Porträt
„Ich hätte mehrmals tot sein müssen”

Joachim Hess ist Anfang des Jahres 100 Jahre alt geworden und arbeitet immer noch täglich für sein Unternehmen, das er 1965 als Ein-Mann-Betrieb aufgebaut hat und das heute ein Global Player auf dem Markt ist
Ich kenne nur zwei 100-Jährige, deren außergewöhnlicher Verstand und unermüdliche Schaffenskraft bis ins hohe Alter meine Vorstellungskraft gesprengt haben. Der eine war Henry Kissinger, und der andere heißt Joachim Hess – Ingenieur, Visionär, Unternehmer seit 60 Jahren. Inhaber einer zweistelligen Zahl von Patenten und Rotarier mit Begeisterung.
Wir treffen uns in der Kantine seines Unternehmens Intertec in Neustadt an der Donau. Der alte Herr erwartet uns bereits. Sofort bin ich fasziniert von den jungen Augen, die mich hellwach mustern und denen nichts entgeht. Hierher nach Neustadt, zum Firmensitz, kommt er nur einmal in der Woche. Die anderen Tage arbeitet der Unternehmer in seinem Büro in Ingolstadt: telefonieren, E-Mails beantworten – was man halt so tut als Unternehmer mit 100 Jahren. Er liebt, was er tut. Pflicht und Neigung sind bei ihm eins.
Unternehmergene
Ab 1962 baut der promovierte Ingenieur in Ingolstadt eine Erdölraffinerie auf – für die zum italienischen Eni-Konzern gehörende Südpetrol. Da in ihm offensichtlich auch die Unternehmergene des Vaters schlummern, macht er sich selbstständig und gründet die Intertec GmbH. Mit visionärer Kraft hatte er frühzeitig erkannt, dass immer mehr elektronische Bauteile außerhalb von Gebäuden in ihrer Empfindlichkeit vor Witterungseinflüssen geschützt werden müssten. Der erstklassige und nachhaltige Schutz von Regel- und Messgeräten – das ist die Idee von Joachim Hess. Der Anfang war nicht leicht. Dann gelingt der Durchbruch. Das Ein-Mann-Unternehmen wird zum Global Player mit heute weltweit 330 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und 13 Niederlassungen im Ausland.
Wir sind von der Kantine ins Büro gewechselt. Hess senior ist nach wie vor Geschäftsführer. Doch Sohn Martin hat längst übernommen und führt die Geschäfte. „Er macht das anders als ich, aber er macht es richtig“, sagt der Vater über den Sohn. Mehr an Kompliment geht nicht.
Alles spricht dafür, dass die Zukunft des Unternehmens gesichert ist. Auch die dritte, die Enkel-Generation wird das Unternehmen weiterführen. Natürlich gab es schon viele Kaufangebote für den Hidden Champion aus Bayern. Doch das komme nicht infrage. Da sind sich Vater und Sohn einig.
der in die Firma eintreten soll / Foto: Privat
Erfolgsgeheimnis
Wenn man dem Erfolgsgeheimnis dieses kleinen, aber feinen Familienunternehmens sowie seines Gründers auf die Spur kommen möchte, dann gibt es nicht die eine Erklärung. Joachim Hess – so kommt es mir vor – war vom Glück des Tüchtigen begleitet, das sich nicht irgendwohin verirrt, sondern dort hingeht, wo es eine Chance sieht – wie beim jungen Ingenieur aus Essen. Dieses Glück sorgte dafür, dass er am Leben blieb im Zweiten Weltkrieg, in der russischen Gefangenschaft, auf der Flucht. „Ich hätte mehrmals tot sein müssen“, sagt er. Er ist ein Mensch, den diese Zeit des Schreckens nicht traumatisiert, sondern zu der Erkenntnis gebracht hat: „Schlimmer kann es nicht kommen, sondern nur noch besser.“
Weil er selbst stets mit Wagemut und Optimismus voranschritt, hat sich das Glück bei ihm zu Hause gefühlt und ist ihm ein ganzes Jahrhundert treu geblieben. Selten habe ich den Charakter eines Familienunternehmens so schön erklärt bekommen wie von Hess senior: „Wir sind alle eine große Familie, und die Männer und Frauen bei Intertec sind meine Kinder.“ Ganz am Schluss unseres Gesprächs erfahren wir also den wahren Grund, warum der 100-Jährige so oft ins Unternehmen kommt.
„Mein Spiegel sind die glänzenden Augen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das sind meine wirklichen Glücksmomente. Wenn ich die nicht hätte, würde mir etwas fehlen.“
ZUR PERSON: Dr.-Ing. Joachim Hess, RC Ingolstadt, ist Gründer und Geschäftsführer der Intertec-Hess GmbH. Das Unternehmen mit Sitz in Neustadt/Donau und Niederlassungen in vielen Ländern der Welt hat sich auf die Herstellung von Schutzgehäusen für Elektronik spezialisiert. Joachim Hess war 70 Jahre verheiratet und hat zwei Söhne. Sohn Martin führt die Geschäfte.
intertec.info
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