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Papst oder Heiliger?

 - Papst oder Heiliger?
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Franziskus hatte es nicht leicht, doch bei aller Symbolpolitik der Einfachheit und dem pastoralen Tonfall der Barmherzigkeit blieben entscheidende Reformen aus. Eine Würdigung von Franziskus

21.04.2025

"Es ist ein Franz", titelte die Süddeutsche Zeitung am 14. März 2013, einen Tag nach der Wahl von Jorge Mario Bergoglio zum Nachfolger des zurückgetretenen Benedikt XVI. Einen Papst mit dem Namen des heiligen Franziskus hatte es bis dahin noch nicht gegeben. Diese Namenswahl erschien als revolutionär und geradezu subversiv, gilt doch Franz von Assisi (1181-1226) als Exponent der radikalen mittelalterlichen Armutsbewegung, die sich maßgeblich gegen die reiche Papstkirche mit ihren Herrschafts- und Machtansprüchen und ihren Klerikalismus wandte. Und um ein Haar wäre der „Poverello“ wie zahlreiche seiner armutsbewegten Mitstreiter ebenfalls als Ketzer verbrannt worden.
In dieser Namenswahl ist die ganze Spannung, unter der Bergoglios Pontifikat stand, bereits angelegt, denn hier sollten zwei Modelle von katholischer Kirche, die einander diametral widersprechen, in eine Synthese gebracht werden: Die Papstkirche mit gewaltigem Machtanspruch bis hin zu universalem Jurisdiktionsprimat und Unfehlbarkeit und die andere Kirche des heiligen Franziskus in der radikalen Nachfolge des „armen“ Jesus. Die Frage war von Anfang an: Wer würde sich bei Papst Franziskus durchsetzen? Der Papst oder der Arme aus Assisi?
Am Anfang schien alles auf Franz von Assisi hinauslaufen zu wollen. Bergoglio etablierte einen neuen Stil der Bescheidenheit: Ein „Buonasera“ auf der Loggia des Petersdoms zum Beginn des Pontifikats statt frommer Begrüßungsformeln, eine kleine Zweizimmerwohnung im vatikanischen Gästehaus Santa Marta statt einer fürstlichen Residenz im Apostolischen Palast, ein Cinquecento statt eines Daimler als Dienstwagen, der Verzicht auf barocke päpstliche Gewänder, die sein Vorgänger so geliebt hatte (kolportierter O-Ton Franziskus: „Der Karneval ist vorbei!“), vor allem aber eine ganz andere, weniger doktrinelle Sprache. Man spürte im Pontifex den Seelsorger, der sich den Menschen zuwandte, die sich in schwierigen Lebenssituationen befanden – Wiederverheiratet Geschiedenen, Homosexuellen, Migranten, Wohnsitzlosen in Rom und Armen in aller Welt. Für sie sollte Jesu Forderung „Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer“, und „die Kranken brauchen den Arzt, nicht die Gesunden“, im Handeln der Kirche und vor allem des Papstes erfahrbar werden.
Die Hoffnungen der Reformer schienen sich endlich erfüllen zu sollen. Franziskus wurde mit dem „guten Papst“ Johannes XXIII. verglichen, der mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil frischen Wind in die Kirche brachte. Bereits in seinem Apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium“ 2013 sprach Franziskus von der „Notwendigkeit einer heilsamen Dezentralisierung“ der Kirche. Er brachte dazu das Subsidiaritätsprinzip ins Spiel und kündigte eine Reform der Römischen Kurie an: Probleme sollten dort gelöst werden, wo sie entstehen, in den Diözesen vor Ort, und nur im Notfall sollte Rom eingeschaltet werden. In der berühmt-berüchtigten Weihnachtsansprache 2014 las er seinen engsten Mitarbeitern, den Kardinälen und Kurialen, die Leviten, indem er ihnen unter anderem „geistlichen Alzheimer“, „existentielle Schizophrenie, „Tratschsucht“, Vergöttlichung ihrer Vorgesetzen und klerikale Zirkelbildung vorwarf. Ein Kardinalsrat „K8“ aus profilierten Eminenzen sollte den Papst bei der Verwaltungsreform unterstützen.
 
Auch lehramtlich schien die Zeit der in Stahlbeton gegossenen ewigen Wahrheiten der beiden Vorgängerpontifikate vorbei zu sein, die davon ausgingen, dass der Papst als authentischer Interpret der Offenbarung Gottes in Jesus Christus bei allen Fragen die „Kompetenz der Kompetenz“ besitze. Franziskus wählte in seiner Umweltenzyklika „Laudato si“ 2015 einen anderen Ansatz, wonach das kirchliche Lehramt in Sachfragen wie der Klimaerwärmung nicht per se kompetent sei. Die Kirche müsse hier zuerst von den entsprechenden Wissenschaften auf den Stand gebracht werden. Nachdem wissenschaftlich plausibel sei, dass der Klimawandel von Menschen gemacht sei, könne diesem auch durch ein entsprechendes Handeln Einhalt geboten werden. Diese aus Argumenten und Fakten gewonnen Normen gelten für „alle Menschen guten Willens“ gleichermaßen; für Christinnen und Christen eröffne sich aus ihrem Schöpfungsglauben aber eine zusätzliche Motivation, diese umzusetzen. Vertrauen in Argumente der Wissenschaft statt blindem Autoritätsgehorsam gegen das kirchliche Lehramt – wahrlich ein Paradigmenwechsel, dem aber keine entsprechenden Schritte im Hinblick auf die kirchliche Sexualmoral folgten, die weiterhin nur die Sexualität zwischen Mann und Frau in der Ehe mit dem Ziel der Zeugung von Nachkommen als legitim ansieht. Die „pastoralen“ Äußerungen Franziskus’ im Hinblick auf homosexuelle oder queere Menschen dürfen darüber nicht hinwegtäuschen. Auch die von vielen als revolutionär empfundene Fußnote 351 im päpstlichen Schreiben „Amoris laetitia“ 2016, wonach auch Wiederverheiratet Geschiedene unter Umständen „die Hilfe der Sakramente“ erhalten und zur Kommunion gehen können, änderte nichts an ihrer „irregulären“ rechtlichen Situation. Hier wird lediglich eine in vielen Diözesen seit Jahren übliche pastorale Praxis unter dem Mantel der Barmherzigkeit halbwegs legitimiert.
2019 sollte zum Wendepunkt des Pontifikats werden, denn auf die Amazonas-Synode setzten die „Liberalen“ im Hinblick auf innerkirchliche Reformen größte Hoffnungen, die Konservativen – auch im Kardinalskollegium – fürchteten sie dagegen wie der Teufel das Weihwasser. Es ging um die Zulassung verheirateter Männer zur Priesterweihe, um den Diakonat der Frau und die Gemeindeleitung durch Teams aus Männern und Frauen. Und obwohl die Bischöfe angesichts des immensen Priestermangels in Amazonien mit einer Dreiviertelmehrheit für die Weihe verheirateter „Viri Probati“ stimmten, übernahm Franziskus diesen Beschluss nicht. Beim Thema Frauendiakonat setzte er immer neue Arbeitsgruppen ein und schob die Entscheidung damit auf die lange Bank.
Die Enttäuschung war groß: Aus dem Reformer Franziskus wurde ein „Ankündigungspapst“, der offenbar mehr und mehr Angst vor seiner eigenen Courage und einer sich immer stärker formierenden Gruppe konservativer Kardinäle und Kurialen bekam, die sogar die Rechtgläubigkeit des Papstes offen anzweifelten. Seine barsche Zurückweisung des „Synodalen Weges“ in Deutschland als „zweite Reformation“ – „wir haben doch schon eine gute evangelische Kirche in Deutschland und brauchen keine zweite“ – dürfte für sich sprechen.
Auch der weltweite synodale Prozess von 2021/24 mit den beiden abschließenden Bischofssynoden in Rom brachte inhaltlich keine wesentlichen „Reformen“, außer dass man über die Diakonatsweihe für Frauen weiter diskutieren darf. Ansonsten war es eher eine gruppendynamische Erfolgsgeschichte, weil Bischöfe, Laien und sogar Frauen an Runden Tischen miteinander ins Gespräch kamen. Das passt zu dem Verständnis des Jesuiten Bergoglio von „Synodalität“. Er sieht darin offenkundig keine kollegiale Kontrolle der päpstlichen Monarchie, wie entsprechende Modelle aus der Geschichte der Kirche belegen, sondern einen Prozess jesuitischer Selbstaktivierung: Wenn der Orden in seinem Eifer erlahmt, befiehlt der Ordensgeneral allen Jesuiten, sich Gedanken zu machen und Lösungskonzepte vorzulegen – am Ende entscheidet der General, oder eben auch nicht.
 
Auch politisch ist Franziskus ganz anders als in den ersten Jahren seines Pontifikats, wo sein Engagement für Migranten weltweit gewürdigt wurde, massiv in die Kritik geraten. Insbesondere sein Lavieren im Kontext des Überfalls der Ukraine durch Putin rief Irritationen hervor. So verurteilte er den russischen Angriffskrieg zunächst nicht eindeutig. Seine Nähe zum, russische Waffen segnenden, orthodoxen Patriarchen Kyrill, den Franziskus offenkundig als Partner bei der Verteidigung der Werte des christlichen Abendlandes ansah, und Äußerungen, im Grunde trage die falsche Politik der USA, durch die sich Russland bedroht gefühlt habe, Schuld am Krieg, stießen auf weites Unverständnis. Die späte Klarstellung im Verlauf des Sommers 2022 durch die päpstlichen Spitzendiplomaten konnte den Schaden nicht mehr wirklich korrigieren.
Auch nach dem Überfall der Hamas auf Israel blieb eine Verurteilung dieses terroristischen Aktes zunächst aus. Der Papst telefonierte zuerst mit Palästinenserpräsident Abbas, dann mit dem iranischen Präsidenten Raisi, und erst nach sechs Wochen mit dem israelischen Staatspräsidenten Herzog. Dabei habe er von einem von Israel verübten Genozid an den Palästinensern im Gazastreifen gesprochen, was der Vatikan umgehend dementierte. Franziskus scheint der klassischen „Lehre vom gerechten Krieg“, wie sie Thomas von Aquin formulierte, skeptisch gegenübergestanden zu haben. Danach hätte er in beiden Fällen zuerst sagen müssen: Wer angegriffen wird, darf sich – vor allem die Zivilbevölkerung – schützen. Um dann im zweiten Satz umgehend auf die Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel zu pochen. Nach der langen Problemgeschichte zwischen Juden und Katholiken verbunden mit einem kirchlichen Antisemitismus erscheint diese Distanz zu Israel nach dem Trauma vom 7. Oktober 2023 umso unverständlicher.
Am Ende bleibt ein zwiespältiger Eindruck: Im Pontifikat von Papst Franziskus haben sich weder der Papst noch Franz von Assisi eindeutig durchgesetzt. Er war den Konservativen zu liberal und den Liberalen zu konservativ. Bei aller Symbolpolitik der Einfachheit und dem pastoralen Tonfall der Barmherzigkeit blieben entscheidende Reformen aus, auch bei der Aufarbeitung der Missbrauchsthematik, was der Glaubwürdigkeit von Papst und Kirche nachdrücklich schadet. Dabei bräuchte man in der jetzigen Weltlage die moralische Stimme des Papstes mehr denn je. Es blieb vielfach ein „Ankündigungspontifikat“. In den letzten Jahren sprachen weniger wohlmeinende „Vatikankenner“ sogar von einen „Chaospontifikat“ und stellten dabei sowohl die diplomatischen Fähigkeiten als auch die theologische Kompetenz des Papstes infrage.  
Franziskus hatte es aber von Anfang an schwer. Zum ersten Mal nach 500 Jahren hatte er es mit einem zurückgetretenen Papst zu tun, der überdies nicht bereit war, die weißen Gewänder abzulegen, die dem Pontifex vorbehalten sind, so dass bei festlichen Gottesdiensten auf dem Petersplatz der Eindruck von zwei Päpsten entstehen konnte. Erst kurz vor dem Tod Benedikts XVI. konnte er durch gezielte Zurückdrängung der von diesem favorisierten „tridentinischen Messe“ wenigstens ein wenig „liturgischen“ Freiraum gewinnen. Und er hat für die Wahl seines Nachfolgers ein äußerst pluriformes Kardinalskollegium – so wenig europäisch und so international wie nie – hinterlassen, und es ist umstritten, in welche Richtung die katholische Kirche gehen soll: Braucht es eine konservative Wende zum Law and Order? Oder einen wirklichen Reformer? Oder doch wieder einmal einen „Übergangspapst“? Ein Kandidat drängt sich anders als bei den letzten Konklaven nicht auf. Das stellt den Heiligen Geist vor eine immense Aufgabe, wenn die Kardinäle unter dem „Jüngsten Gericht“ Michelangelos in der Sixtina zur Papstwahl schreiten werden.
 
2025, Hubert wolf
Bildunterschrift
Hubert Wolf (RC Münster-Rüschhaus) ist Professor für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Universität Münster. Er wurde mit dem Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dem Communicator-Preis, dem Gutenberg-Preis und dem Sigmund Freud-Preis ausgezeichnet und gilt als der beste Kenner der vatikanischen Geheimarchive.  

Im Verlag C. H. Beck sind mehrere Bücher von ihm erschienen, zuletzt 2024 „Die geheimen Archive“.