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Beruf & Branche

Hilfreicher Rückzug

Stefan Drauschke16.02.2012

Das kennen Sie auch: Täglich erreicht uns eine Flut von Informationen. In schneller Folge zeigt das „Pling“ des Computers neue Nachrichten an. Beruflich und privat sind wir immer mehr damit beschäftigt, diese Fülle aufzunehmen und – oft parallel – zu verarbeiten. Arbeitsverdichtung und Beschleunigung von Prozessen und Abläufen führen zwar scheinbar zu mehr Effizienz, sie bedeuten aber auch eine höhere Belastung. Während früher ein Brief innerhalb weniger Tage zu beantworten war, wird die Reaktion auf eine E-Mail heute innerhalb von Stunden erwartet. Nicht ein Projekt wird intensiv bearbeitet, sondern es sind drei oder vier auf einmal. Die Ergebnisse werden dabei oft nicht besser, weil die Konzentration sinkt und damit die Arbeitsleistung. Manche erleben nach einiger Zeit im „Hamsterrad“ sogar den gefürchteten Burn-Out.


Haben Sie gewusst, dass im Experiment nachgewiesen eine Gruppe von Probanden, die Aufgaben zu lösen hatte und gleichzeitig ihre Mails bearbeiten durfte im Vergleich zu einer Kontrollgruppe, die zusätzlich zu den Aufgaben Marihuana erhalten hat, im Ergebnis signifikant schlechter abschnitt als die „Kiffergruppe“? Die beobachtbare Wirklichkeit in Besprechungen, Workshops und Konferenzen spricht hier für sich, auch wenn die gute Absicht dahinter steht, möglichst viel in kurzer Zeit schaffen zu wollen. Gut gemeint ist oft nicht gut gemacht!


Wenn die Säge von der hohen Belastung stumpf wird, können Sie entweder die Anstrengungen verdoppeln oder die Säge schärfen. Hierfür benötigen Sie allerdings etwas Zeit, die richtige Technik und die passenden Werkzeuge – am besten ziehen Sie sich für kurze Zeit zurück!

Phasen der Entspannung

„Retreat“, englisch für Rückzug, bezeichnet eine solche geplante körperliche oder geistige Ruhepause in neuer Umgebung und außerhalb des gewohnten (Arbeits-)Alltags. Im Englischen wird der Begriff auch allgemein für Phasen von Entspannung oder Stressabbau benutzt. Im deutschen Sprachraum hat sich die Bedeutung einer spirituellen Praxis durchgesetzt.


In vielen Denk-Schulen verläuft ein Retreat nach einem festen Programm innerhalb eines bestimmten Zeitraums ab. Das kann eine Woche, das können aber auch mehrere Monate sein. Der Tageslauf ist dabei weitgehend geregelt, wozu auch Essen, Waschen oder Arbeitsphasen gehören können. Oft ist ein religiöser Bezug vorhanden.


Die Kirche spricht von „Einkehrtagen“. Das sind meist nur einzelne Tage der Besinnung und des Gebetes, die manchmal auch in Anlehnung an die Exerzitien gestaltet werden. In der katholischen Kirche bieten Pfarreien, Klöster oder Exerzitienhäuser solche Besinnungstage an. Im evangelischen Bereich spricht man eher von Rüstzeiten.


In den Naturwissenschaften beschreibt der Begriff Retreat (oft „Scientific Retreat“) mehrtägige Treffen von wissenschaftlichen Gruppen. Hier spielen neben dem fachlichen Austausch auch soziale Aktivitäten eine Rolle. Ihr Ziel ist, in anderer Atmosphäre das Kennenlernen und so die Interaktion im wissenschaftlichen Alltag zu fördern (nach wikipedia).


Manchmal ist es aber hilfreich, ganz für sich allein eine Auszeit zu nehmen – drei Tage, eine Woche, sogar länger – um aus der Distanz auf die komplexen Gegebenheiten des Lebens zu blicken, Zeit zu haben mit sich selbst und für die wirklich zentralen Fragen des Seins:

  • Wohin richte ich mich aus?
  • Was ist mir wirklich wichtig, warum tue ich, was ich tue?
  • Was gibt meinem Tun Sinn?
  • Wer bin ich eigentlich – und für wen?
  • Wie finde ich zur eigenen Lebenskraft und wie finde ich die Verbindung zu mir selbst?
  • Wie aktiviere und mobilisiere ich meine eigenen Ressourcen in Körper, Geist und Seele?

Sie haben viele Möglichkeiten, Ihre gewohnten Lebens- und Arbeitsmuster zu durchbrechen und eine Auszeit zu nehmen. Achten Sie aber darauf, dann nicht wiederum den alten Mustern zu folgen. Dazu neigen vor allem Menschen, die im Beruf großem Wettbewerbs- und Zeitdruck ausgesetzt sind. Sie suchen auch in der Freizeit sportlichen Wettbewerb mit Gegnern oder gegen die Uhr und machen danach dann auch noch die Nacht zum Tag. Das ist keine wirkliche Auszeit, sondern nur ein Kulissenwechsel.

Überwinden des Ungewohnten

Hohe, dauerhafte berufliche Inanspruchnahme und Leistungsfähigkeit bedürfen in der Freizeit einer ausgeprägten Gegenwelt, in der Inhalte, Regeln und Abläufe grundverschieden sind vom sonst Gelebten. Ein Rückzug (Retreat) könnte klassisch der Aufenthalt in einem Kloster sein – ohne zu sprechen –, eine Atlantiküberquerung auf dem Segelboot, ein längerer Wüstenaufenthalt in kleiner Gruppe – jeweils ohne zeitlichen oder sonstigen Druck und die reiseübliche unablässige Erlebnisplanung.


Zeit für und mit sich selbst ist wertvolle Zeit. Nach dem Überwinden des Ungewohnten und dem Loslassen manchmal aufkommender schlechter Gefühle reifen oft weitreichende Erkenntnisse heran oder tiefe Entspannung breitet sich aus, sinnliche Erfahrungen werden möglich, die in der schnelllebigen Zeit davor kaum denkbar waren.


Gönnen Sie sich diese Zeit ohne Ziel und Plan. Wenn Sie – und sei es für eine kurze Weile – alles verändern, kehren Sie mit einem neuen Blick auf Ihr Leben in den Alltag zurück, den Sie dann voller Energie weiter meistern werden.

Stefan Drauschke
Dr. Stefan Drauschke ist Inhaber des auf „Cultural Change“ spezialisierten Beratungsunternehmens NextHealth. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, u.a. "Changemanagement und Führung im Gesundheitswesen: Führung von Menschen und Management von Prozessen in der Veränderung", (Medhochzwei, 2016).

 

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