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Bankier der Barmherzigkeit

Titelthema - Bankier der Barmherzigkeit
Sozialreformer mit bis heute währender Nachwirkung: Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818–1888) © Ullstein

Friedrich Wilhelm Raiffeisen war einer der großen Reformer des 19. Jahrhunderts – und ist trotzdem heute kaum noch bekannt. Zu Unrecht findet Michael Klein

Michael Klein01.03.2018

Dass hinter dem Namen „Raiffeisen“ ein leibhaftiger Mensch steckt, ist längst nicht jedem bewusst. Aber auch da, wo dieses Wissen sehr wohl präsent ist, wird nicht allzu viel an Kenntnis mit dem Namen verbunden. Dabei muss Raiffeisen als großer Sozialreformer des 19. Jahrhunderts mit weltweiter Ausstrahlung und bis heute währender Nachwirkung angesehen werden. Wer also war Raiffeisen? Friedrich Wilhelm Raiffeisen wurde am 30. März 1818 in Hamm an der Sieg geboren. Sein Vater Gottfried Raiffeisen war der Bürgermeister des Ortes, der im Zusammenhang des Wiener Kongresses zum Königreich Preußen gekommen war. Nach wenigen Jahren wurde der Vater des Amtes enthoben, vorgeblich wegen „Geistes Schwäche“, besonders aber wegen anmaßender Amtsführung, die auch zu einem unrechtmäßigen Eingriff in die Armenkasse führte.

Im Blick auf dieses auch familiäre Desaster scheint insbesondere der Mutter die Aufgabe der Erziehung des Jungen zugefallen zu sein. Überlieferte Quellen weisen sie als eine tiefreligiöse Frau aus. Der Ortspfarrer, zugleich Raiffeisens Taufpate, spielt hier ebenfalls eine Rolle. Der evangelische Theologe vermittelte Raiffeisen insbesondere die über Volksschulniveau herausgehenden Kenntnisse, so dass sich Raiffeisen als 17­-Jähriger um die Aufnahme in den Militärdienst bewerben konnte. Er trat dann ins preußische Militär in Köln ein. Zu bezweifeln ist, dass Raiffeisen ein Berufsweg als Soldat vorschwebte. Möglicherweise rechnete er damit, nach seiner aktiven Zeit eine Stelle als Verwaltungsbeamter zu erhalten. So wäre er noch in das berufliche Feld seines Vaters, Großvaters und Onkels eingetreten. Viele geistige Anregungen erhielt Raiffeisen in dieser Zeit durch einen Freundeskreis, der sich nach der griechischen Muse Euterpia genannt hatte. Hier entstanden Lebensfreundschaften, hier lernte er auch seine spätere Frau kennen.

Gute Literatur und gesellige Unternehmungen, etwa Wanderungen, bildeten das Programm. Ein Teil der Freunde ging dann zum Studium nach Bonn. Hier bildeten sie den Nukleus der späteren Studentenverbindung Wingolf. Auch Raiffeisen nahm nach seinen Möglichkeiten an diesem studentischen Leben teil. Als Soldat war er mittlerweile zur Ausbildung zum Oberfeuerwerker nach Koblenz abgeordnet worden. Hier wohl zog er sich ein Augenleiden zu, das dazu führte, dass er seinen Militärdienst quittieren musste.

Vom Soldaten zum Agrarreformer
Nach einer kurzen Ausbildung im Oberpräsidium der preußischen Rheinprovinz in Koblenz und einer Zeit auf dem Landratsamt in Mayen wurde Raiffeisen als 27­-Jähriger 1845 (zunächst kommissarischer) Bürgermeister der Westerwaldgemeinde Weyerbusch, unweit seines Heimatortes Hamm. Der – anders als der Hohe Westerwald – landwirtschaftlich nicht so karge rheinische Westerwald war durch die sogenannte Realteilung geprägt, in der die landwirtschaftlichen Anwesen gleichmäßig auf die Erben verteilt wurden, was natürlich die Gefahr der Zersplitterung und der Unrentabilität in sich barg.

Raiffeisens besonderes Augenmerk galt zunächst der Verbesserung der Infrastruktur, namentlich dem Schul-­ und Straßenbau. Dann kam es nach mehreren schlechten Getreideernten und durch eine Kartoffelfäule bedingt zum Hungerwinter 1846/47. Raiffeisen ließ durch die Regierung Korn anliefern und gab es auf Kredit – gegen den Willen des Landrates – an die Notleidenden aus. Später gründete er einen „Brodverein“, indem sechzig besser Bemittelte mit ihrem Vermögen für Kredite hafteten, mit denen weiteres Korn bestellt wurde. In einem Backhaus wurde Brot gebacken, das an die Armen abgegeben wurde.

Der Verein arbeitete erfolgreich und die unmittelbare Not wurde gelindert. Seine Maßstäbe waren dabei noch die einer paternalistischen Fürsorge der (relativ) Wohlhabenden für die Armen. Nach demselben Prinzip arbeitete Raiffeisen in seiner nächsten Bürgermeisterei, der Nachbargemeinde Flammersfeld. Mit einem „Hülfsverein“ sollte hier der durch den Wucherhandel entstandenen Not begegnet werden. Kostengünstig wurde für die Bauern Vieh auf Kredit bereitgestellt und eine kleine Sparkasse an den Verein angegliedert. Auch hier stellte sich der Erfolg bald ein. In seiner nächsten Amtsstelle in Heddesdorf (heute ein Stadtteil von Neuwied/Rhein) traten in einem „Wohlthätigkeitsverein“ neben die Kreditvermittlung auch die Strafentlassenenfürsorge, das Bemühen um verwahrloste Kinder und der Bau einer Volksbibliothek. Letztlich erfolgreich war aber auch hier nur die Kreditversorgung.

Die Organisation von Krediten zur Finanzierung landwirtschaftlicher Betriebe, aber auch des privaten Wohnungsbaus wurden schnell zum Kerngeschäft der Genossenschaften

Als eine hohe Ausleihsumme erreicht war, begannen die unbegrenzt haftenden Mitglieder jedoch um ihre Einlagen zu bangen. Der Verein geriet in eine Krise und wurde 1864 als „Darlehnskassen­Verein“ neu konstituiert. Jetzt waren auch die Kreditnehmer Mitglieder des Vereins, und es handelte sich nun um eine Genossenschaft im eigentlichen Sinne. Die Vereine arbeiteten nach feststehenden Prinzipien. Dazu gehörte die Begrenzung der Vereinsgröße auf das Gebiet eines Kirchspiels. So wurde sichergestellt, dass Kreditnehmer und Kreditgeber einander kannten und die Kreditwürdigkeit zutreffend beurteilt werden konnte. Die Arbeit im Verein war prinzipiell ehrenamtlich, nur der Rechner bekam eine kleine Aufwandsentschädigung.

Für die Ausgabe von Krediten hielt Raiffeisen an einem Zinssatz von fünf Prozent fest. Dividenden gab es zunächst nicht. Stattdessen wurden Gewinne in einem Stiftungsfonds angesammelt. Hatte dieser eine bestimmte Höhe erreicht, so schwebte Raiffeisen vor, sollten daraus soziale Aktivitäten finanziert werden. Seine Pläne muten noch heute modern an, wenn auch die Begriffe damals andere waren. Fortbildungsseminare, Kindertagesstätten, Pflegeheime, all das konnte Raiffeisen sich als Projekte vorstellen. Hier wird deutlich, dass die Genossenschaften nicht nur der wirtschaftlichen Bedürfnisbefriedigung dienen sollten, sondern Raiffeisen ihnen eine darüber hinaus gehende Aufgabe zuwies. Seine Genossenschaften sollten aktive Mitgestalter des kommunalen und vor allem des sozialen Lebens sein.

Grundlagenwerk
Raiffeisen wurde bald wegen seines verschlimmerten Augenleidens in den Ruhestand versetzt und musste als mittlerweile verwitweter Mann mit vier unmündigen Kindern seinen Lebensunterhalt mit einer Zigarrenfabrik und dann einem Weinhandel verdienen. Daneben schrieb er an einem Buch über die Darlehenskassen­-Vereine, in dem er seine Erfahrungen mitteilte und praktisch handhabbare Hinweise zur Gründung von Genossenschaften gab. Das Buch war ein großer Erfolg und erlebte mehrere Auflagen. Raiffeisens Werk wurde allgemeiner bekannt und es bildeten sich ausgehend vom Rheinland immer mehr Darlehenskassen­Vereine nach seinem System. Zu den Kreditgenossenschaften traten bald auch Bezugs­ und Absatzgenossenschaften (Landhandelsgenossenschaften) hinzu. Sie sollten das ländliche Bild der Raiffeisen­-Genossenschaften lange prägen. Mit einer Zentralkasse als Ausgleichsstelle und einem Dachverband, der sogenannten „Anwaltschaft ländlicher Genossenschaften“, wurden übergeordnete Gremien geschaffen.

Vereinstage dienten nun als Zusammenkünfte der Genossenschaftsvertreter, ein Landwirtschaftliches Genossenschaftsblatt entstand, und allmählich bürgerte sich der Titel „Vater Raiffeisen“ für den Genossenschaftsgründer ein. Obschon Raiffeisen mit seiner Arbeit ökonomisch äußerst erfolgreich war, haderte er mit dem Erfolg. Ihm ging es in seinem Tun nicht primär um wirtschaftliche Interessen. Sie sollten für den sozialkonservativen Raiffeisen nur Mittel zum Zweck einer Verbesserung der allgemeinen Lebensverhältnisse werden, aus denen dann ein sittlicher und religiöser Aufschwung entstand.

Wie wichtig Raiffeisen dieser Aspekt seines Werkes war, zeigt sich auch daran, dass er die Rede Jesu im Gleichnis vom Weltgericht – „Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Matthäus 25) – ausdrücklich als Wahlspruch seiner Genossenschaften bezeichnete. Er entwickelte sogar Pläne zur Gründung einer geistlichen Kommunität, aus der sich der Mitarbeiternachwuchs in den Vereinen rekrutieren lassen sollte. Dabei sollten die Mitglieder die mönchischen Tugenden der Armut, der Ehelosigkeit und des Gehorsams leben. Diese Pläne kamen zwar nicht zustande, Raiffeisen arbeitete aber bis zu seinem Tode daran. Am 11. März 1888 starb Raiffeisen kurz vor seinem 70. Geburtstag. Eine geplante Ehrenpromotion zu seinem Geburtstag kam nicht mehr zustande. Dies hatte sich – wie es in den Akten hieß – „erledigt“. Nicht erledigt waren und sind jedoch bis heute Raiffeisens Ideen, die in den Genossenschaften weiterwirken.


Jubiläum
Unter dem Motto „Mensch Raiffeisen. Starke Idee!“ erinnert die Deutsche Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-Gesellschaft das ganze Jahr 2018 über an den Vater der Genossenschaftsidee. 

raiffeisen2018.de

Michael Klein
Prof. Dr. Michael Klein, RC Westerwald, ist Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Hamm (Sieg) und lehrt Kirchengeschichte an der Universität Heidelberg. Zuletzt erschien „Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Christ - Reformer - Visionär“ (Calwer Verlag, 2018).
calwer.com