Titelthema
Singen für die Freiheit

Laulupidu: Das estnische Liederfest findet alle fünf Jahre in Tallinn statt und gilt als das weltweit größte Sängerfest.
Eisteddfod nennen die Waliser ihr berühmtes Kulturfestival, dessen Name so unaussprechlich erscheint wie der Name der meisten walisischen Orte, an denen es im jährlichen Wechsel stattfindet. Eisteddfod heißt so viel wie Beieinandersitzen und meint jene friedfertige Form des Beharrens auf der eigenen Kultur- und Sprachtradition, die diese keltische Region von den anderen, deutlich selbstbewussteren Minderheiten des Celtic Fringe unterscheidet: den Schotten oder den Iren. Das nationale, das Eisteddfod Genedlaethol findet immer im Wechsel an einem Ort im Süden oder im Norden von Wales statt. Seit den Nachkriegsjahren gibt es außerdem ein international ausgerichtetes Eisteddfod in Llangollen, einem kleinen Marktflecken im Nordwesten von Wales auf dem Wege nach Chester, das weltweite Ausstrahlung besitzt und längst Anschluss gefunden hat an die globale Popkultur unserer Zeit. So wird im kommenden Jahr die schottische R&B-Sängerin Emeli Sandé auftreten, die im englischen Sunderland geboren wurde und deren Vater aus Sambia stammt.

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Die Anfänge des Eisteddfod reichen bis in das 12. Jahrhundert zurück, aber natürlich ist seine heutige Form ein Kind der Romantik und des wiedererwachten walisischen Selbstbewusstseins im 19. Jahrhundert. Mit der Pflege der eigenen Sprache und Kulturtradition widersetzte man sich dem englischen Einfluss, und der berühmte Offa’s Dyke, die alte Wehrgrenze zu den Angelsachsen, markiert noch immer den kulturellen Graben zum übermächtigen London, obgleich die berühmte Gorsedd of the Bards, jene keltische Zeremonie, die heute fester Bestandteil des Eisteddfod ist, am Ende des 18. Jahrhunderts in London erfunden wurde.
Kultureller Widerstand
Vor allem der Bergbau und die auffallende Dichte evangelischer Freikirchen haben in Wales eine Vielzahl von Männerchören entstehen lassen, die bis heute das kulturelle Erscheinungsbild der Region prägen. Singen als eine Form der nationalen Selbstbehauptung ist bis heute Teil der walisischen Identität.
Aber dieser Zusammenhang ist keineswegs eine Eigenart dieser Region. Er gehörte zum Erscheinungsbild der meisten europäischen Nationalbewegungen, die sich aus der Umklammerung der alten Dynastien und bestehenden Großreiche befreien wollten. Die in den letzten Jahrzehnten wohl am bekanntesten gewordene politische Chortradition und Singebewegung ist die der Esten, die sich ihre Freiheit aus dem sowjetisch-russischen Machtbereich buchstäblich ersungen haben.
Auch das estnische Sängerfest, das Laulupidu oder Liederfest, hat seine Ursprünge im 19. Jahrhundert und war Ausdruck des erstarkenden Nationalbewusstseins der Esten, die sich seit der Eroberung durch das Zarenreich im Großen Nordischen Krieg 1710 einer wachsenden Russifizierungspolitik ausgesetzt sahen, deren Druck um die Mitte des 19. Jahrhunderts spürbar zunahm. Die Antwort der Esten war eine machtvolle Chorbewegung, die sich auf eine alte, bis auf vorschriftliche Zeiten zurückreichende Liedtradition stützen konnte, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts von den deutschbaltischen Liedertafeln aufgegriffen wurde. Das erste Sängerfest, das den russischen Behörden abgetrotzt werden musste, fand im Sommer 1869 in Tartu statt. Schon damals versammelten sich 850 Sänger und 15.000 Zuhörer, was für damalige Verhältnisse eine beeindruckende Zahl war. Gut vier Jahre später begann die Tradition dieser nationalen Sängerfeste auch in Lettland. Nur in Litauen sollte es bis nach der Unabhängigkeitserklärung von 1918 dauern. Die zaristischen Behörden hatten es zu verhindern gewusst.
Die "Singende Revolution"
Für die Esten wurden diese Sängerfeste zum besonderen Teil ihrer nationalen Identität. Während der sowjetischen Besatzungszeit verstand sich Estland als "Singende Nation", die vom KGB misstrauisch beobachteten Sängerfeste waren wichtiger Teil des kulturellen Widerstands gegen die Sowjetmacht und ihre Russifizierungspolitik. Die Proteste der baltischen Länder gegen die zerfallende Sowjetunion gingen als die "Singende Revolution" in die Geschichte ein, und die friedliche Menschenkette, die im August 1989 von Tallinn über Riga bis nach Vilnius reichte, war das wohl größte Gesangsfest in der Geschichte. Zehntausende von Sängerinnen und Sängern kamen damals beim Laulupidu zusammen, 890 Chöre dirigiert von 789 Chorleitern mit fast 80.000 Besuchern. Das Singen war für die Esten endgültig zur Landesverteidigung geworden. Eigentlich sei dieses Sängerfest, sagt der estnisch-kanadische Komponist Riho Esko, aber gar kein Chorfest: Es sei vielmehr "ein religiöses Ritual".
Dieser patriotische Gehalt des gemeinschaftlichen, öffentlichen Singens blieb jedoch keineswegs auf die kleinen Völker und die um ihr kulturelles Überleben kämpfenden ethnischen Minderheiten beschränkt. Auch in der deutschen Tradition waren nicht nur die studentischen Burschenschaften, die Turnbewegung Friedrich Ludwig Jahns oder die Schützen- und Trachtenvereine Träger des neuen nationalen Gedankens, sondern mindestens im gleichen Maße die entstehenden Männergesangsvereine, Liedertafeln und Sängerfeste – eine Tradition, deren sich zwar die Historiker, die sich mit der Nationswerdung beschäftigen, vollauf bewusst sind, die aber in der öffentlichen Wahrnehmung des Chorsingens nur noch eine untergeordnete, eher verdrängte, Rolle spielen.
Dabei ist das Entstehen einer vaterländisch gesinnten bürgerlichen Öffentlichkeit ohne den demokratischen "Vermittlungsraum" des Männerchorgesangs und der Sängervereine kaum denkbar. Sie waren von Beginn des 19. Jahrhundert an das "Sprachrohr des aufstrebenden Bürgerstandes und der Nationalbewegung" (Brusniak/Klenke) und damit Teil der neu entstehenden nationalstaatlichen Gesellschaft. "Freie Menschen fanden sich zu gemeinsamem Tun frei zusammen" (Habakuk Traber). Die beliebten Namen dieser Vereine wie Concordia oder Harmonia drückten den Wunsch nach nationaler Einheit aus. "Wo man singt", hieß damals der Wahlspruch der Heidelberger Liedertafel, "da laß Dich nieder!", was natürlich auch klarstellte, dass künftig nicht mehr alle in diesem neuen Nationalstaat mitsingen durften.
Beethovens weltumarmende Geste seiner Neunten Sinfonie musste dem neuen Zeitgeist weichen. Wobei guter Gesang schon zu Mozarts Zeiten als nationales Distinktionskriterium herhalten musste. Singen, da war man sich damals schon einig, können die Franzosen eben nicht. Und das deutsche Lied wurde selbst noch für Thomas Mann, wie die Kritiker heute lästern, zum "Innerlichkeitsfetisch" der Nation. Womit natürlich das Kunstlied eines Schubert oder Schumann gemeint war, ein Verständnis, das die deutsche Katastrophe lange noch überlebte.
Die schlichteren patriotischen Lieder klingen dagegen in den heutigen Ohren frivol, obwohl sie zu ihrer Entstehungszeit selbstverständlicher Ausdruck moderner Gefühle und Medium des erstarkenden Nationalbewusstseins waren. Heutzutage fühlt sich ein bekanntes Chorfest wie das Harmoniefestival in Lindenholzhausen eher dem Gedanken des Friedens, der Freundschaft und der erlebbaren Völkerverständigung verpflichtet als der patriotischen Tradition der deutschen Liedertafeln und Sängerfeste. Beethovens Hymne entspricht wieder der Zeit.
Nur bei der Nationalhymne kannte man noch in den 1950er Jahren keinen Spaß. Als Theodor Heuss in seiner Silvesteransprache 1950 seine neue Hymne an Deutschland präsentierte, verspottete die Öffentlichkeit diesen "schwäbisch-protestantischen Nationalchoral" und nannte ihn "Theos Nachtlied".
Es gab immer wieder eine Konjunktur des öffentlichen Singens. Die bündische Jugend verstand sich um die Jahrhundertwende als Singebewegung, und selbst in unseren eher prosaischen Nachkriegsjahren hatten die nach ihrem Leiter benannten Fischer-Chöre enormen Zulauf. Es ist die gemeinschaftsstiftende Kraft des Gesangs, die ihn für den gesellschaftlichen Zusammenhalt so wichtig macht. Vielleicht ist das der Grund, warum er auch heute wieder Zuspruch erfährt.
© Antje Berghäuser rotarymagazin.de
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