhängigkeit von Putins Russland geführt und die Bundeswehr fast bis zum stillen Kollaps heruntergewirtschaftet hat ... Die deutsche Appeasement-Politik gegenüber Putin hat nicht Deutschland, sondern Russland stärker gemacht."

Diese Blindheit der politischen Führung angesichts seit langem erkennbarer Tendenzen der Proklamation des imperialen Herrschaftsanspruchs Putins sind jedenfalls kein Kompetenznachweis politischer Führung und außenpolitischer Weitsicht. Stattdessen legt der Krieg in der Ukraine offen, wie abhängig Deutschland von autoritären Staaten ist, merkt Die Zeit an.

Dabei hat es an Warnungen nicht gefehlt. So hat etwa die aus der Ukraine stammende Publizistin Marina Weisband schon früh vor der russischen Aggression gewarnt (nachzulesen: FAZ, 27. April 2022). Sie hat diese Warnungen vor den Gefahren einer russischen Aggression schon seit 2014 vorgetragen, doch niemand scheint sie beachtet zu haben. Daran schließen sich schmerzhafte Fragen an: Was eigentlich hat der Bundesnachrichtendienst in diesen acht Jahren gemacht? Warum ist die totale Auslieferung des energieabhängigen Deutschlands an Russland – von einigen jetzt als "Verbrechen" bezeichnet – von den Experten der Auswärtigen Politik nicht einmal thematisiert worden? Und warum haben die schläfrigen Regierungsparteien dieser Entwicklung nicht gegengesteuert?

Verfehlte Russlandpolitik

Die Konsequenzen der verfehlten und letztlich verantwortungslosen Russlandpolitik liegen auf der Hand. Vor allem stellt sich die Frage: Haben CDU und SPD eigentlich dazugelernt? Neue Handlungschancen tun sich auf. Die Umstellung der Energiepolitik auf erneuerbare Energien müsste unter den neuen Herausforderungen politisch besser durchgesetzt werden können, ebenso das Zwei-Prozent-Ziel der Verteidigungsbereitschaft. Dazu muss sich die politische Klasse freilich "von der Normalitätsunterstellung der bestehenden Routinen der politischen Wahrnehmung trennen", wie der Münchener Soziologe Armin Nassehi zu Recht fordert.

In einem offenen Brief haben 28 prominente "Intellektuelle" kürzlich den Bundeskanzler dazu aufgefordert, die Lieferung großer Mengen schwerer Waffen an die Ukraine zu stoppen. Eine markante Gegenposition: Es gebe allerdings gute Gründe – so der Münsteraner Historiker Vitalij Fastorskiy in einer Entgegnung – "warum die Sicherheitsbehörden nicht auf Forderungen von Erpressern eingehen: Ihre Erfüllung generiert neue Erpressungen, neues Leid... Vergewaltigte Frauen und Kinder, geplünderte Häuser, erschossene Zivilisten, ausgebombte Städte und Repressionen gegen die ukrainische (und die unabhängige russische) Kultur – das ist die offene Konsequenz dieses offenen Briefs" (FAZ, 4. Mai 2022). Mit Kannibalen, so merkt der Bürgermeister von Kiew Wladimir Klitschko an, könne man sich nicht an den Verhandlungstisch setzen.

Selbstkorrektur

Die Vertreter der intellektuellen Schickeria beschwören immer wieder das nukleare Risiko und die Gefahr eines Dritten Weltkrieges. Es kann aber doch nicht sein, dass die Kosten dieser Risikoabwehr letztlich von den Ukrainerinnen und Ukrainern getragen werden, "denen ein Leben im russischen Imperium droht", wie Cord Schmalzle anmerkt. Es bleibt zu hoffen, dass Deutschland in seiner Russland- und Europapolitik zu einer "Selbstkorrektur" fähig ist, wie der Außenminister der Tschechischen Republik Jan Lipavsky noch jüngst gefordert und daran die Hoffnung geknüpft hat, es möge wieder "ein Motor Europas" werden. (FAZ, 4. Mai 2022).

Davon ist aber die politische Klasse in Deutschland noch Lichtjahre entfernt. Die bisherige treuherzige, Status-quo-orientierte Außen- und Europapolitik gehört jedenfalls auf den Prüfstand der Kritik. "Es reicht nicht, immer nur wie in der Außen- und Europapolitik der letzten Jahrzehnte als Letzter das Nötigste zu tun", hat der Vorsitzende der Münchener Sicherheitskonferenz Christoph Heusgen gegenüber den Lesern des Spiegel zu Recht erklärt. Deutschland müsse "mehr Verantwortung übernehmen" – wie wahr!  Es stellt sich nur die Frage, warum der Verfasser dieser Aussage bei seiner langjährigen Tätigkeit im Bundeskanzleramt gegenüber der früheren Bundeskanzlerin diese Einsichten nicht mit größerem Nachdruck und größerem Erfolg hat vermitteln können. Stattdessen haben Bundeskanzleramt und Auswärtiges Amt die Bundesregierung zielstrebig in die Sackgasse einer verfehlten Osteuropa- und Energiepolitik geführt – und Parlament, Berater und Medien folgten beflissen im Blindflug. Die Rechnungen dieser Fehlsteuerung und der "Zeitenwende" aber sind jetzt und in den kommenden Jahren zu begleichen.

Schon seit der ersten Veröffentlichung des französischen Philosophen Michel Eltchaninoff "In Putins Kopf" im Jahre 2015 hätten anspruchsvolle Experten der auswärtigen Politik im Kanzleramt und im Auswärtigen Dienst unschwer erkennen können, dass Putin ein rückwärtsgewandtes Weltbild mit hegemonialem Anspruch vertrat und zusammen mit nationalkonservativen, reaktionären russischen Philosophen von einem russischen Weltreich träumte. Dies sollte nach dem Willen des skrupellosen russischen Kriegsherrn von Wladiwostok bis Warschau reichen. Doch die Botschaft dieses imperialen Machtanspruchs drang nicht bis zu den Regierungsspitzen in Berlin, Paris und London durch. Aber in der Vorstellungswelt Putins war die "Eskalation zum Äußersten" (Eltchaninoff) von Anfang an angelegt.

Auch die Wissenschaft und die wissenschaftliche Beratung der Außenpolitik sind überwiegend nicht durch Weitsicht und Kompetenz aufgefallen. Im Gegenteil: In der Wahrnehmung vieler Wissenschaftler und Berater war etwa die Ukraine eine "vergessene Nation" (Thomas Thiel, FAZ, 5. Mai 2022). Den Wandel in Osteuropa verschlafen haben insbesondere die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und die eigentlich zuständige Osteuropa-Forschung. Die Konzentration auf Russland verfestigte vielmehr überholte Klischees über die Ukraine. Nur die Ukraine-Forscherin Tanja Peter hat die Folgen der Russo-zentrischen Wahrnehmung der osteuropäischen Geschichte in Wissenschaft und Politik deutlich benannt. Demgegenüber hat der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt die Ukraine sogar noch kurz nach der russischen Annexion der Krim zum Staat ohne Nation erklärt.

Die schläfrigen Verteidiger der freiheitlichen Demokratie haben nicht rechtzeitig erkannt, dass eine Welle des Autoritarismus von Osten nach Westen rollt, seitdem Putin seine Macht in Russland etabliert hat. Davor hat der Historiker Timothy Snyder von der Yale-University schon seit Jahren gewarnt. Putins Russland manipuliert freie Wahlen, verbreitet Fake News, startet Cyberangriffe, verfolgt Schwule und finanziert rechtsradikale Parteien.

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Wird Europa durch Putin in alte Zeiten zurückfallen? © WikiImages/Pixabay

Der frühere Europa-Abgeordnete Otto von Habsburg, Sohn des letzten österreichischen Kaiserpaares, hat indessen schon vor 20 Jahren vor Putins Krieg gewarnt und den späteren russischen Aggressor mit Hitler verglichen. Er hatte schon seit langem neue russische "Kolonialkriege" vorausgesagt. Putin so seine unablässige Mahnung – sei eine Gefahr für Europa. Es ist umso schwerer zu verstehen, dass die europäischen Regierungschefs der vergangenen beiden Jahrzehnte und ihre Berater und Helfer diese und andere Warnungen erfolgreich verdrängt haben.

Stellt man die Politik der letzten Kanzler in diesen Zusammenhang, bleibt viel zu tun: ganz besonders der Entwurf einer neuen, realistischen, europäisch abgestimmten Geopolitik. Die Bundesregierung kann erst dann weitergehende Ansprüche politischer Gestaltung erheben, wenn sie ihre Hausaufgaben macht und aus ihrer jahrzehntelangen russophilen Schläfrigkeit erwacht. Ihren alten Träumen sollte sie künftig noch stärker misstrauen. Dem Bundeskanzler Helmut Schmidt verweigerte die SPD im Oktober 1982 bei der Durchsetzung des Doppelbeschlusses der Nato die Gefolgschaft und trug so zu seinem Sturz bei. Er warnte seine Partei vor diesem Schritt mit einem Auszug aus Heinrich Heines Gedicht "Deutschland ein Wintermärchen":

Franzosen und Russen gehört das Land,

/Das Meer gehört den Briten,

/Wir aber besitzen im Luftreich der Träume/

Die Herrschaft unbestritten.

Hier üben wir die Hegemonie,

Hier sind wir unzerstückelt;

Die anderen Völker haben sich

Auf platter Erde entwickelt."

Immerhin gibt es auch Hoffnungsschimmer zugunsten einer Neuorientierung: In der SPD haben der neue Vorsitzende Lars Klingbeil und der frühere Außenminister Sigmar Gabriel eine außenpolitische Kurskorrektur in Aussicht gestellt, und der sozialdemokratische Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages und frühere Staatsminister im Auswärtigen Amt Michael Roth entwickelt beharrlich die Umrisse einer neuen Verteidigungspolitik, die den Anforderungen der Lehren aus dem Ukraine-Krieg gerecht wird.

Aufgabe der Vorsitzenden der beiden Volksparteien ist es, die deutsche Außenpolitik aus dem Scherbenhaufen herauszuführen, den ihre Vorgänger und ihre Helfer in den vergangenen zwei Jahrzehnten angerichtet haben. Dass Putin den Anspruch erhob, die einstigen Sowjetrepubliken gehörten eigentlich zu Russland, wurde lange Zeit nicht einmal diskutiert: Die politische Klasse hat – so der Außenpolitiker Norbert Röttgen in einer verheerenden Bilanz der Merkel-Jahre – die geostrategische Sicherheit Deutschlands in ihrer Wahrnehmung ausgeklammert und sich so bequem eingerichtet. Friedrich Merz hat gut daran getan, das politische Erbe der früheren Kanzlerin auszuschlagen: eine nicht funktionsfähige Bundeswehr, den schwachen Ausbau der regenerativen Energien, das Festhalten an der geopolitisch brandgefährlichen Pipeline Nord Stream 2 und den Verkauf deutscher Gasspeicher an Putin (Tina Hildebrandt/Bernd Ulrich).   

Der Aufbruch zu einer neuen, langfristig tragbaren Außenpolitik könnte aufseiten der Christdemokraten getragen werden vom Partei- und Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz und dem Außenpolitiker Norbert Röttgen, der jüngst eine aktuelle Stellungnahme zu dem "schwerwiegenden Versagen der deutschen Außenpolitik" in den vergangenen zwei Jahrzehnten ("Nie wieder hilflos! Ein Manifest in Zeiten des Krieges") veröffentlicht hat. Wie Röttgen in seinem neuen Manifest fordert, brauchen wir "eine grundlegend neue Außenpolitik, die darauf abzielt, Krisen frühzeitig zu erkennen und zu handeln, bevor es zu spät ist". Stattdessen habe die frühere Bundesregierung immer wieder Nord Stream 2 befürwortet und dadurch zur Uneinigkeit Europas erheblich beigetragen." Der deutsche Verzicht darauf, die militärische Verteidigungsfähigkeit gegenüber Russland zu sichern, sei "fatal" gewesen. Folglich sei die Bundeswehr "unterfinanziert und in wesentlichen Teilen nicht einsatzfähig".

Unterstützt werden könnten Merz und Röttgen von ihrem Fraktionskollegen Thorsten Frei, der sich kürzlich für die Schaffung einer neuen Europäischen Verteidigungsgemeinschaft mit atomarer Bewaffnung ausgesprochen hat. Wenn es sich aber bei dieser Neuorientierung nicht nur um ein Lippenbekenntnis handeln soll, werden die Reformer in beiden Volksparteien eine kritische Distanz zu den Moskau- und Peking-treuen Merkelianern, den verträumten Pazifisten und den wendigen kommerziellen "Handlungsreisenden" von Malchin über Dresden bis München wahren müssen.

Der Parteienwettbewerb zeigt bemerkenswerte Risse: Ansätze eines programmatischen Neubeginns in der Außenpolitik sind vor allem bei den Grünen zu erkennen, die durch exzellente Umfragewerte ermutigt werden und zudem außenpolitisch Problembewusstsein und Initiativgeist gezeigt haben. Wenn Christ- und Sozialdemokraten zu lange zögern und zaudern, wird eine der beiden alten Volksparteien ihren Stammplatz für die grüne Alternative räumen müssen.  


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© Universität Münster

Paul Kevenhörster (RC Steinfurt) ist Professor emeritus für Politikwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Für Hilfe bei der Materialsammlung und der Endredaktion ist er seinem Mitarbeiter cand. jur. Paul Schnase zu Dank verpflichtet.


Quellen

  • Ulrich Berls: Die Union muss rasch ihre Vergangenheit bewältigen, The European, 23. Mai 2022
  • Susanne Beyer: Die Angst vor dem Makel, Der Spiegel, 11. Juni 2022, S. 6
  • Reinhard Bingener/Markus Wehner: Nah an Putin, FAZ, 21. Mai 2022, S. 3
  • Reiner Burger: Eingerichtet in der Ratlosigkeit, FAZ, 23. Mai 2022, S. 4
  • Michel Eltchaninoff: In Putins Kopf. Logik und Willkür eines Autokraten, Stuttgart 2022, 2. Aufl.
  • Ulrich Fichtner: Widerwillige Weltmacht, Der Spiegel, 11. Juni 2022, S. 8-15
  • Thorsten Frei: Das Undenkbare denken, FAZ, 24. Mai 2022, S.8
  • David Großmann: Merkel-Auftritt: Medien sehen in Diplomatie gegenüber Russland einen Irrweg, Telepolis, 8. Juni 2022
  • Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermärchen, geschrieben im Januar 1844
  • Tina Hildebrandt/Bernd Ulrich: Was bin ich heute?, Die Zeit, 9. Juni 2022, S. 3
  • Martin Hellwig: Gazprom, ein Sündenfall und die Folgen, FAZ, 29. April 2022, S. 18
  • Norbert Röttgen: Nie wieder hilflos! Ein Manifest in Zeiten des Krieges, München 2022
  • Timothy Snyder: Der Weg in die Unfreiheit. Russland – Europa – Amerika, München 2019
  • Hubertus Volmer: Doch, Merkel hätte sich entschuldigen müssen, NTV, 8. Juni 2022
  • Markus Wehner: Schwesig und die "Offiziere Russlands", FAZ, 25. Mai 2022, S. 3
  • Heinrich August Winkler: Als die SPD konservativ wurde, Der Spiegel, 11. Juni 2022, S. 42-45
  • Die Zeit, 19. Mai 2022, S. 10: Warum so wütend, Herr Snyder?