Interview
„Rotary muss revolutionär sein“
Am 1. Juli tritt Holger Knaack als erster Deutscher sein Amt als Präsident von Rotary International an. Das Motto des 67-Jährigen: Rotary eröffnet Möglichkeiten.
Es ist ein grau bedeckter Oktobertag. Der Michigan-See schimmert stahlgrau, und die roten und orangefarbenen Blätter der Bäume erscheinen etwas trist.
„Mein Vorstellungsgespräch war vormittags. Ich hatte also Zeit, bis der Ausschuss eine Entscheidung fällen würde“, erinnert er sich. „Es war ein wunderbarer Augusttag, und ich machte zunächst einen ausgedehnten Spaziergang.“
Doch im Büro des zukünftigen Präsidenten von Rotary im Zentralbüro der Organisation ist es ein heller neuer Tag, und das nicht nur wegen des Paisley-Taschentuchs, das aus der Brusttasche von Holger Knaacks blauem Blazer leuchtet. Diese leuchtenden Farben passen zu der fröhlichen Einstellung, mit der Knaack optimistisch in die Zukunft blickt – und das ist nur einer der jugendlichen Züge des 67-Jährigen. Über zwei Stunden lang setzte sich Knaack an zwei Tagen zu einem Gespräch mit John Rezek, dem Chefredakteur von The Rotarian, und Jenny Llakmani, der leitenden Redakteurin der Zeitschrift, zusammen. In deutsch gefärbtem, aber fließendem Englisch sprach Holger Knaack hier über seinen atypischen Aufstieg bei Rotary, der durch seine langjährige Tätigkeit im Jugendaustauschprogramm vorangetrieben wurde. Erfahrungen, die auch seine Ambitionen als Präsident definieren. „Das Wachstum von Rotary, und insbesondere das Wachstum dank junger Mitglieder, wird definitiv eines meiner Ziele sein“, sagt er und warnt weiter achselzuckend: „Wenn wir den Kontakt zur jungen Generation verlieren, sind wir ein Auslaufmodell.“
Während des Gesprächs erörtert Knaack auch seine Rede vom Januar 2018 auf der International Assembly, in der er Paul Harris zitiert hatte: „Wenn Rotary sein eigentliches Schicksal verwirklichen soll, muss es evolutionär sein – und manchmal revolutionär.“ Seine eigene Meinung zu diesem Gedanken: „Um für die Zukunft gerüstet zu sein, muss Rotary weiterhin revolutionär sein und an die Energie junger Leute glauben.“
Auch einige eigene Aphorismen stellt Holger Knaack in dem Gespräch vor – allen voran: „Es gibt kein falsches Alter, um Rotarier zu werden.“ Er spricht über die wirtschaftliche Notwendigkeit, eine Präsidentenkrawatte zu haben (er, der selten eine Krawatte trägt, verrät dabei, dass er eine von Mark Daniel Maloneys blauen Präsidentschaftskrawatten in einer Schreibtischschublade aufbewahrt, um sie bei Bedarf zur Hand zu haben). Und dann geht es um sein Präsidentschaftsmotto: Rotary eröffnet Möglichkeiten. Das Motto geht einher mit der Silhouette von drei offenen Türen, einer blauen, einer goldenen und der dritten in leuchtendem Rotaract-Pink. Er wählte das Thema wegen seiner Vielseitigkeit, erklärt Knaack, und weil „es sich leicht in alle Sprachen übersetzen lässt“.
Während des ersten Gesprächs ist auch Knaacks Frau Susanne mit dabei und erklärt zuweilen einige Dinge. Als Journalist Rezek den neuen Präsidenten nach seinem Ruf fragt, „unflappable“ zu sein (also in etwa jemand, der sich „nicht ins Bockshorn jagen lässt“), antwortet der Präsident elect zunächst doch mit einem etwas perplexen Gesichtsausdruck. Doch nach kurzer Konsultation des Handys liefert Susanne eine Übersetzung: „unerschütterlich“. Nachdem dies geklärt ist, setzt Holger Knaack – ganz unerschütterlich – das Gespräch fort.
Sie sind der erste Präsident elect aus Deutschland in der Geschichte von Rotary. Erzählen Sie uns über das Wesen von Rotary in Deutschland.
Rotary ist überall auf der Welt anders. Wir teilen alle die gleichen Grundwerte, aber mit unterschiedlichen Schwerpunkten. In Deutschland geht es wirklich um Freundschaft und Networking – und es geht um Integrität und Ethik. Und so suchen die deutschen Rotarier auch ihre Mitglieder aus. Dann wachsen der Service oder die Projekte aus der Freundschaft heraus. Ich denke, einer der wichtigsten Punkte ist, dass deutsche Rotary Clubs ihre Mitglieder sorgfältig auswählen, und wir haben eine sehr gute Bindungsrate und die Mitglieder bleiben ihren Clubs treu.
Wie kamen Sie denn zu Rotary?
Für mich begann es mit einer Organisation namens Round Table, die Hunderte von Clubs in Europa hat. Überraschenderweise wurde sie 1927 von Rotariern in England gegründet, die es leid waren, immer mit alten Männern herumzuhängen. Also gründeten sie eine neue Organisation, Round Table, aber sie legten fest, dass man mit 40 Jahren aus dem Club ausscheiden musste. Ich kam mit 30 Jahren dazu und verließ den Club mit 39 Jahren. Sie hatten dieses wunderbare Motto: Annehmen, anpassen, verbessern. Ich interessierte mich für Serviceprojekte; ich war auch an den Kontakten interessiert. Viele meiner Freunde aus Round Table gingen zu Rotary, und auch hier war der Grund die Möglichkeit zum Networking, vor allem dank des Klassifizierungssystems von Rotary. Man braucht verschiedene Menschen, um eine Organisation interessanter zu machen, um Diskussionen in unerwartete Richtungen zu führen. Ich wurde schließlich eingeladen, dem Rotary Club Herzogtum Lauenburg-Mölln beizutreten. Das ist ein verrückter Name. Als Ron Burton RI-Präsident war, stellte er mich einmal als „Holger Knaack vom Rotary Club (pausiert) irgendwo in Deutschland“ vor. Ein neuer Rotary Club in meiner Heimatstadt Ratzeburg wurde gegründet, aber ich kannte viele der Freunde in diesem Club bereits, also beschloss ich, im alten Club zu bleiben. Dadurch hatte ich die Möglichkeit, ganz neue Menschen kennenzulernen.
Was war Ihr Weg zur Präsidentschaft von Rotary?
Bevor ich Governor wurde, wurde ich in dem Antrag gefragt, welche Distriktämter ich zuvor ausgeübt hätte. Antwort: keine. Null. Ich hatte keine Aufgaben, bevor ich Governor wurde, und ich hatte auch keine Funktion in der Distriktleitung. Ich war nur für mein Engagement im Jugendaustausch bekannt,und deshalb wussten die Freunde über mich und meine Leidenschaft für Rotary Bescheid. Das war auch so, als ich Direktor wurde: Ich hatte nie irgendwelche Ämter auf Zonenebene inne. Als ich für mein Director elect Training hier nach Evanston kam, betrat ich dieses Gebäude zum ersten Mal.
Was macht den Jugendaustausch zu einem so großartigen Programm?
Der Jugendaustausch war mein Weg zu Rotary. Susanne und ich haben viele Teilnehmer des Rotary Jugendaustau- sches aufgenommen und uns an der Organisation von Jugendaustauschcamps beteiligt, bei denen Rotary Clubs und Distrikte Schüler aus der ganzen Welt aufnehmen. Und dann stellte ich fest, wie bereichernd dies für unser Leben war. Wir haben selbst keine Kinder, daher ist dieses Programm wirklich großartig für uns. Ich denke, es hält uns jung.
Wir haben gehört, dass Sie unerschütterlich sind. Nichts regt Sie auf. Wie ist das möglich?
Nein, nein. Wie meine Frau nur zu gut weiß, können mich manchmal Kleinigkeiten aus der Ruhe bringen. Aber wenn ich mit ernsten Dingen konfrontiert werde, wenn wir ernsthafte Entscheidungen treffen müssen, dann werde ich ruhiger. Außerdem verlasse ich mich immer auf andere Menschen. Ich weiß, dass ich allein nicht alles reißen kann. Ich habe den größten Respekt vor Menschen, die die Arbeit nicht nur einfach so, sondern mit Leidenschaft machen. Allen diesen Menschen müssen wir unseren Respekt entgegenbringen. Das habe ich schon sehr früh gelernt.
Auf welche Bereiche werden Sie sich in Ihrem Jahr konzentrieren? Und was hoffen Sie zu erreichen?
Ich habe keine verrückten neuen Ideen (lacht). Wir haben versprochen, die Kinderlähmung auszurotten, und ich habe vor, alles zu tun, um dieses Versprechen einzuhalten. Wenn uns das gelingt, wird es dazu beitragen, die Wahrnehmung von Rotary in der Welt zu verbessern. Nummer zwei ist natürlich das Wachstum von Rotary, und dabei geht es nicht nur um das Wachstum unserer Mitgliederzahlen. Es geht um das organische Wachstum von Rotary auf allen Ebenen. Es geht darum, unsere Organisation stärker zu machen. Es geht um die Erhaltung und das Wachstum durch neue Clubmodelle. Rotary ist in der Tat eine der sich am langsamsten verändernden Organisationen der Welt. Was wir tun, braucht so viel Zeit. Wir müssen viel schneller werden.
Was an Rotary muss sich nicht ändern?
Unsere Grundwerte waren schon immer die Grundlage für unser Handeln. Freundschaft, Vielfalt, Integrität, Führung, Service – sie werden nie veraltet sein. Aber die Art und Weise, wie wir diese Werte ausdrücken und leben, wird sich ändern. Unsere Tradition, uns zu einem Essen zu treffen, mag 100 Jahre lang funktioniert haben. Aber sie funktioniert nicht mehr unbedingt, denn das Mittagessen ist nicht mehr die zentrale Sache im Leben. Wir müssen nach Modellen suchen, für die sich junge Menschen interessieren. Lassen wir sie entscheiden, welcher Art von Rotary Club sie beitreten möchten, um unsere Grundwerte zu teilen. Rotary ist ein Ort für alle: für Jung und Alt, für alte und für neue Clubmodelle. Es gibt keine Not- wendigkeit für superstrenge Regeln. Genießen wir, was wir bei Rotary lieben.
Sind Sie besorgt, dass das Durchschnittsalter der Rotarier immer weiter steigt?
Ich bin so froh, dass unsere älteren Rotarier Rotarier bleiben und dass ältere Menschen immer noch in Rotary Clubs eintreten. Sie sind von großem Wert für die Clubs und unsere Organisation. Aber ich möchte die Rotary Clubs auch ermutigen, über ihre Zukunft nachzudenken. Die Clubs sollten zweimal im Jahr ein strategisches Treffen abhalten. Und wenn sie dort ernsthaft Zukunftsperspektiven entwickeln, ist es wichtig, dass es keine Kluft zwischen den Altersgruppen gibt. Wenn sie in der Lage sind, Mitglieder in jeder Altersgruppe, in jedem Jahrzehnt zu gewinnen, dann gibt es keine „Generationenlücke“. Für Rotary Clubs ist es wichtig, auf dem richtigen Weg zu bleiben und dennoch für junge Berufstätige interessant zu sein. Es ist immer gefährlich, wenn ein Rotary Club sagt: „Wir haben die perfekte Anzahl von Mitgliedern. Wir haben 50 oder 60 oder 70 oder was auch immer; wir wollen im Moment keine weiteren Mitglieder mehr.“ Dann kann die Kluft sehr, sehr schnell wachsen. Eines meiner Sprichwörter ist: „Es gibt kein falsches Alter, um Rotarier zu werden.“ Wenn jemand 18 Jahre alt ist und Mitglied wird, ist das großartig. Und wenn jemand 80 ist, ist das auch großartig. Es gibt kein „falsches“ Alter, um ein/e Rotarier/in zu werden – und es gibt keine perfekte Größe für einen Rotary Club.
Wir stellen fest, dass Sie nicht oft eine Krawatte tragen. Werden Sie eine offizielle Krawatte haben?
Ja. Ich habe gelernt, dass wir jährlich circa 1,3 Millionen Dollar durch Krawatten und Schals des Präsidenten als Spenden für die Foundation generieren (lacht). Das ist ein guter Grund, beides zu haben. Ich mag Krawatten. Ich habe eine große Sammlung von Krawatten.
Bestimmt in 1-a-Zustand (alle lachen). Okay, es wird also eine Krawatte geben. Und was ist Ihr Motto?
Rotary eröffnet viele Möglichkeiten für uns Mitglieder. Aber da sind natürlich auch die Möglichkeiten, sinnvoll zu helfen. Wir bieten Menschen, die unsere Hilfe brauchen, neue Möglichkeiten – durch sauberes Wasser, durch den Schulbesuch oder auch nur durch eine Brille. Das Motto funktioniert in beide Richtungen.
Die Leute beschreiben Sie als jemanden mit einer jugendlichen Einstellung. Wie wird das Ihrer Meinung nach Ihren Führungsstil als Präsident beeinflussen?
Ich hoffe, mein Führungsstil wird sich nicht ändern. Einige Leute haben gesagt, dass ich mich nicht präsidial genug gebe oder so aussehe. Aber das ist in Ordnung. Es geht um Führung, nicht darum, seriös auszusehen. Außerdem müssen wir uns wirklich auf junge Führungskräfte konzentrieren, um in dieser Welt relevant zu bleiben. Wir sind froh über unsere Pensionäre, weil sie die Erfahrungen und Fähigkeiten, die Zeit und die Leidenschaft haben, ihren Beitrag zu leisten. Aber ein Schwerpunkt liegt auf innovativen Clubs, neuen Modellen, neuen Ideen und jungen Mitgliedern. Ich bin hoffentlich die richtige Person zur richtigen Zeit, um jüngere Mitglieder zu gewinnen.
Wie schaffen Sie die Möglichkeiten, junge Menschen in Führungspositionen bei Rotary zu bringen?
Zunächst einmal müssen wir ihnen vertrauen. Sie sind in der Lage, viele Dinge zu tun – wir können uns auf sie verlassen. Wir sollten ihnen die Möglichkeit geben zu führen. Und das schnell. Bevor ich 2014 mit der Planung des Rotary-Instituts in Berlin begann, hatte ich ein Treffen mit Rotaractern. Ich wollte ihre Ideen hören, wie sie Dinge anders machen würden, und sie hatten großartige Ideen. Sie haben alle Breakout-Sitzungen organisiert und großartige Arbeit geleistet. Also: Vertrauen wir ihnen einfach. Wir können uns auf sie verlassen.
Gibt es eine Möglichkeit, den Aufstieg von Frauen in Führungspositionen zu beschleunigen?
In einer Freiwilligenorganisation können wir nicht wirklich Druck ausüben. Das funktioniert nicht. Wir sind eine Basisorganisation; alles beginnt in unseren Rotary Clubs. Die sollten sich darum bemühen, die richtigen Leute für die Governor-Nominierungsausschüsse auszuwählen. Wenn wir die richtigen Leute dort haben, werden mehr Frauen als Governors aufgestellt. Alles ist möglich: Im Zentralvorstand 2020/21, bei dem ich die Ehre des Vorsitzes habe, werden sechs Frauen sein.
Können Sie sich vorstellen, dass es sich anders anfühlen wird?
Es sollte keinen Unterschied geben. Wir sind alle Rotarier, unabhängig vom Geschlecht. Es geht um Leidenschaft
und Führung. Wir wollen die besten Leute; es geht nicht darum, welche davon Frauen sind. Aber ich freue mich, dass dies gerade jetzt geschieht. Das Schöne an Rotary ist in der Tat die Vielfalt.
Wie können wir anderen von Rotary erzählen und unser Image in der Welt verbessern?
Es braucht viel Zeit und Geld, um sein Image in der Welt zu ändern. Zwei Dinge sind wichtig: Man muss wissen, dass es lange dauert, und man muss ehrlich sein. Wir müssen uns nicht dem Marketing zuliebe ändern. Wir müssen eine wahre Geschichte erzählen, warum wir Dinge tun. Um wirklich ein Teil von Rotary zu sein, muss man stolz auf diese Organisation sein, und wir müssen stolz auf unsere Arbeit sein. Aber nicht nur auf das, was man persönlich tut. Das wäre zu egoistisch.
Muss Rotary „cooler“ werden?
Um für jüngere Mitglieder attraktiv zu sein, auf jeden Fall. Ich bin stolz auf unsere bestehenden Rotary Clubs. Aber wenn sie für Rotaracter oder junge Berufstätige nicht attraktiv sind, sollten wir sie ermutigen, ein Clubmodell zu schaffen, das funktioniert. Und genau das werden wir in den nächsten Jahren tun.
Das Gespräch führten Jenny Llakmani und John Rezek/The Rotarian.