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Titelthema

Was uns zusammenhält

Titelthema - Was uns zusammenhält
© Illustration: Thomas Kuhlenbeck

Wir müssen lernen, Unterschiedlichkeit zu akzeptieren, ohne das Gemeinsame preiszugeben. Ein Essay über Anerkennung in fragmentierten Zeiten

Christof Mandry01.06.2025

Es ist ein verbreitetes Gefühl in diesen Tagen, dass unsere Gesellschaft auseinanderdriftet. Dass ein Riss durch das Land geht, vielleicht sogar mehrere. Und dass es schwerer geworden ist, miteinander zu reden – über Politik, über Werte, über das, was uns als Gemeinwesen zusammenhält. In meiner Arbeit als Sozialethiker beschäftigt mich genau das: Was braucht eine Gesellschaft, um in Verschiedenheit friedlich zu bestehen? Was sichert den sozialen Frieden – nicht nur institutionell, sondern auch kulturell, emotional, im Alltag?

Meinem Eindruck nach leben wir nicht in einer gespaltenen, aber in einer gefährdeten Gesellschaft. Sie ist gefährdet durch soziale Ungleichheiten, durch gegenseitige Entfremdung, durch ein medial verstärktes Dauerrauschen der Empörung, das viele erschöpft zurücklässt. Wir leben aber eben auch in einer Gesellschaft, in der das alltägliche Miteinander – im Verein, in der Familie, im Ehrenamt – oft erstaunlich gut funktioniert. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich unsere gesellschaftliche Wirklichkeit.

Was das Zusammenleben erschwert, sind nicht nur die faktischen Unterschiede in Einkommen und Lebensweise. Es sind auch die Erzählungen darüber. Dass die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland weiter geworden ist, belegen viele Zahlen. Die reichsten zehn Prozent verfügen über einen großen Teil des Vermögens, während ein erheblicher Teil der Bevölkerung kaum oder gar kein Eigentum besitzt. Doch diese wirtschaftliche Ungleichheit allein entzündet nicht notwendigerweise offene Konflikte. Überraschend oft richtet sich der gesellschaftliche Unmut nicht nach oben, sondern nach unten – etwa gegen die vermeintlich „sozial Schwachen“. Der Wettbewerb scheint vor allem innerhalb der Mittelklassen stattzufinden: zwischen denen, die mithalten können, und denen, die den sozialen Abstieg befürchten.

Auch regionale Unterschiede prägen das Bild. Die Spuren der deutschen Teilung sind nach wie vor sichtbar. In Ostdeutschland äußern Menschen häufiger das Gefühl, der gesellschaftliche Zusammenhalt sei schwächer. Diese Wahrnehmung hat Gründe – nicht nur wirtschaftliche, sondern auch kulturelle. Sie speist sich aus Erfahrungen der Transformation, des Strukturwandels, oft auch aus dem Gefühl, nicht gemeint zu sein, wenn von „uns“ gesprochen wird. Umso wichtiger ist es, solche Unterschiede nicht vorschnell als Rückständigkeit abzutun, sondern sie als ernst zu nehmende Hinweise auf verletzte Zugehörigkeitserwartungen zu lesen.

Gelebte Nähe, empfundene Ferne

Inmitten dieser Differenzen gibt es jedoch auch Erstaunliches: Der lokale Zusammenhalt wird, über ganz unterschiedliche Bevölkerungsgruppen hinweg, meist sehr positiv bewertet. Viele Menschen erleben in ihrer Nachbarschaft, in ihrem Verein, in ihrer Gemeinde ein Gefühl von Gemeinschaft, das sie schätzen und bewahren möchten. Das Vertrauen in Mitmenschen, in das unmittelbare soziale Umfeld, ist in Deutschland hoch – und es ist in den vergangenen Jahren kaum gesunken. Das zeigen nicht nur Umfragen, sondern auch die stille Kontinuität freiwilligen Engagements: Menschen helfen einander, kümmern sich, bringen sich ein. Das ist nicht spektakulär, aber bedeutsam.

Was wir also beobachten, ist eine Kluft zwischen gelebter Nähe und wahrgenommener Ferne, zwischen der Erfahrung von Verlässlichkeit im Kleinen und dem Eindruck der Polarisierung im Großen. Das Vertrauen in Institutionen, vor allem in politische Repräsentation, ist brüchiger geworden. Und es hat sich eine Form des wechselseitigen Zweifelns eingeschlichen: Viele wünschen sich mehr Zusammenhalt – glauben aber, die anderen wollten das nicht. Diese paradoxe Konstellation erzeugt das Gefühl einer zersplitterten Gesellschaft, selbst dort, wo noch eine gemeinsame Grundlage vorhanden wäre.

Auch die Werteforschung zeigt keinen dramatischen Werteverfall. Im Gegenteil: Viele Grundüberzeugungen, etwa die Bedeutung von Solidarität, Toleranz oder Hilfsbereitschaft, bleiben weitgehend stabil. Die demokratischen Prinzipien stoßen auf breite Zustimmung, die Bereitschaft, sich für andere einzusetzen, ist hoch. Was sich verändert hat, ist weniger der Wertekern als dessen Sichtbarkeit im öffentlichen Diskurs – in dem oft gerade die lauten, polarisierenden Stimmen den Ton angeben. So entsteht der Eindruck, die Gesellschaft sei tiefer gespalten, als sie es tatsächlich ist.

Allerdings gibt es bestimmte Themen, sogenannte „Triggerpunkte“, die tatsächlich stark emotionalisieren – etwa Fragen von Migration, Identität, Klima oder sozialer Gerechtigkeit. Diese Themen wirken wie Brandbeschleuniger, weil sie mit existenziellen Fragen verknüpft sind: Wer gehört dazu? Was ist gerecht? Wer darf sprechen? Solche Konflikte verlaufen quer zu klassischen Parteigrenzen und sozialen Milieus. Und sie zeigen, dass nicht nur materielle, sondern auch kulturelle Unterschiede Trennlinien markieren.

Der Soziologe Andreas Reckwitz spricht von einer „Gesellschaft der Singularitäten“, in der das Streben nach Einzigartigkeit, nach individueller Unterscheidbarkeit, das Gemeinsame zunehmend überlagert. In dieser Logik zählt nicht mehr das Verbindende, sondern das Besondere. Was früher als allgemeingültig galt – etwa ein Gemeinwohlbegriff oder ein Begriff von Kultur –, wird heute schnell als partikular oder exklusiv kritisiert. Der öffentliche Raum fragmentiert sich in Teilöffentlichkeiten, die sich nur noch selten begegnen. Verständigung wird zur Herausforderung.

Entgegen dem ersten Anschein liegt gerade in dieser Diagnose auch ein Grund zur Hoffnung: Denn wenn wir erkennen, dass unsere Differenzen oft vor allem Wahrnehmungsdifferenzen sind – dass wir einander falsch einschätzen, dass wir zu schnell von „den anderen“ sprechen –, dann können wir auch neue Wege des Dialogs erschließen. Das setzt voraus, dass wir die Bereitschaft aufbringen, einander zuzuhören – nicht um einer oberflächlichen Harmonie willen, sondern um den Raum des Gemeinsamen zu wahren.

Hier kommt für mich die Zivilgesellschaft ins Spiel. Sie ist jener Zwischenraum zwischen Staat, Markt und individueller Lebenswelt, in dem Menschen gemeinsam handeln, jenseits unmittelbarer Interessen. In Kirchengemeinden, Sportvereinen, Bürgerinitiativen, Nachbarschaftshilfen entstehen Verbindungen, die nicht auf Gleichheit beruhen, sondern auf Gegenseitigkeit. Man muss einander nicht ähneln, um gemeinsam etwas zu bewegen.

Die Rolle der Zivilgesellschaft

Gerade diese Formen des zivilgesellschaftlichen Engagements sind es, die eine Gesellschaft zusammenhalten können – nicht weil sie Konflikte vermeiden, sondern weil sie Wege eröffnen, Konflikte konstruktiv zu bearbeiten. Wer gemeinsam ein Projekt plant, ein Fest organisiert, einen Stadtteil gestaltet, lernt, Unterschiede auszuhalten, ohne in Ablehnung zu verfallen. Die gemeinsame Praxis, nicht der gemeinsame Standpunkt, ist hier entscheidend.

Allerdings darf man die Zivilgesellschaft nicht romantisieren. Sie ist kein Ersatz für gerechte Strukturen. Wo die ökonomischen Unterschiede zu groß werden, wo Bildung, Gesundheit oder Wohnen ungleich verteilt sind, stoßen auch die besten Begegnungsprojekte an ihre Grenzen. Anerkennung braucht Bedingungen: faire Chancen, gleiche Würde, politische Ernsthaftigkeit. Sie braucht politische Entscheidungen, die den sozialen Frieden nicht gefährden – durch Verdrängung, durch Sprachlosigkeit, durch Gleichgültigkeit. Dennoch bleiben politische Strukturmaßnahmen ohne die alltägliche Erfahrung des Gemeinsamen hohl. In einer Gesellschaft, die sich zunehmend als lose Verknüpfung individueller Projekte versteht, braucht es Räume, in denen das Gemeinsame nicht behauptet, sondern gestaltet und erlebt wird. Diese Räume zu fördern, zu schützen, manchmal auch neu zu schaffen, ist eine Aufgabe, die uns alle angeht.

Anerkennung ist kein sentimentales Ziel. Sie ist die Fähigkeit, Unterschiedlichkeit zu akzeptieren, ohne das Gemeinsame preiszugeben. Sie ist nicht das Gegenteil von Konflikt, sondern seine zivilisierte Form. Und sie beginnt dort, wo Menschen einander nicht auf Etiketten reduzieren, sondern als Mitmenschen ernst nehmen.

Als Theologe glaube ich an die Kraft der Versöhnung über Konflikte und Enttäuschungen hinweg. Als Sozialethiker weiß ich, wie viel Arbeit sie bedeutet. Und als Bürger bin ich überzeugt: Es lohnt sich.

Christof Mandry
Christof Mandry ist Professor für Moraltheologie und Sozialethik an der Goethe-Universität Frankfurt. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit gesellschaftlichen Gegenwartsfragen, Menschenwürde und der Ethik sozialer Institutionen.