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Martin Luther – ein Protestantischer Erinnerungsort

Beinahe ein Heiliger

Christoph Markschies02.04.2012

Zentrale Figuren der christlichen Glaubensgeschichte werden nicht nur in der römisch-katholischen Kirche als Heilige verehrt. Auch im Protestantismus werden sie als maßgebliche Gestalten der Vergangenheit gern in einer Weise erinnert, die sich in manchen Zügen von der Heiligenverehrung der Schwesterkirche kaum unterscheidet. Das beste Beispiel für Gemeinsamkeiten und Unterschiede ist – allzumal im Vorfeld des Reformationsjubiläums 2017 – der Reformator Martin Luther selbst. Sein Gedächtnis hat in manchen Gegenden Norddeutschlands sogar das eigentlich dem Heiligen Martin von Tours gewidmete Martinssingen okkupiert: Es findet dann am Geburtstag von Martin Luther statt, der vermutlich am 10. November 1483 geboren wurde. Bei diesem evangelischen Martinisingen, das plattdeutsch Sünnematten bzw. Mattenherrn heißt und auch zu Matten Matten Mähren verballhornt wird, tragen die Kinder wie beim entsprechenden katholischen Umzug Laternen durch die dunkle Novembernacht. Wahrscheinlich entstand der Brauch im Zusammenhang mit dem dreihundertjährigen Reformationsjubiläum 1817. Aus dieser Zeit dürften zugleich auch einige der Lieder stammen, die noch heute in Gegenden Niedersachsens, in Ostfriesland, der Altmark und Westfalen gesungen werden. So singt man in Ostfriesland nach einer Melodie, die Mozart 1791 Höltys Gedicht „Üb’ immer Treu und Redlichkeit“ unterlegte und die das Glockenspiel der Potsdamer Garnisonkirche bekannt gemacht hat, „Martinus Luther war ein Christ“:

Martinus Luther war ein Christ,
Ein glaubensstarker Mann.
Weil heute sein Geburtstag ist,
zünd ich ein Lichtlein an.

Und sing ein Lied nach altem Brauch
aus voller Brust heraus.
So singend zog Martinus auch
Als Kind von Haus zu Haus.

Und als geworden er ein Mann,
war er ein helles Licht.
Dies deutet auch mein Lichtlein an,
weil es die Nacht durchbricht.

Als Held im Kampfe seht ihr ihn,
die Bibel ist sein Schwert.
Ihm halfen Zwingli und Calvin,
die gleicher Ehre wert.

Ob wütend auch der Feind gedroht,
sie hielten tapfer stand.
Ein feste Burg ist unser Gott!
Ertönt’s von Land zu Land.

Das Lied verrät deutlich den Geist der Unionen zwischen Lutheranern und Reformierten, die aus dem Geist des Reformationsjubiläums 1817 geboren wurden; es dürfte also ungefähr aus der Zeit stammen, in der der ursprünglich allen christlichen Konfessionen in Deutschland gemeinsame Brauch des Martinssingens protestantisiert und auf den evangelischen „heiligen Martin“ umgedeutet wurde.

Natürlich kommt man nicht nur bei der Betrachtung von evangelischen Martini-Bräuchen auf die Idee, dass der Wittenberger Theologieprofessor und Augustinermönch Martin Luther einen katholischen Heiligen substituieren soll. Selbst wenn Luther selbst jede Verehrung seiner Person ablehnte – berühmt ist seine Äußerung „Wie käme denn ich armer stinkender Madensack dazu, dass man die Kinder Christi mit meinem heillosen Namen nennen sollte?“ – und römisch-katholischer Heiligenverehrung des späten Mittelalters zunehmend kritischer gegenüberstand, wurde er selbst schon zu Lebzeiten fast wie ein Heiliger verehrt. Man bewahrte Gegenstände seines persönlichen Besitzes wie den Ehering, seinen Esslöffel, den Bierkrug, Becher oder Kleidung auf und reichte sie ausgewählten Personen zur Aufbewahrung weiter, z.B. dem schwedischen König Gustav Adolf. 1703 erschien eine Veröffentlichung, die die hinterlassenen Habseligkeiten des Reformators schon durch den Titel in gefährliche Nähe zu Reliquien brachte: De reliquiis Lutheri, diversis in locis asservatis. Allerdings schloss die gleichnamige Sammlung, die die Mönchszellen Luthers, persönliche Gegenstände und Manuskripte nachwies, genau das aus, was unter katholischen Christen als „Reliquien“ verstanden wurde, nämlich materielle Überreste des Leibes wie Knochen.

Diese Differenz macht auf die Unterschiede zum Heiligenkult aufmerksam: Man verehrte den Heros Luther, aber man erwartete von ihm keine Fürsprache bei Gott, keine Wunder am Grabe und erwähnte ihn auch nicht als Fürsprecher in Gebeten.

Das Bild Luthers im Gedächtnis der Deutschen changiert eigentümlich zwischen einem Heiligen-, Heroen- und Professorenbild: Der Freund und Maler Lucas Cranach der Ältere (1472–1553) schuf, wie der Kunsthistoriker Martin Warnke gezeigt hat, ein „Image“ des Reformators und verbreitete es durch Serienbilder massenhaft – eine Praxis, die aus der spätmittelalterlichen Heiligenverehrung stammte: Reliquienstatuen und Kultbilder wurden seriell reproduziert und dienten der Verbreitung eines Kultes samt einer Ausbreitung seiner heilsamen Wirkung. Während Cranach den Wittenberger Professor zunächst als Augustinermönch im Habit darstellte, folgte dann bald ein Porträt, das einen wohlgenährten Gelehrten im Professorentalar zeigte, der fest und glaubensstark in die Welt sah. Der Mönch trägt wie in vielen späteren Darstellungen eine Bibel in der Hand; damit wird nicht nur der Professor für Bibelauslegung porträtiert, sondern auch der glaubensstarke Theologe, der seine Gewissheit allein auf die Schrift gründet.

»?Reliquienstatuen und Kultbilder wurden seriell reproduziert und dienten der Verbreitung eines Kultes samt einer Ausbreitung seiner heilsamen Wirkung?«

Seit dem Jahr 1532 malte Cranach Luther, den er bereits als Mönch, Junker und Herkules portraitiert hatte, dann zunehmend ausschließlich als Professor in seinem schwarzen Wittenberger Talar mit dem zugehörigen Barett. Diese Darstellung traf auch Luthers Selbstbild, der zeitlebens auf seinen theologischen Doktor durchaus stolz war und ihn gern im Zusammenhang mit seinem eigenen Namen verwendete. Vor allem das Bild Luthers im Professorentalar wurde massenhaft, ergänzt durch Bilder der Ehefrau und des Freundes Philipp Melanchthon, verbreitet und teilweise bald in Kirchen links und rechts des Altars, stellenweise (wie in Wittenberg) sogar über dem Altar aufgestellt bzw. aufgehängt. Kritische Äußerungen Luthers über die Bilderflut, die von ihm durch die Werkstatt Cranachs verbreitet wurde, sind übrigens im Unterschied zu der kritischen Äußerung über die Nutzung seines Namens zur Bezeichnung einer Konfession nicht bekannt.

Konstruktion der Erinnerung
Das entsprechende Image Luthers ist nicht nur durch Cranachs massenhaft produzierte Serienbilder, sondern auch durch daran orientierte Bilder, Skulpturen und sonstige Kunstwerke bis in die Gegenwart hinein weiterverbreitet worden, vor allem auch durch die Reformations- und Lutherdenkmale des 19. Jahrhunderts. Erst in den letzten Jahren ist deutlich geworden, wie begrenzt es der Wirklichkeit entsprach: Der wohlgenährte Luther sollte das Image einer gesunden, in sich ruhenden Reformationsbewegung vermitteln, der reale Luther war durchaus nicht übergewichtig und schon gar nicht fettleibig.
Eine über solche Bilder des Reformators hinausgehende Konstruktion einer materiellen Memoria Lutheri und damit der dinglichen Dimension des Erinnerungsortes Luther setzte schon im 17. Jahrhundert ein, also in einem Klima verschärfter konfessioneller Auseinandersetzungen in Deutschland, einem kriegerischen Jahrhundert. Schon 1655 wurde ein Museum Lutheri im einstigen Wittenberger Augustinerkloster eingerichtet, in dem der Reformator die längste Zeit seines Lebens zugebracht hatte, zuerst als Mönch und seit 1525 als Ehemann, Familienvater und Gastgeber immer neuer Runden von Studenten, Dozenten wie Besuchern. In diesem Haus wurde früh schon die gut erhaltene, holzgetäfelte Wohnstube und der Wohnzimmertisch des Reformators Besuchern von nah und fern gezeigt, auch wenn später zeitweilig im Raum Mehlvorräte für die Wittenberger Universität gelagert wurden und zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts sogar ein Umbau zu einem Getreidemagazin geplant war. Erst unter dem ebenso frommen wie denkmalbewussten preußischen König Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861) wurde nach Entwürfen der besten Architekten Preußens seit 1843 ein reformationsgeschichtliches Museum eingerichtet und darin auch die Wohnstube bewahrt. 1883 wurde das Museum nach langen Verzögerungen durch den Kronprinzen und späteren Kaiser Friedrich III. eröffnet, es enthielt einen (damals tatsächlich sogenannten) „Reliquiensaal“, in dem die Reste der Predigtkanzel Luthers und weitere „Reliquien“ gezeigt wurden.

Von einem zweiten „Sankt Martin“ als einem Erinnerungsort im kulturellen Gedächtnis der Deutschen kann man also nur sehr eingeschränkt und in einem metaphorischen Sinne sprechen: Gewisse Züge verbinden den Reformator mit einem Heiligen, andere trennen sie sehr deutlich von ihm und auf diese trennenden Züge haben mindestens die evangelischen (wie katholischen) Theologen immer viel Wert gelegt – so ist es um die Frage, ob Luther auf Altären dargestellt werden dürfte, schon unter seinen unmittelbaren Schülern zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen und diese Praxis in den gegen Luthers Willen „lutherisch“ genannten Kirchen schnell unterbunden worden. Natürlich gibt es hierzulande noch Lutherkirchen, weit über hundert zählt das Internet und gelegentlich erhalten sie – wie die zwischen 1966 und 1970 wiederaufgebaute gleichnamige Kirche im kurhessischen Kassel – auch noch zeitgenössische Lutherskulpturen. Selbstverständlich erschöpfen sich in solchen innerchristlichen Entwicklungen nicht die unterschiedlichen Dimensionen des Gedächtnisortes; der Wittenberger Professor ist natürlich auch im kulturellen Gedächtnis derjenigen Deutschen verankert, die wenig oder nichts mit den christlichen Kirchen im Sinn haben.


Christoph Markschies
Prof. Dr. Christoph Markschies seit 2004 Professor für Ältere Kirchengeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, deren Präsident er von 2006 bis 2010 war. Seit 2015 ist er Leiter des Berliner Instituts Kirche und Judentum. Zuletzt erschien „Das antike Christentum: Frömmigkeit, Lebensformen, Institutionen“ (3. Auflage, C.H. Beck, 2016).