Interview
Träume leben
RI-Präsident elect Shekhar Mehta hat keine Angst vor großen Plänen. Mit ein wenig Teamarbeit macht er sie wahr.
In einem einstündigen Interview mit dem US-amerikanischen Magazin Rotary spricht Shekhar Mehta dutzende Male von Träumen. Träume, kranke Herzen gesund zu machen. Die Kinderlähmung überall auf der Welt auszurotten. In Indien, wo jeder Vierte nicht lesen kann, die Alphabetisierungsrate bis 2026 auf 95 Prozent zu erhöhen.
„Träume müssen groß genug sein. Nur dann ist man motiviert, sie zu erreichen“, sagt er. „Wie Gandhi sagte, folgen die Mittel von allein, wenn das Ziel klar ist. So war es mein Leben lang in Rotary.“
Mehta wuchs in einer ehrenamtlich engagierten Familie auf; beide Eltern waren Mitglied von Lions Clubs International. Schon in jungen Jahren erlebte er, wie viel Gutes Service-Organisationen leisten, und stimmte deshalb bereitwillig zu, als sein Freund Chittaranjan Choudhury ihn zu Rotary einlud. Trotz seiner 25 Jahre übernahm er dort bald zusätzliche Aufgaben nach dem Motto: Wenn du um etwas gebeten wirst, sag Ja. Als Fan von Teamarbeit bat Mehta aber immer andere um Mithilfe.
Ein weiteres Beispiel für seine Fähigkeit, nicht nur groß zu träumen, sondern Träume zu verwirklichen. „Nur wenn ich etwas bereits selbst getan oder einen Plan dafür habe, bitte ich andere, es auch zu tun“, sagt er. Er ist Direktor von Operation Eyesight Universal in Indien, war Trustee von ShelterBox und half beim Bau von 500 Häusern für Familien, die Opfer des Tsunamis im Indischen Ozean 2004 waren. Er ist Architekt eines Alphabetisierungsprogramms, das in Tausenden Schulen umgesetzt wird. In diesem Interview erwähnt er dies mit keiner Silbe und spricht immer vom „Wir“ und nicht vom „Ich“, wenn es um das Erreichte geht.
Sein Motto „Engagieren – Leben verändern“ verkörpert sein Wesen und Handeln durch und durch.
Mit seiner Frau Rashi an der Seite sprach Shekhar Mehta im November mit Rotary-Chefredakteur John Rezek und der leitenden Redakteurin Diana Schoberg von zu Hause in Kalkutta, wo Shekhar dem Rotary Club Calcutta-Mahanagar angehört. Dass das Gespräch über Zoom stattfand und die Teilnehmer fast 13.000 Kilometer voneinander entfernt waren, tat Mehtas Botschaft und seiner Begeisterung keinen Abbruch. Es war, als säßen sie alle in seinem Büro in der Zentrale von Rotary International in Evanston. Am Ende dachte jeder, wie groß und gewagt unsere Träume sein können.
Wann haben Sie erkannt, dass Sie in Rotary Großes leisten können?
Bei einer Feuertaufe. Ich wurde mit 25 Jahren in meinen Club aufgenommen. Ein Freund hatte mich gefragt, ob ich Mitglied werden möchte. Im ersten Monat sollte ich eine Souvenirbroschüre anfertigen, um mit dem Anzeigenverkauf Geld zu sammeln. Ich hatte keine Ahnung, wie man das macht. Aber ich wurde gefragt und ich sagte Ja. Viele boten ihre Mithilfe an, und plötzlich hatten wir einen Riesenerfolg. Wir sammelten viel Geld, und alle sagten: „Toll gemacht, Shekhar!“ Drei Monate später übernahm ich die Redaktion des Clubbulletins. Wie habe ich diesen Job geliebt! Das würde ich sofort wieder machen, wenn man mich im Club darum bitten würde. Du wirst zum Lebensnerv – jede Information läuft über dich. Du weißt, was im Club los ist. Das war einer der Gründe, warum ich mich so engagiert habe.
Kurz darauf organisierten wir eine Aktion für Menschen ohne Beine. Wir passten Prothesen an und verschenkten Dreiräder mit Handkurbel. Jeder bekam eine Aufgabe. Meine Aufgabe war es, festzustellen, ob der Geschädigte genug Hand- oder Armkraft hatte, um die Kurbel zu drehen. Dazu musste er mich an den Händen fassen und ich musste ziehen.
Der erste kroch auf dem Boden auf mich zu. Als er mir seine Hand entgegenstreckte, schauderte es mich. Seine Hände waren so verdreckt, dass ich sie nicht anfassen wollte. Der vierte hatte Lepra, aber ich hatte kein Wahl: Ich musste jede Hand halten. Nach der siebten oder achten Hand dachte ich aber nur noch an ihre Not, alles andere
war unwichtig geworden. Ich glaube, da wurde ich Rotarier: Ich begann zu fühlen, was andere fühlen.
Wollten Sie mehr Verantwortung bei Rotary übernehmen oder kam die höhere Verantwortung von allein?
Ich habe nie etwas bei Rotary gesucht und nie Nein gesagt. Ich sage immer wieder: Ein Rotarier engagiert sich ehrenamtlich. Das bedeutet: Ja, ich will etwas tun. Was ist das denn für ein Freiwilliger, der Nein sagt?
Wie haben Sie reagiert, als Ihnen das Präsidentenamt von Rotary angetragen wurde?
Die erste Reaktion? Es war ein schönes Gefühl. Ich bin aber nicht vor Begeisterung auf- und abgesprungen. Wenn eine neue Aufgabe auf mich zukommt, betrachte ich sie immer als eine größere Dienstmöglichkeit. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Nach meiner Nominierung zum RI Director organisierte man eine Riesenfeier für mich. Diese sind in Indien sehr verbreitet. Es wurde viel Nettes über mich gesagt, was mir sehr peinlich war. Ich dachte, nur außergewöhnliche Taten rechtfertigen diese Bewunderung. Deshalb schrieb ich noch am selben Abend auf, was ich mir für die nächsten zwei Jahre vornehme. In der Welt, aus der ich komme, gibt es zu viel Not und viele Möglichkeiten, um etwas zu tun. Ich saß also bis 4 Uhr morgens und überlegte, wie sich 50 Augenkliniken in Indien eröffnen und 5000 Kinder am Herzen operieren lassen. Der ehemalige indische Präsident A.P.J. Abdul Kalam pflegte zu sagen, dass Träume nicht beim Schlafen kommen, sondern einen nicht schlafen lassen. An diesem Abend erlebte ich das auf anschauliche Weise.
Ich wurde wegen meiner Pläne ausgelacht. Wer Außergewöhnliches versucht, wird vielleicht ausgelacht. Am Ende lacht man aber zuletzt. Ich freue mich, sagen zu können, dass viele dieser Träume in Erfüllung gegangen sind.
Werden wir während Ihrer Präsidentschaft exponentiell viele Träume erleben?
Ganz bestimmt. Sonst wäre ich im Herzen dieses Amtes nicht würdig. Ich weiß allerdings auch, dass ich mich als Director auf Indien konzentriert habe. Als Präsident von Rotary muss mein Fokus auf der Welt liegen, und Rotary ist nicht überall auf der Welt gleich.
Unsere Organisation ist 116 Jahre alt, in über 200 Ländern und Gebieten präsent und hat 1,2 Millionen Führungskräfte – nicht nur Rotarier, Führungskräfte – und das Vermächtnis, eine Krankheit nahezu ausgerottet zu haben. Unsere Projekte müssen Wirkung auf nationaler Ebene zeigen. Ich komme aus einem der größten Länder der Erde, und Rotarys aktuelles Wirken zeigt absolut Wirkung auf nationaler Ebene. Es kann in Nepal Wirkung zeigen, dessen bin ich mir bewusst. Ebenso wie in Bangladesch oder in Pakistan. Wir haben die Kinderlähmung weltweit bekämpft und Polio ist jetzt nur noch in zwei Ländern endemisch.
Indische Rotarier hatten die Idee zum Unterrichtsfernsehen mit einem Kanal für jede Klassenstufe: Kanal 3
für die dritte, Kanal 9 für die neunte Klasse und so weiter. Der Lehrplan ist derselbe wie in der Schule. Am Ende
der Stunde erscheint der Hinweis, dass dieser Unterricht durch Rotary möglich wurde. 100 Millionen Kinder hören so täglich den Namen Rotary und lernen Rotary als eine Organisation kennen, die Gutes in der Welt tut.
Wir planten dafür fünfeinhalb Jahre ein. Covid-19 bot eine Gelegenheit, die Regierung unterstützte das Vorhaben, und wir schafften in fünfeinhalb Wochen, was eigentlich fünfeinhalb Jahre dauern sollte. Ich weiß also, dass wir auf nationaler Ebene etwas bewirken können. Rotary hat die Kraft dazu.
Was zeichnet Rotary in Indien aus, und was sollten andere Regionen der Rotary-Welt davon übernehmen?
Zuerst mit dem Herzen denken, nicht mit dem Kopf. Wenn all diejenigen, die dachten, wir würden die Kinderlähmung ausrotten, nur ihren Verstand benutzt hätten, hätten wir das nie geschafft. Das war ein verrückter Traum. Haben Sie jemals etwas geplant, das Jahrzehnte dauern würde? Und dennoch haben wir den Mut, davon zu träumen.
Wir müssen den Mut für solche Projekte haben und bereit zum Risiko sein. Ich mache mir keine Gedanken über das, was schiefgehen könnte. Ich würde lieber zehn Träume haben, von denen nur sechs wahr werden, als nur zwei Träume zu haben, die in Erfüllung gehen. Es geht nicht um Prozente. Es geht darum, Gutes in der Welt zu tun. Um große Träume.
Was wollen Sie in Ihrem Jahr erreichen?
Ich habe zwei große Ziele. Das erste ist, dass wir 1,3 Millionen Mitglieder stark werden. Seit 20 Jahren stagnieren wir bei 1,2 Millionen. Das muss sich ändern, und das ist gar nicht so schwer, wenn jedes Mitglied nur ein neues Mitglied in die Organisation holt. Jeder von uns muss mitmachen. Und ja, auch ich werde ein Mitglied werben.
Anderen zu helfen, ist meine Leidenschaft. Unsere Organisation hilft Menschen und damit auch der Welt. Im kommenden Jahr steht das Empowerment von Mädchen im Vordergrund. Wir engagieren uns für die Bildung aller Kinder, mit einem etwas stärkeren Fokus auf den Mädchen. Toiletten und andere Sanitäranlagen sind ein weiteres Hauptanliegen. Mädchen laufen eher Gefahr, Opfer des Menschenhandels, insbesondere zur sexuellen Ausbeutung, zu werden, und wir müssen sie schützen.
Ist ein Jahr zu kurz für das Präsidentenamt?
Ich glaube nicht, dass der Präsident viel an der Organisation ändert, und das sollte er auch nicht. Wenn man auf die letzten zehn Jahre zurückblickt, lässt sich schwer sagen, was in welchem Jahr passiert ist. Und das ist auch gut so, denn es zeigt, dass nicht der Präsident im Mittelpunkt steht, sondern die Organisation. Ein Präsident soll die 1,2 Millionen Mitglieder inspirieren, stärker zu wachsen und mehr zu tun.
Ist das RI-Präsidentenamt der beste Job bei Rotary?
Das Amt des Clubpräsidenten ist der beste Job bei Rotary. Clubpräsidenten leisten wesentlich mehr und das viel schneller als der RI-Präsident. Sie haben das Vergnügen, mit anpacken zu können.
Sind Sie allein auf das Jahresmotto gekommen?
Nein. Ich bestehe immer auf Teamwork. Ich möchte die Meinung aller hören. Etwa zehn von uns waren daran beteiligt. Es ist Ausdruck meiner rotarischen Philosophie. Ich war für Engagement, doch wurde gesagt, es muss ein Aufruf zum Handeln sein. So wurde aus Engagement engagieren. Wer sich engagiert, wendet Leben zum Guten. Deshalb lautet das Motto: Engagieren – Leben verändern..
Was, glauben Sie, wird Ihre größte Herausforderung sein?
Die einzige Herausforderung sehe ich in der Pandemie, weil sie persönliche Treffen erschwert. Ich liebe die virtuelle Welt, sie hat große Vorteile. Aber Rotary ist eine Organisation von Menschen. Und Menschen wollen sich persönlich treffen. Mit Präsenztreffen kann ich eine viel größere Wirkung erzielen als mit aufgenommenen Botschaften. Deshalb müssen wir so schnell wie möglich Covid-19 überwinden.
Gibt es für Sie hoffnungslose Situationen?
Nein, niemals. Nichts könnte hoffnungsloser sein als diese Pandemie und trotzdem finden wir einen Weg. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Mein Club hat 90 Mitglieder. Vor kurzem hatten wir aber ein virtuelles Clubtreffen mit 2400 Teilnehmern. Ohne die Pandemie wäre es nicht dazu gekommen. Eine hoffnungslose Situation also? Nicht, wenn wir darin eine Möglichkeit sehen.
Das Interview führten John Rezek und Diana Schoberg.
Aus: Rotary 3/2021 (vormals The Rotarian) Die Rede von Shekhar Mehta auf der International Assembly ist unter rotary.org/de/ia2021 abrufbar.