Im Fokus
„Das Modell Uganda funktioniert nicht mehr”

Rund 1,9 Millionen Menschen finden derzeit in Uganda Zuflucht. Das Land praktiziert eines der fortschrittlichsten Flüchtlingsmodelle. Doch nun steht Ugandas Willkommenspolitik aufgrund diverser Kriege und ausbleibender Hilfsgelder vor allem aus den USA vor dem Scheitern. Aber es gibt immer wieder Hoffnung – auch dank rotarischen Engagements
Peter Pauls
„Die Stärke einer Gesellschaft erkennt man daran, wie sie mit den Schwächsten ihrer Mitglieder umgeht.“ Der Satz, der dem indischen Freiheitshelden Mahatma Gandhi zugeschrieben wird, könnte über dem Leben des afrikanischen Flüchtlings Nzivugira Desire, Rufname Kajoriti, stehen. Mit sieben Jahren infizierte er sich mit Polio-Viren. Eine Schutzimpfung hatte er in seiner zentralafrikanischen Heimat, der Demokratischen Republik (DR) Kongo – nicht zu verwechseln mit der Republik Kongo auf der westlichen Seite des Flusses Kongo – nie bekommen. Seitdem ist er gelähmt. Den größten Teil seines Lebens hat er sich kriechend vorwärtsbewegt, mit den Händen voran den Körper nachziehend. Ein Leben am Boden. Als Bettler musste er mit seinen streichholzdünnen Beinen Mitleid erregen, um sich durchzuschlagen. Doch selbst diese kümmerliche Existenz war in Gefahr, als im Osten der DR Kongo erneut ein Bürgerkrieg ausbrach. Kajoriti nahm es auf sich, in das Nachbarland Uganda zu fliehen. Anders als die 600.000 weiteren Geflüchteten musste er kriechen. Gelegentlich nahm ihn ein gutmütiger Mopedfahrer oder ein Lkw ein Stück mit.
Bis in das Schicksal von Menschen wie dem 34-jährigen Schwerstbehinderten reichen die Folgen von Ukraine- und Gaza-Krieg, da es an Unterstützung für Afrika fehlt. Gleichzeitig steht Kajoriti für eine Geschichte von internationaler Freundschaft und Hilfe zwischen ugandischen und deutschen Rotary Clubs. Sie hat es ihm ermöglicht, heute aufrecht in einem dreirädrigen Rollstuhl zu sitzen, den er mit einer Handkurbel antreibt. Noch immer muss er für sich und seine Familie betteln, doch hat er Aussicht, den Beruf des Nähers zu lernen und Geld zu verdienen.

Das Flüchtlingslager Nakivale, in dem er lebt, sieht nicht aus wie ein Flüchtlingslager. Es gibt zwar ein Zentrum, in dem Neuankömmlinge registriert werden. Doch in der sanft geschwungenen Buschlandschaft im Süden Ugandas verlieren sich die Häuser der circa 200.000 Bewohner in der grünen Weite der Landschaft. Es ist mageres Land, das niemand wollte. Eine afrikanische Version vom Ende der Welt. Und wenn Rudolf Mengel („Nenn mich Rolf“, sagt er jedem, der ihm die Hand schüttelt), wenn also Rolf vom Rotary Club Ingelheim am Rhein aus Deutschland schließlich bei seinen Freunden in Nakivale eingetroffen ist, dann hat der 85-jährige Agrarwissenschaftler nicht nur
einen internationalen Flug von etwa zwölf Stunden hinter sich, sondern auch zehn Stunden Autofahrt, teils über Lehmpisten. In dieser Flüchtlingssiedlung ist der Rotaract Club Nakivale aktiv, mit dem der deutsche Rotarier zusammenarbeitet – die einzige Rotary-Organisation in einem Flüchtlingscamp, gegründet von Paul Mushaho, der 2016 nach Todesdrohungen ebenfalls aus dem Kongo floh.
Besondere Verbindung
Wie es zu der ungewöhnlichen Verbindung kam? Rolf Mengel lernte auf der RI Convention in Hamburg 2019 Paul Mushaho kennen. „Er hat den besten Vortrag von allen gehalten“, erinnert er sich. Und sie verstanden sich von Anfang an gut. Auch wie der IT-Experte Mushaho nach Hamburg kam, ist eine kleine Geschichte: Rotary International wurde auf ihn aufmerksam, nachdem er mit einem Imkerei-Plan an einem lokalen Innovationswettbewerb in Uganda teilgenommen hatte. Dort brachte das Projekt ihn in die Hauptstadt Kampala, wo er auf Rotary-Mitglieder traf. Die Begegnung führte zu der Idee, einen Rotaract Club im Flüchtlingslager Nakivale zu gründen. 2017 charterte der Club offiziell. Sein Ziel ist es, Geflüchtete als aktive Gestalter ihrer eigenen Zukunft zu stärken.

Die Geschichte dieser deutsch-ugandischen rotarischen Freundschaft hat viele Ebenen und findet vor dem Hintergrund bürgerkriegsähnlicher Zustände statt. Das Lager Nakivale, 1958 gegründet, liegt im Südwesten Ugandas in einem Mehrländereck. DR Kongo, Burundi, Ruanda und Tansania sind Nachbarn, und wenn es Unruhen gab, wurden Flüchtlinge in Nakivale untergebracht. So es die Verhältnisse in Uganda gestatteten. Eine ähnliche Rolle spielt im Nordwesten Ugandas das Rhino Camp. Seit 1980 kommen dort Menschen ebenfalls aus der DR Kongo, dem Südsudan und dem Sudan unter.
Bis zu 1,9 Millionen Menschen haben in Uganda Zuflucht gefunden. Das Land praktizierte eines der fortschrittlichsten Flüchtlingsmodelle weltweit. Geflüchtete erhielten Land, Bewegungsfreiheit, Zugang zu Arbeit, Bildung und Gesundheitsversorgung, teils im selben System wie die Bevölkerung. Nach zehn Jahren bekamen sie zudem die ugandische Staatsbürgerschaft. Finanziert wurde diese Politik durch die internationale Gemeinschaft, indem sie Nahrungsmittelhilfe, Wasser- und Gesundheitsversorgung garantierte – mit dem Hintergedanken, dass nicht nach Europa kommt, wer in Afrika ein Auskommen findet.
Diese Willkommenspolitik steht vor dem Scheitern. Das Modell Uganda funktioniert nicht mehr, weil die Kriege in der Ukraine und in Nahost die Kräfte von Vereinten Nationen (UN) und nationalen Regierungen binden. Hinzu kommt, dass die USA ihre humanitäre Hilfe über Nacht einstellten. In der Folge muss das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) in Afrika mit immer weniger Geld immer mehr Menschen versorgen. Besonders betroffen ist die Nahrungsmittelhilfe. Hinzu treten Wetterextreme. Sie vernichten Ernten auch in den Siedlungen und machen diese unerreichbar. Wieder sitzen die Menschen in der Falle. Fotos des UNHCR zeigen Schlammwüsten, die vorher Straßen waren.
„Es ist nur eine Frage der Zeit, bis aus dieser schweren Krise ein Desaster wird“, sagt Roland Hansen von Malteser International, der in der Region regelmäßig Hilfsprojekte der Kölner Organisation bereist. Er verweist auf eine Studie, wonach in der Mehrzahl Frauen und Kinder schutzlos in den völlig unterentwickelten Regionen leben. Woche für Woche kommen nach UNHCR-Angaben etwa 2500 weitere Flüchtlinge hinzu. Hauptgründe sind die brutalen Bürgerkriege in der DR Kongo sowie im Südsudan und im Sudan. Bis ins Detail dokumentieren die UN den Zustrom: Hauptsächlich sind es Alte und Mütter mit ihren halbwüchsigen Kindern, die doppelt gefährdet sind. Milizen könnten sie als Kämpfer zwangsrekrutieren, aber ebenso könnten sie Opfer gegnerischer Milizen werden, die künftige Kämpfer ausschalten wollen.
Kajoriti war wegen seiner Lähmung nicht in der Lage, sich – wie die meisten anderen Geflüchteten – ein eigenes Haus zu bauen. Schließlich fanden er und seine Familie notdürftigen Schutz in einer Ruine. Mithilfe des RC Ingelheim gelang es, der Familie eine neue Hütte bauen zu lassen. Doch in der Hauptsache geht es in der rotarischen Partnerschaft zwischen dem RC Ingelheim und dem Lager Nakivale darum, die strukturellen Lebensbedingungen der Flüchtlinge – und hier vor allem der Frauen – zu verbessern. Paul Mushaho sprüht vor Plänen: Schulungen in Landwirtschaft und Handwerk, Baumpflanzaktionen, die Gründung eines Frauenzentrums sowie die Verteilung von Decken und Matratzen an bedürftige Familien gehören dazu, aber auch Konflikttraining. Rotary macht hier den Unterschied aus zu der nur noch rudimentären Versorgung durch die internationale Gemeinschaft. Malteser International etwa muss sich auf den Aufbau von Trinkwassersystemen konzentrieren. 100.000 Menschen werden aktuell versorgt.
Ein besonderes Augenmerk liegt auf der mentalen Gesundheit der Kinder. Im Rahmen des Projekts Mindstrong wurden interaktive Online-Sitzungen organisiert, bei denen Jungen und Mädchen durch Geschichten und Zeichnungen ihre Gefühle ausdrücken lernen. Viele haben Gewalt, Vertreibung und den Tod von Familienangehörigen erlebt. Diese Sitzungen helfen ihnen, ein Gefühl von Gemeinschaft zu entwickeln.

Zuversicht
Auch behinderte Kinder werden in Nakivale nicht weggesperrt, wie das häufig in Afrika der Fall ist, sondern in eigens für die unwegsamen Lager konstruierten robusten Rollstühlen bewegt. Diese haben größere und breitere Rollen und sind so auf dem unebenen Grund manövrierbar. Dadurch sind ihre Mütter mobil und nicht mehr an ihre Hütte gebunden, berichtet Rolf Mengel. „Diese Rollstühle haben wir noch aus Kenia bezogen“, sagt Paul Mushaho. „Die nächsten werden wir selber bauen.“
Es sind solche Erlebnisse, die dem jungen und dem alten Rotarier Zuversicht geben. Jeden Abend sitzen die beiden zusammen, lassen ihre Tage im Camp Revue passieren und sprechen darüber, was sie besonders bewegt hat. Jüngst erst war Paul Mushaho zu Gast im Distrikt 1860 und hat bei Rolf Mengel gewohnt. Der verbindet große Hoffnungen mit einem Global Grant, einem Förderinstrument der Rotary Foundation für internationale nachhaltige und messbare Projekte. Dieses Projekt soll die Grundlage für die weitere Entwicklung im Camp sein. Zentral ist eine Getreidemühle. „Sie ist wichtig, denn sie nimmt den Frauen das mühselige Zerstampfen des Getreides ab“, erläutert Rolf Mengel und erinnert an Touristen-Fotos, die afrikanische Frauen zeigen, wie sie rhythmisch Körner zerstampfen – eine stupide Arbeit, die leicht von einer Maschine erledigt werden kann. Der Preis für das Mahlen beläuft sich zwar auf nur wenige Cent. Doch am Ende soll es so viel sein, dass sich die Mühle selbst trägt. Zu dem Projekt gehören auch eine Solaranlage sowie ein großer Tank, der von Regenwasser gespeist wird. Wo Wasser gezapft wird, tropft es. Deshalb ist hier ein Gemüsegarten geplant mit Kohl, Salat, Bohnen und regionalen Sorten. Rotaract wird landwirtschaftliche Kurse dazu geben, was Flüchtlinge auf ihren kleinen Feldern – jede Familie bekommt 30 mal 30 Meter – anbauen können, was gut wächst und wie man strategisch Starkregen begegnet, der bisher Saatgut und Keimlinge im Nu wegspülte.
Destabilisiertes Uganda
Umgerechnet 40.000 Euro umfasst dieser Global Grant. Eine Spende von 5000 Euro trug der Rotary Club Köln-Ville bei. Hier hatte der Autor dieses Beitrags über seine Besuche von Malteser-Projekten im Rhino-Flüchtlingscamp gesprochen. Dort bringen sich in der Mehrheit Flüchtlinge aus dem Südsudan in Sicherheit. Die Schilderung der Lebenssituation einer dort lebenden Mutter mit zwei halbwüchsigen Kindern führte zu den spontanen Spenden. „Wer Gewehre hat, hat die Macht“, hatte Elizabeth Nyachieng dem Autor berichtet. Sie war vor drei Jahren vor Gewalt, Rechtlosigkeit und dem aufziehenden Bürgerkrieg geflohen. Immer wieder brechen Kämpfe mit den „Dinka“ aus, die im Südsudan den Ton angeben und mit Salva Kiir den Präsidenten stellen. Im Camp gab es für sie nur noch ein felsiges Grundstück am Hang. Wenn es regnet, läuft Wasser durch die Hütte, in der die Familie auf der Erde schläft. An Wänden und Dachstreben hängen Kleidung und Taschen mit wenigen Habseligkeiten, auch zum Schutz vor Tieren. Das Leben dort ist trostlos. Für den Besuch hatte sich die stolze Frau, die Schmucknarben vom Volk der Nuer trägt, ein gutes Kleid beschafft. Eher nüchtern zählt sie auf, was Hilfswerke als weitverbreitete
Mängel nennen: dass sie wegen des felsigen Untergrunds keine Latrine graben kann, die gesundheitliche Versorgung am Boden liegt, das Krankheits- und Sterberisiko gestiegen ist.

Einige Hütten weiter kann man die Folgen mangelhafter Ernährung sowie behelfsmäßiger Unterbringung durchdeklinieren: Ein Säugling mit aufgetriebenem Bauch, der auf Durchfall und Parasiten schließen lässt; bei einem kleinen Mädchen weisen die rötlich schimmernden Haare auf Mangelernährung hin. Überall rasselnder Husten und verschleimte Nasen. Von Hütte zu Hütte begleiten den Besucher die Geräusche von Krankheit. In allen Unterkünften stößt man auf praktisch dieselbe Situation. Bis auf wenige Habseligkeiten sind die Hütten leer.
Die stark reduzierte Hilfe destabilisiert auch Uganda selbst. Politiker machen die Lage für Hunger und Mangelernährung verantwortlich und schreiben ihr auch Diebstähle sowie andere Gesetzesbrüche unter den Flüchtlingen zu. Von der EU fordern Minister mehr Unterstützung. Wer in Uganda versorgt ist, klopfe nicht an Europas Pforten, heißt es. Schließlich begann 2014 die große Flüchtlingswanderung, weil es an Essen mangelte.
Im Rhino Camp fehlt, was man in Nakivale spürt. Dort stecken der alte und der junge Rotarier die Köpfe zusammen und schmieden Pläne, wie das Leben von Menschen ein wenig besser werden kann. Wenn Paul auf die Frage, was
Rotary ihm bedeutet, mit „die ganze Welt“ antwortet, ist das nicht schwärmerisch. Es ist eher eine Tatsache. Rotary
steht hier für Hoffnung.

Autor Peter Pauls (links) aus dem RC Köln-Ville ist Journalist und Vorsitzender des Kölner Presseclubs. Vor allem als Korrespondent für deutschsprachige Tageszeitungen war er in Afrika unterwegs. Die Liebe zum Kontinent blieb. Auf dem Foto an seiner Seite ist Rolf Mengel (RC Ingelheim), dessen Projekte vom RC Köln-Ville unterstützt werden