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Osteuropa – Terra incognita

Forum - Osteuropa – Terra incognita
Osteuropa © Christian Lue/Unsplash

Als Folge umgewidmeter Lehrstühle, aufgelöster Institute und schlechter Karriereaussichten fehlt es nun an Wissen über unsere östlichen Nachbarn.

Hans-Henning Schröder01.05.2022

Kramatorsk, Lemberg, Cherson, Charkiw – der Krieg rückt eine Region in das Blickfeld der deutschen Öffentlichkeit, die in den letzten Jahren meist ignoriert wurde. Orte wie Irpin, Tscherkassy, Butscha, Mariupol oder Browary waren nicht einmal namentlich bekannt. Russland und die Ukraine waren „weiße Flecken“ auf der mentalen Landkarte der deutschen Gesellschaft. Das hat sich in den letzten Wochen allerdings geändert. Der russische Überfall hat die Ukraine in das Blickfeld der deutschen Öffentlichkeit gerückt. Und in Politik und Gesellschaft werden Fragen gestellt: Man will Erklärungen für die Gewaltaktionen, und man will Hintergründe kennen. Doch das Wissen über Osteuropa und Eurasien ist in Deutschland sehr begrenzt.

Forschung für Politik und Wirtschaft

Das war nicht immer so. Das Russländische Reich, später die Sowjetunion und heute die Russländische Föderation und der postsowjetische Raum waren und sind für deutsche Politik von eminenter Bedeutung. Die politischen, ökonomischen und sozialen Prozesse in dieser Region waren daher in Deutschland über lange Jahre Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, die zugleich auch Expertenwissen für Politik und Wirtschaft bereitstellte. Die akademische Osteuropaforschung entwickelte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts an mehreren Universitäten. Das Auswärtige Amt betrieb die Einrichtung eines Extraordinariats für osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Berliner Universität, die dann 1892 auch erfolgte. Das war der Grundstein einer politikbezogenen Osteuropaforschung im Deutschen Reich.

Unter „Osteuropa“ verstand man damals den gesamten eurasischen Raum, den das Zarenreich beherrschte – von Polen bis Zentralasien und Ostsibirien. Dieses Raumkonzept wurde durch Revolution und Auflösung des Zarenreiches modifiziert: „Osteuropaforschung“ befasste sich nun mit den Nachfolgeländern, den neu gegründeten Staaten Ostmitteleuropas, und mit der Sowjetunion als Geburtsstätte eines neuartigen – und bedrohlichen – Gesellschaftsmodells. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Spaltung der Welt in zwei Lager wurde dann der gesamte „Ostblock“ zum Forschungsgegenstand.

2022, osteuropa - terra incognita, hans-henning schröder
Bis zur Wende gab es im Osteuropa-Institut der FU Berlin Abteilungen für Geschichte, Recht, Wirtschaft, Politikwissenschaften, Slawistik, Kunstgeschichte, Medizin, Landeskunde, Bildungswesen und Soziologie, die jeweils mit mehreren Lehrstühlen ausgestattet waren. Nach der Wende wurde das Institut stark verkleinert. Es blieben die Abteilungen Geschichte, Politik, Kultur, Soziologie und Wirtschaft erhalten, jeweils mit einem Lehrstuhl. © Bernd Wannenmacher/Freie Universität Berlin

Ende der 1920er Jahre war die deutsche Osteuropaforschung international führend. Als das US State Department im Herbst 1929 den jungen George F. Kennan auf seine Arbeit an der Moskauer USBotschaft vorbereiten wollte, entsandte es ihn zunächst einmal nach Berlin, um dort russische Geschichte und Literatur zu studieren. Zugleich spielte das Fach aber auch eine ambivalente Rolle: Für die gegen Polen gerichtete Politik der Weimarer Regierung lieferte es historische und kulturpolitische Begründungen. Wissenschaft wurde von der Politik in Dienst genommen – und sie nahm diese Rolle aktiv an. Das setzte sich nach 1933 fort. Im nationalsozialistischen Deutschland leisteten große Teile der Osteuropaforschung dem Regime wissenschaftliche Hilfestellung für Kriegsführung, Besatzungsregime und Vernichtungspolitik.

Angesichts der Spaltung der Welt in Ost und West im „Kalten Krieg“ war das Wissen der Osteuropaforscher nach 1945 wieder verstärkt gefragt. In dieser Phase wurden die universitäre und außeruniversitäre Infrastruktur massiv ausgebaut. Es entstanden Osteuropa-Institute an der Freien Universität Berlin und an der Universität München. In Köln wurde das Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien gegründet. In dieser Zeit entwickelte sich die Osteuropaforschung zu einem eigenständigen Fachgebiet, das in der Nähe der praktischen Politik angesiedelt war und dessen Vertreter ein Deutungsmonopol für die Entwicklungen im „Ostblock“ beanspruchten.

Das Sowjet-System wurde irrelevant

Die Auflösung der Sowjetunion und das Ende des Ost-West-Konflikts führten nach 1989 zu grundlegenden Veränderungen. Der Osteuropaforschung ging ihr ureigener Forschungsgegenstand, das „sowjetische System“, verloren. Die marxistisch-leninistische Ideologie verlor innerhalb von Wochen jegliche Bedeutung. Das System Planwirtschaft zerfiel, und damit entfiel auch die Notwendigkeit, dieses wissenschaftlich zu untersuchen. Die kommunistischen Parteien lösten sich auf, die Erforschung von Einparteiensystemen verlor an Relevanz. Auf die Zeit nach dem Ende des Kommunismus hatte sich die Osteuropaforschung nicht vorbereitet, bei der Beschreibung, Interpretation und Erklärung der sich entwickelnden Transformationsgesellschaften leisteten die klassischen Sozial- und Wirtschaftswissenschaften bessere Arbeit.

Das war eine der Ursachen dafür, dass die universitäre Osteuropaforschung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ihre Bedeutung verlor. Da die militärische Bedrohung durch den Warschauer Pakt fortgefallen war, wurde die bundesgeförderte Osteuropaforschung nicht mehr in demselben Rahmen finanziert. Institute wurden aufgelöst oder dramatisch verkleinert, Lehrstühle umgewidmet. In diesem Prozess ging im Laufe von einem Jahrzehnt ein großer Teil der Regionalkompetenz zum postsowjetischen Raum und insbesondere zu Russland verloren.

Sackgasse Regionalforschung

Eine Erhebung zu den im Jahre 2007 an den Universitäten vorhandenen Lehrstühlen, die die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) durchführte, um Grundlagen für eine Vorlage bei der Wissenschaftsministerin zu gewinnen, erbrachte die in der Tabelle rechts oben aufgelisteten Zahlen.

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© Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde

Wie man hier sieht, verminderte sich die Zahl der Professuren zwischen 1995 und 2007 insgesamt etwa um ein Viertel. Dabei kamen jene Disziplinen, die sich explizit mit der Region beschäftigten (Osteuropäische Geschichte, Slawistik und Ähnliches sowie Geografie) relativ glimpflich davon, während die regionsbezogene Arbeit in den Politik-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften weitgehend eingestellt wurde. Damit ging allerdings gerade die Kompetenz verloren, die in Politik, Wirtschaft und zivilgesellschaftlichen Organisationen benötigt wird. Neben dem Wegfall der Finanzierung wirkten sich hier vor allem inneruniversitäre Mechanismen aus: Berufungen erfolgen in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften wie auch in der Rechtswissenschaft durch Wissenschaftler, die sich am Mainstream des jeweiligen Fachs orientieren und nicht über Regionalkompetenz verfügen. Regional ausgerichteter Forschung wurde daher nur ein geringer Stellenwert zugemessen. Das führte nicht nur zu der dramatischen Verringerung der Zahl an Professuren, die sich mit Osteuropa (und das gilt auch für Lateinamerika, den Nahen Osten, Ostasien und andere) befassten, in Reaktion orientierten sich auch Nachwuchswissenschaftler am Mainstream – sie hatten beobachtet, dass Forscher, die sich mit Regionalstudien befasst hatten, bei Stellenbesetzungen und Vergaben von Fördermitteln deutlich im Nachteil waren. Regionalforschung wurde als Sackgasse für individuelle Karrieren empfunden.

Diesem Defizit an Kompetenz steht in Politik, Zivilgesellschaft und Wirtschaft ein wachsender Bedarf an wissenschaftlicher Beratung gegenüber. Politik und Öffentlichkeit wurden von der inneren Krise in der Ukraine 2013/14, die die russische Führung ausnutzte, um gewaltsam Teile des ukrainischen Territoriums zu besetzen, und vom russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 überrascht. Es wurde noch einmal in aller Schärfe deutlich, dass die umfassende fachliche Kompetenz, die in den 1920er Jahren an deutschen Universitäten vorhanden war und auf die man auch in der Zeit des „Kalten Krieges“ zurückgreifen konnte, heute nicht mehr existiert.

Diese Kompetenz gilt es wieder aufzubauen – im Rahmen der Universitäten, aber als dezidierte Regionalforschung, deren Beitrag für die Fortentwicklung der wissenschaftlichen Disziplinen gewürdigt wird und die Karrierechancen für junge Wissenschaftler bietet, die sich mit der Region befassen. Auf dieser Basis wird es auch möglich sein, Politik und Öffentlichkeit solide Information zur Verfügung zu stellen.

Hans-Henning Schröder
Prof. Dr. Hans-Henning Schröder lehrte Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Osteuropa an der Freien Universität Berlin, ist Herausgeber der Online-Zeitschrift Russland-Analysen und Vorstandsmitglied im Ostinstitut Wismar.