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Interview

“Sie waren die Seele Israels”

Interview - “Sie waren die Seele Israels”
Eva Chiel ist 75 Jahre alt und lebt mit ihrem Ehemann im Kibbuz Sarid im Norden Israels unweit von Nazareth. Sie hatte eine sehr enge Verbindung zu ihren Enkeln Noa und Gidi. © David Bachar

Bei dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober verlor Eva Chiel zwei ihrer drei Enkel. Ein Gespräch über tiefe Trauer, Zorn und Liebe

01.12.2023

Frau Chiel, bitte lassen Sie mich zuerst unser tiefes Mitgefühl zum Verlust Ihrer Enkel ausdrücken. Es ist furchtbar, dass wir uns unter solchen Umständen kennenlernen. Ihre zwei Enkel Noa and Gidi wurden am 7. Oktober auf dem Supernova-Musikfestival von Hamas-Terroristen brutal ermordet. Nun sind einige Wochen vergangen. Wie geht es Ihnen heute?

Ich bin immer noch sehr traurig und habe noch nicht verstanden, was da passiert ist. Das wird noch Zeit brauchen.

= Pause =

Sehr viel Zeit. Jeden Tag höre ich die Nachrichten von jungen Soldaten, die im Krieg getötet wurden, 19 oder 20 Jahre jung, und jedes Mal fange ich an zu weinen. Es erinnert mich jedes Mal daran, was wir selbst durchmachen müssen.

Darf ich fragen, wie Sie von dem Angriff der Hamas hörten? Und was war das letzte, was Sie von Ihren Enkeln hörten?

Ich schaltete am Morgen des 7. Oktober den Fernseher ein, etwa um 6.30 Uhr, und sah, dass es Raketenangriffe aus Gaza gegeben hat. Bis mittags hatte ich keine Ahnung, dass meine zwei Enkel auf dem Festival waren. Dann rief ich meine Schwiegermutter an, die mir davon erzählte. Sie sagte, dass das letzte, was sie von den beiden hörte, war, dass sie mit Raketen angegriffen wurden. Sie hatten keine Ahnung, dass dort 2000 Terroristen herumliefen. Sie konnten zunächst noch fliehen, schafften 16 Kilometer mit dem Auto, aber dann wurden sie beschossen von Maschinengewehren und Panzerfäusten. Wir wissen nicht, was sie getötet hat, aber wir hoffen, dass es schnell ging und sie nicht lange leiden mussten.

= Pause, Eva senkt den Blick =

Wir wissen nicht genug.

= Pause =

Eigentlich wissen wir gar nichts.

Dann folgten die schrecklichen Tage der Ungewissheit. Sie wussten nicht, ob Noa und Gidi entführt wurden oder was ihnen zugestoßen war. Wie erfuhren Sie schließlich vom Tod der beiden?

An Tag 12 erfuhren wir, dass sie unter den Toten waren, an Tag 14 beerdigten wir sie. Aber, … wir wissen nicht genug.

Bitte beschreiben Sie uns Ihre Enkel. Wer waren sie?

Sie waren die Seele Israels. Sie waren durch und durch israelisch: sehr zuvorkommend, sehr lebenslustig, sehr kreativ, sie waren sehr beliebt, hatten massenweise Freunde. Zuletzt studierten beide. Gidi studierte Wirtschaft und hatte vor Kurzem sein eigenes Unternehmen mit dem Namen "Radio Berlin" gestartet. In seiner Zeit in Berlin war er zum ersten Mal auf einem Musikfestival wie dem Supernova-Festival gewesen. Er beschloss, solche Events organisieren zu wollen, und weil die Idee aus Berlin stammte, nannte er sein Unternehmen "Radio Berlin". Er lud dazu berühmte DJs aus der ganzen Welt ein, die Idee lief gut an. Er war erst 24 Jahre jung, als er starb.

= Pause. Eva schaut sekundenlang zur Seite. Dann wendet sie sich wieder dem Gespräch zu. =

Er hatte schon viel gesehen von der Welt. Und wenn er noch bei uns wäre, würde er jetzt zusammen mit seinen Freunden in der Armee dienen.

Seine Schwester Noa war 27. Sie studierte Neurowissenschaften und hatte einen Nachwuchspreis erhalten für ihre Forschungen am menschlichen Gehirn. Sie waren sehr fröhliche junge Menschen, fantastische Kinder. Sie liebten sich. Man könnte sich keine besseren Enkel wünschen. Sie waren perfekt. Wirklich.

= Pause =

5000 Menschen kamen zur Beerdigung, es war unglaublich. 5000! Können Sie sich das vorstellen? Wir haben eine große Familie und sie hatten eine Million Freunde, aber damit hatte ich nicht gerechnet. In den Tagen davor und danach war es ein Kommen und Gehen. Ihre Eltern und wir bekamen ständig Besuch. Hunderte jeden Tag. Das zeigt, wie beliebt sie waren.

Das alles klingt, als hätten Sie eine sehr enge Verbindung zu Ihren Enkeln gehabt.

Ja, das stimmt. Im letzten Jahr sah ich sie nicht so oft, weil sie sehr stark beschäftigt waren, aber an Feiertagen sahen wir uns immer. Als Kinder waren sie bei mir im Kibbuz Sarid, in dem ich lebe. Sie gingen hier in den Kindergarten. Wir fuhren damals viel Fahrrad rund ums Kibbuz, wir spielten, …

= Eva unterbricht sich und wischt sich Tränen aus den Augen. =

Wir, … ja, … wir waren sehr eng miteinander.

Noa und Gidi hatten einen jüngeren Bruder. Wie gehen er und seine Eltern mit diesem Schicksalsschlag um?

Er ist 18 Jahre alt und soll nächstes Jahr in die Armee gehen. Er wird gehen, aber wir werden ihn nicht kämpfen lassen. Auf keinen Fall! Wir haben zwei unserer geliebten Familienmitglieder in diesem Krieg verloren, das reicht. Er kann etwas anderes machen, etwas Nützliches, aber er wird nicht kämpfen. Es geht ihm nicht gut, seinen Eltern auch nicht. Sie haben ein eigenes Unternehmen, aber konnten bisher noch nicht wieder ans Arbeiten denken. Sie sind in tiefer, tiefer Trauer. Es ist schlimm.

Natürlich sind Sie und Ihre Familie wenige Wochen nach diesem schrecklichen Überfall der Terroristen in tiefer Trauer. Aber fühlen Sie auch so etwas wie Ärger oder Wut? Ich frage, weil viele Angehörige von Opfern und Entführten zunehmen ihre Wut betonen. Sie adressieren dabei nicht nur die Hamas, sondern auch ihre eigene Regierung, die sie nicht schützen konnte.

Unsere Regierung ist zu nichts zu gebrauchen! Sie ist nutzlos in allem, was sie tut. Neun Monate lang haben wir gegen diese Justizreform protestiert. Statt sich um die Sicherheit zu kümmern, hat sich unsere Regierung mit lauter Schwachsinn beschäftigt. Und natürlich bin ich wütend auf die Hamas. Wenn es nach mir geht, könnte Gaza plattgemacht werden. Komplett. Es sollte neu aufgebaut werden von normalen Menschen, falls es sie dort gibt. Natürlich bin ich wütend auf die Hamas, aber was hilft es mir? Das sind Monster, das sind Teufel, das sind keine Menschen! Mein Ärger ändert nichts. Ich hoffe nur, dass wir sie zerstören, ein für alle Male zerstören.

Das ist nicht das erste Mal, dass Ihre Familie einen solchen Horror erlebt.

Leider stimmt das. Meine Mutter ging durch die Nazi-Hölle. Sie überlebte das Konzentrationslager Bergen-Belsen. Als sie befreit wurde, wog sie noch 24 Kilogramm. Sie wurde nach Schweden gebracht, wo sie Jahre brauchte, um sich zu erholen, und dort wurde ich geboren. Mein Vater war übrigens Deutscher. Ich weiß nicht, wie er es angestellt hat, aber irgendwie schaffte er es, aus Deutschland zu fliehen.

Sie sagten einem Kollegen von CNN, dass die Hamas schlimmer sei als die Nazis. Meinen Sie das ernst?

Definitiv! Zwar haben auch die Nazis Menschen bei lebendigem Leibe verbrannt, aber sie haben keine Kinder enthauptet oder Menschen so heftig vergewaltigt, dass den Opfern die Knochen brachen. Nein, nein, das ist so schrecklich, so unglaublich, was diese Hamas-Mörder gemacht haben. Die Nazis waren schlimm, ja, aber was die Hamas-Leute getan haben, war noch schlimmer. Diese Leute werden von dem Tag ihrer Geburt an mit Hass gefüttert. Sie lernen den Slogan: "Tötet alle Juden", damit wachsen sie auf. Sie wissen gar nicht, warum. Das ist Gehirnwäsche. Aber all das ist keine Entschuldigung.

Ihre Familie hat über Generationen hinweg die Schrecken der Nazizeit verarbeiten müssen, und nun musste sie diese Gräueltaten erleben. Muss Israel nun mit aller Härte gegen die Hamas vorgehen? Unterstützen Sie die heftigen Luftschläge der IDF?

Es sieht leider so aus. Schauen Sie auf die Situation: Nur Deutschland hat Pro-Palästina-Demonstrationen in Europa verboten. Dafür bin ich sehr dankbar. Aber warum sind diese israelfeindlichen Kundgebungen in allen anderen Ländern erlaubt? Diese ignoranten Idioten rufen Parolen wie "From the river to the sea, Palestine will be free". Klingt nach Befreiung, meint aber nichts anderes, als Israel auslöschen zu wollen. Das verstehen aber leider nur die Wenigsten. Europa muss wirklich aufpassen, in zehn bis 15 Jahren nicht vollständig vom Islam verschluckt zu werden. Ich spreche nicht von friedlichen arabischstämmigen Menschen, ich spreche von radikalen Islamisten. Hamas ist überall in Europa, überall! Wenn die Regierungen in Europa, auch in Deutschland, nicht endlich aufwachen, wird es große Schwierigkeiten mit den Islamisten geben. Immer wieder verüben sie Anschläge. Warum schaut man da so lange weg?

Ich sehe, wie Sie trauern, wie Sie mit sich und der Realität ringen, und dennoch sprechen Sie mit mir. Warum?

Weil ich es für wichtig halte, für essentiell. Ich möchte, dass die Welt unsere Sicht der Dinge kennt. Ich möchte, dass die Welt genauer hinsieht. Aber ich bin nicht sicher, ob das überhaupt jemanden interessiert.

Ich erkenne die Trauer in Ihrem Gesicht, auch den Ärger. Aber Sie machen auf mich nicht den Eindruck einer verbitterten oder gar gebrochenen Frau. Das imponiert mir, wenn Sie mir diese Bemerkung erlauben.

= Eva senkt den Blick, dann holt sie tief Luft. =

Ich bin mit Holocaust-Überlebenden und ihren Geschichten aufgewachsen. Das hat mich stark gemacht. Ich bin nicht verbittert, aber ich bin zornig. Ich habe viele Kriege in diesem Land erlebt, aber nichts war vergleichbar mit dem 7. Oktober. So viele unserer Familie wurden im Zweiten Weltkrieg umgebracht. Ich kam nach Israel, weil ich dachte, es ist der einzige Ort für eine Jüdin wie mich, wo ich leben kann. Und das glaube ich immer noch, wenn ich mir den Wahnsinn in der Welt anschaue. Aber dass so etwas noch einmal passieren kann, … ich bin fassungslos. Verärgert. Zornig. Das war ein zweiter Holocaust. Seit 75 Jahren sind nicht mehr so viele Juden an einem Tag gestorben – ermordet von Monstern. Das bringt all die dunklen Erinnerungen an die schlimmsten Geschichten meiner Eltern zurück. Aber ich bin stark, ich stehe immer noch, und ich halte die Familie zusammen.

Das Gespräch führte Björn Lange.

Eva Chiel ist 75 Jahre alt und lebt mit ihrem Ehemann im Kibbuz Sarid im Norden Israels unweit von Nazareth.