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Die Rückkehr des Singens

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Der Thomanerchor singt zur Freitagsmotette in der Leipziger Thomaskirche. © picture alliance/Jan Woitas/dpa-Zentralbild/dpa

Vom Kirchenvater Augustinus stammt der Ausspruch: "Wer singt, betet doppelt." Zur Bedeutung des evangelischen Kirchenlieds

01.12.2025

Die Singstimme des Menschen ist einzigartig und unverwechselbar. Sie kann Ausdruck der Seele und unserer Stimmung sein, aber auch umgekehrt unsere seelische Verfassung über das Singen oder Lauschen einer Singstimme beeinflussen. Ganz selbstverständlich fangen wir an zu summen, wenn wir ein Baby beruhigen oder in den Schlaf singen möchten. Unsere Stimme versagt hingegen, wenn wir in einer Krise stecken und versuchen, Tränen zurückzuhalten. Der Gesichtsausdruck eines Sterbenden entspannt sich beim Hören von Musik, vielleicht der Lieblingsmelodien. Wenn für uns gesungen wird, können wir getröstet und gestärkt werden.


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Wir kommen mit einer unverstellten Singstimme auf die Welt. Ein Baby probiert seine Tonhöhen aus, zeigt über die Stimme, ob es vergnügt ist, ob es fröhlich ist, und auch über Weinen, Wimmern oder Schreien, wenn etwas nicht stimmig ist, fehlt oder schmerzt. Wir können also von Anfang an unserer Seele, noch bevor wir sprechen und so kommunizieren können, Ausdruck verleihen.

Inzwischen ist erwiesen, dass beim Singen stimmungsaufhellende Hormone freigesetzt und Stresssymptome gelindert werden. Gemeinsames Singen stärkt die menschlichen Bindungen. Das fängt in der Familie an, geht weiter im Kindergarten, in der Schule, in den Gemeinschaften. Feiertage wie den Martinstag, den Nikolaustag und vor allem das Weihnachtsfest, aber auch Frühling, Sommer, Herbst und Winter verbinden wir mit traditionellen und neuen Liedern. Volkslieder und Kinderlieder können auch heute noch viele Menschen mitsingen.

Fast verstummt

Auch in Stadien und Konzerthallen wird in Gemeinschaft gesungen. Begeistert stimmen Fans bei Sportereignissen in lautstarken Gesang ein, im Pop- oder Rockkonzert wird mitgesungen und getanzt. Miteinander singen ist bei Festen und Partys der Stimmungshöhepunkt. In Wirtshäusern und Kneipen wird musiziert und gefeiert. Daran erinnert man sich, wenn es gelingt, ein gemeinsames Lied zu finden und anzustimmen.

Solche positiven Erlebnisse führen dazu, dass Menschen sich in Chören zu regelmäßigen Proben gezielt zusammenfinden. Beim Chorsingen hat man zudem ein gemeinsames Ziel, arbeitet auf ein großes Werk hin, trifft sich regelmäßig und bringt seine Stimme in den großen Klang ein. Der Chor findet einen gemeinsamen Atem, was die Herzschläge synchronisieren lässt. Zudem hat das gemeinsame Einatmen und Ausatmen positive Auswirkungen auf das Herz-Kreislauf-System. Ein Chor ist auch gelebte Gemeinschaft; man begleitet sich, kennt sich, weiß voneinander. Oft kommen mehrere Generationen in einem Chor aus verschiedenen kulturellen und sozialen Herkünften zusammen. Geübte und geschulte Chorsängerinnen und Chorsänger finden schnell Anschluss in neuer Umgebung – also eine wunderbare Keimzelle gelungener Gemeinschaft.

Es gibt allerdings Lebenslagen, etwa bei familiärer oder beruflicher Belastung, in denen regelmäßiger Probenbesuch in einem Chor nicht möglich ist. So sind die großen Mitsingkonzerte entstanden, bei denen durch individuelle Vorarbeit große Chorwerke punktuell mitgesungen werden können. Unter guter Anleitung oder durch Beteiligung von Profi-Ensembles Teil des großen Klanges von Hunderten von Stimmen zu werden, ist für die einzelnen Choristen ein außergewöhnliches und besonderes Musikerlebnis.

In der Coronazeit war nun gerade diese so ursprüngliche Möglichkeit des Seelenausdrucks, das gemeinsame Singen, einer der gefährlichsten Ansteckungsherde. Nach einem kurzen Schock, das gemeinsame Singen zu verlieren, vielleicht sogar für immer, wurden Hygienekonzepte entwickelt, es wurde im Freien vor Altenheimen und Krankenhäusern, auf Terrassen und Balkonen gesungen und musiziert, auf Abstand in gelüfteten Räumen geprobt, Neues einstudiert, mit Maske oder mit Musikerinnen und Musikern aus einem oder zwei Haushalten gestreamt und gepostet. Auch in dieser Zeit ist das Singen nicht verstummt.

Was für ein Aufatmen war es, als wieder gemeinsames Singen in allen Formaten möglich war. Wie eine Explosion sind nun noch mehr offene Singen, Rudelsingen, Singalongs und Mitsingkonzerte entstanden. Chöre bekommen wieder Zulauf und gestalten Konzerte in verschiedenen Stilrichtungen vom traditionellen Ora-torium bis hin zum Gospelkonzert, dem Konzert von alter bis hin zu zeitgenössischer Chormusik.

Zu allen Zeiten sind Melodien und Texte entstanden, wurde gedichtet, komponiert und gesungen. Die erste, über 2000 Jahre alte Liedsammlung ist das Buch der Psalmen in der Bibel: Gebete für alle Lebenslagen, für Krisen, Feste, Feiern, Lob- und Danklieder, Buß- und Trauerpsalmen. Das Psalmensingen spricht nun die transzendente Ebene an. Gesungene Gebete sind es.

Reformatorische Choräle

Vom Kirchenvater Augustinus stammt der Ausspruch: „Wer singt, betet doppelt.“ Das gilt insbesondere für die Kirchenmusik, wenn Glaubensinhalte in Liedern und Chorälen ausgedrückt werden, Texte und Melodien die Herzen berühren.

Martin Luther beschäftigte sich um 1524 mit der Schaffung von Psalm-Liedern in deutscher Sprache für den Gottesdienst. Gleichzeitig schuf er Katechismuslieder, um Glaubensinhalte auch an Laien zu vermitteln. Durch die ersten Flugblattdrucke wurden die reformatorischen Gedanken in den Straßen und Gassen gesungen, fanden Eingang in Häuser und Herzen. Die ersten gedruckten Liedsammlungen waren Hausbücher, die man immer bei sich trug und mit denen auch Lesen und Schreiben gelernt wurde. Diese reformatorischen Choräle finden sich als Herzstücke und Ausdruck des gemeinsamen Singens in der großen, kunstvoll strahlenden Kirchenmusik von Johann Sebastian Bach und fanden von dort ihren Weg zu Komponisten aller Epochen – bis heute. Das gemeinsame Singen ist also die Grundlage unserer Musikkultur.

Im Jahr 2025 feiern wir die menschliche Stimme als Instrument des Jahres. Diese Singstimme steht nicht nur Musikerinnen und Musikern, sondern fast jedem Menschen ganz individuell zur Verfügung. Mögen wir mit unseren Stimmen in Einklang und Harmonie unsere Gesellschaft und uns ganz persönlich stärken.


Ingrid Kasper ist Chorleiterin und Organistin, arbeitete aber auch bei Theater­produktionen als Musikerin und Produzentin. Derzeit ist sie Landeskirchenmusikdirektorin der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland und Kantorin am Augustinerkloster in Erfurt.