Titelthema
Justitia auf Abwegen
Wie unfehlbar ist der Rechtsstaat? Wer auf die Karrieren deutscher Justizbeamter vor und nach 1945 blickt, bekommt Zweifel am Selbstbild vieler Juristen.
Am 10. Oktober 2016 stellte die Unabhängige Wissenschaftliche Kommission „Die Akte Rosenburg“ vor, den Abschlussbericht zum im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz (BMJ) durchgeführten Forschungsprojekts zur Vor- und Frühgeschichte des Ministeriums. Wie zahlreiche andere in jüngerer Zeit im Auftrag von Bundesministerien und -verwaltungen durchgeführten historischen Studien führte das „Rosenburg-Projekt“ eine große Zahl von politischen Belasteten zutage, doch scheint der Bereich der Justiz, in dieser Hinsicht eine gewisse Sonderstellung einzunehmen. So deuten die Ergebnisse zum BMJ auf die Verwendung besonders hochrangiger ehemaliger NS-Justizjuristen in Schlüsselstellungen des Ministeriums hin. Eine weitere Besonderheit der Justiz: die Wiederverwendung ehemaliger NS-Justizjuristen in der Fläche. Ehemalige Richter und Staatsanwälte der NS-Judikatur finden sich im Bundesministerium der Justiz, in den Landesjustizverwaltungen, am Bundesgerichtshof, an Land- und Amtsgerichten, in den Staatsanwaltschaften, bis hin zu den Sozialgerichten.
Entlastung der Funktionseliten
Um Rechtssicherheit und Stabilität zu gewährleisten, verlegten sich die Westalliierten bereits sehr früh auf eine Politik der Restabilisierung und leiteten die Beendigung der bis dahin verfolgten Ausschaltung der wirtschaftlichen und administrativen Oberschicht des NS-Staats ein. Die Wiederverwendung vormaliger staatlicher Funktionsträger legitimierte die Generalthese, wonach die engere politische Führung des „Dritten Reiches“ die Verantwortung für die terroristischen Strukturen des Regimes trug, nicht aber die Justiz und die juristischen Interpretationseliten. Eine Auslegung, die von den deutschen Juristen bereitwillig aufgenommen wurde, entsprach sie doch ihrer eigenen Deutung. „Nicht die Justiz, sondern ganz allein der Gesetzgeber hatte die Fahne des Rechts verlassen. Und mit der Verantwortung für die Folgen dürfen heute weder Rechtslehre noch Justiz beladen werden“, so der Göttinger Rechtsprofessor Eberhard Schmidt auf der Tagung Deutscher Juristen im Herbst 1947. Ähnlich äußerte sich Emil Niethammer, seit 1938 Ehrendoktor der „Kieler Schule“. „Die weit überwiegende Mehrzahl der deutschen Richter versah“, so Niethammer, „ohne sich vom rechten Weg ablenken zu lassen, das richterliche Amt auch fernhin pflichtbewußt und treu im reinen Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit.“ Der konservative Beamtenrechtler Carl Heyland führte 1949 aus, die Beamten hätten unabhängig vom jeweils herrschenden politischen System allein der übergeordneten „Staatsidee“ gedient. Die Vorstellung, dass die Beamten unabhängig waren von einer demokratischen oder diktatorischen Verfassung, dass sie mit der politischen Diktatur nichts zu tun hatten, entsprach dem dominanten Selbstbild der ab 1946 verstärkt in den Justizdienst zurückkehrenden Juristen. Sie „deutet die Realität des NS-Staates ideologisch um, in der Beamtenschaft, Justiz und Rechtswissenschaft einen wesentlichen Faktor für die Aufrechterhaltung der nationalsozialistischen Herrschaft bildeten“.
Rückkehr in alte Ämter
Im Zusammenspiel mit dem Abschluss der Entnazifizierung, verschiedenen Amnestiegesetzen und dem Inkrafttreten des 131er Gesetzes, kehrten in Westdeutschland „nahezu alle Richter und Staatsanwälte in die Justiz zurück, die bis 1945 in deren Dienst gestanden hatten.“ Auch die meisten der nach 1945 zunächst aus ihren Ämtern entlassenen Professoren kehrten an die westdeutschen Hochschulen zurück. Die Wirkungsmächtigkeit der Darstellung von den unpolitischen Juristen, den Technikern des Rechts, mag zu einem Gutteil in der Rolle der „Ehemaligen“ in der juristischen Ausbildung der nachwachsenden Juristengeneration zu finden sein.
Trotz der allgemein verbreiteten Auffassung, wonach staatliche Funktionsträger des NS-Regimes als politisch unbelastet galten, wenn sie nur ihre Pflicht getan hatten, sahen sich die wiederamtierenden Justizjuristen ab Ende der 1950er Jahre gezwungen, sich mit individuell gegen sie erhobenen Schuldvorwürfen auseinanderzusetzen. Hier ging es nicht mehr nur allein um „die Justiz“ im Nationalsozialismus, sondern um die individuelle Verantwortung für einzelne Todesurteile von NS-Sondergerichten. Konnten die Broschüren der DDR-Blutrichterkampagne, mit Namenslisten wiederamtierender Richter und dem Verweis auf deren Tätigkeit zur Zeit des Nationalsozialismus noch leichthin als haltlose Ost-Propaganda diskreditiert werden, so mussten sich westdeutsche Richter spätestens seit der Erstattung von Strafanzeigen gegen 43 wiederamtierende Richter wegen des Verdachts auf Rechtsbeugung in Tateinheit mit Totschlag erklären. Staatsanwaltschaften im gesamten Bundesgebiet ermittelten, zahlreiche Richter und weitere Zeugen wurden vernommen, und die Kopien der Urteile der NS-Sondergerichte wurden der Öffentlichkeit im Rahmen einer Wanderausstellung präsentiert, sie wurden im Bundestagsrechtsausschuss behandelt und die Ermittlungsakten in Rechtsausschüssen von Landtagen debattiert.
Der Richter als tragische Figur?
Zwei Grundmuster der Schuldabwehr sind zu erkennen. Zum einen die Negierung der richterlichen Unabhängigkeit im Nationalsozialismus und damit die Abwälzung der Verantwortung auf die obersten Repräsentanten des Regimes. Vielfach wurde auf die Richterbriefe und die omnipotente Rolle Hitlers verwiesen und auf seine in der Reichstagsrede vom 26. April 1942 gegen die deutsche Richterschaft ausgesprochene Drohung. Durch diese habe man sich zur Verhängung hoher Strafen gezwungen gesehen; eine Darstellung, die einer bereits seit Anfang der 1950er Jahre in der juristischen Literatur vorgezeichneten Linie folgt. 1954 hat Hermann Weinkauff die „lähmende Atmosphäre der Furcht, des Misstrauens, der Erbitterung, ja der Verzweiflung“ beschrieben, die nach seiner Darstellung am Reichsgericht herrschte. Derartige Darstellungen entwerfen das Bild der Justiz als Opfer des Nationalsozialismus. Der Richter avanciert zur tragischen Figur.
Um sich nicht dem Vorwurf rechtsfremder Erwägungen auszusetzen, betonten andere Beschuldigte die Wahrung richterlicher Unabhängigkeit und verneinten die Einflussnahme auf die richterliche Entscheidung. Hier konnten die Urteile jedoch direkt den beteiligten Richtern angelastet werden, da diese – ihrer eigenen Argumentation folgend – unabhängig geurteilt hatten. Folgerichtig wurde auf die absolute Verbindlichkeit der NS-Gesetze und -Verordnungen verwiesen. Die mitunter drakonischen Strafen seien durch diese vorgegeben gewesen. Die Richter seien, so Hubert Schorn, Opfer ihrer „Verbildung“ durch den herrschenden Rechtspositivismus gewesen. Auch hier erscheinen die Richter nicht als Täter, sondern als tragische Opfer in einer schicksalhaften Lage. Der Gesetzespositivismus habe mit seiner ausschließlichen Bindung an das formale Recht von den Juristen einen „unkritischen Gesetzesgehorsam“ gefordert.
Leugnung der Verantwortung
Bereits in den 1960er Jahren wurde gegen diese Darstellung eingewandt, dass gerade der vielbeschworene Gesetzespositivismus zur Wahrung des Rechts habe führen müssen. Doch tatsächlich seien die NS-Richter alles andere als Positivisten gewesen. So bereitwillig wie sie NS-Gesetze und Verordnungen befolgten, die jeder Rechtsnatur entbehrten, so wenig waren sie bereit, die bestehenden Normen korrekt positivistisch zu interpretieren. Tatsächlich gingen viele Richter bei der Urteilsfindung derart innovativ zu Werke, dass ihre Gesetzesauslegung noch weit über den durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts vorgegebenen Rahmen hinausging. Dennoch war es vor allem dieser Rechtfertigungstopos, der von der juristischen Literatur breit rezipiert und als zutreffend akzeptiert übernommen und erweitert wurde. Erst die rechtshistorische Forschung der ausgehenden 1980er Jahre kritisierte diese Darstellung grundlegend.
Am 25. Januar 1985, nahezu vierzig Jahre nach dem Untergang des „Dritten Reiches“, bezog der Deutsche Bundestag Position und bezeichnete den Volksgerichtshof als „Terrorinstrument zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Willkürherrschaft. Es vergingen weitere dreizehn Jahre, bis am 25. August 1998 mit der Verabschiedung des „Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege“ sämtliche Urteile des VGH aufgehoben wurden. Seither wird die Tätigkeit der Justizjuristen im Nationalsozialismus weit kritischer bewertet. Der Bundesgerichtshof, der noch im Huppenkothen-Urteil von 1956 die Verurteilung der Angehörigen der Widerstandsgruppe des 20. Juli als „ordnungsgemäßes Verfahren“ bewertet hatte, bezeichnete dieses Urteil 2002 durch BGH-Präsident Hirsch als „Schlag ins Gesicht“. Das „Versagen der Nachkriegsjustiz“ sei ein „dunkles Kapitel in der deutschen Justizgeschichte und wird dies bleiben.“
Späte Einsichten
Bei der Vorstellung des wissenschaftlichen Abschlussberichts zum Rosenburg-Projekt im Oktober 2016 erklärte der damalige Bundesjustizminister Heiko Maas, dass das Unrecht, das deutsche Juristen im 20. Jahrhundert angerichtet haben, zum Pflichtstoff der Juristenausbildung werden solle. Pflichtlektüre in der Juristenausbildung ist auch der „Beck’sche Kurz-Kommentar“ zum BGB, kurz „der Palandt“. Der Herausgeber und Namensgeber Otto Palandt war im Nationalsozialismus rasch aufgestiegen. Die von ihm erarbeitete Ausbildungsverordnung diente der Verankerung nationalsozialistischer Rechtsvorstellungen in der Juristenausbildung. 1938 wurde Palandt mehr zufällig zum Herausgeber des BGB-Kommentars, der bis heute seinen Namen trägt. Und obschon er als Namensgeber nur das Vorwort beisteuerte, wirft die Erklärung des Verlages, der den Titel „Palandt“ für den Kurzkommentar als eingeführten Markennamen abgelöst von der Person verstanden will, doch Fragen auf. Kann der Name abgelöst von der Person betrachtet werden? Zumindest findet sich in der aktuellen Auflage ein knapper Hinweis auf den Namensgeber des Kommentars.