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Der Pakt mit dem Teufel

Forum - Der Pakt mit dem Teufel
Jürgen Kesting © privat

Lassen sich Kunst und Politik in Zeiten des Kriegs voneinander trennen? Nein, meint Jürgen Kesting, denn hier geht es um einen Verrat an der Kultur.

01.05.2022

Mein ist alles! sprach das Gold;
Mein ist alles! sprach der Stahl.
Alles kauf' ich! sprach das Gold;
Alles nehm' ich! sprach der Stahl.

Der Autor dieses Kriegs-Poems ist Alexander Puschkin. Wenn wir heute nach Synonymen für Gold und Stahl suchen: Für Gold kämen Erdöl und Gas in Frage, für Gold und Stahl der Herr des Kreml. Alexander Puschkin, der russische Nationaldichter, schrieb 1831, angeregt von Nikolai Karamsins "Geschichte des russischen Staates", ein Versdrama über eine dramatische Episode der russischen Herrschaft: "Boris Godunow". Thema ist die auf einem Verbrechen ruhende Macht: die Usurpation des Zarenthrons durch "Boris Godunow" im Jahre 1598. Boris stand im Verdacht, durch die Ermordung des Dmitrij Iwanowitsch, des Sohnes von Zar Iwan IV., an die Macht gekommen zu sein. Gegen Boris  erhob sich, in der Zeit einer großen wirtschaftlichen Krise, 1605, ein Herausforderer, der sich für jenen Dmitrij ausgab. 


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Auf der Grundlage von Puschkins Szenenfolge schrieb Modest Mussorgski zwischen 1868 und 1869 die gleichnamige Oper; es ist die bedeutendste des 19. Jahrhunderts aus dem slawischen Kulturraum. Der Protagonist ist kein Held, sondern ein Gezeichneter. Als Opfer seines eigenen Tuns wird er zunehmend von Angst- und Wahnvorstellungen heimgesucht. In einer Schlüsselszene kurz vor seinem Ende trifft der Zar auf eine seltsame Figur: einen Gottesnarren. Dieser Jurodiwy, als außenseiterische, exzentrische, fanatische Figur aus der russischen Literatur seit Jahrhunderten bekannt, spricht bittere und böse Wahrheiten aus. Von der ihn umgebenden Menge verhöhnt, richtet er eine makabre Bitte an Boris:

Die Jungen tun mir Leid an. ... Laß sie abschlachten, wie du den jungen Zarewitsch abgeschlachtet hast."

Auf das Flehen des Boris, er möge für ihn beten, erwidert der Wahrsager mit einer bleichen, fahlen, greinenden, wie aus dem Jenseits hereindringenden  Stimme:

Nein, Boris, das darf ich nicht. Ich darf nicht beten für den Zar Herodes! Unsere Gottesmutter duldet's nicht. Fließet, fließet, bitterliche Tränen. Weine, weine, rechtgläubige Seele. Denn der Feind kommt bald, und das  Dunkel kommt, dunkle Dunkelheit, undurchsichtige Welt. Weh, o weh Rußland, wein‘, o weine, russisches Volks, du hungernd Volk.

Als die Oper in Salzburg herausgebracht wurde, zuerst 1994, dann 1997, zeigte das Bühnenbild ein Konzentrationslager mit Gefängniswänden, hinter deren Gittern das Volk eingepfercht war. Im Hintergrund dehnte sich in drei Reihen übereinander eine Portrait-Galerie mit Bildern von Zaren und Zarinnen, von Rasputin und Revolutionsführern, von Lenin und Stalin und Generalsekretären der KPdSU. dass auch Michail Gorbatschow dabei war, ließ sich als szenischer Hinweis verstehen, dass auch die Gegenwart schon Vergangenheit, also vom ewigen Kreislauf des Unheils erfaßt worden war. Der Zustand des Landes erinnerte an die sogenannte Smuta – an die Zeit schwerster wirtschaftlicher Not und politischer Wirren in den Jahren um 1600. Der Dirigent der Aufführung anno 1997 war der kurz zuvor zum Leiter des Mariinsky-Theaters ernannte Valery Gergijew. Für Putins Kultur-Politik hat er eine ähnliche Rolle übernommen wie Sergej Lawrow für die Außenpolitik; ich werde darauf zurückkommen.

Mussorgskis Oper verschaffte eigentlich nie den kulinarischen Genuß, der das Genre Oper ja oft verdächtig macht, sondern Beklemmung und Betroffenheit. Durch die Barbarei der Zeitläufte hat sie eine neue, beklemmende Aktualität gewonnen. Umso verwirrender, dass die Warschauer Oper kurz nach Beginn des Ukraine-Kriegs eine Neuinszenierung  aussetzte: nicht etwa wegen der dem Werk immanenten Kritik an verbrecherisch ausgeübter Macht, sondern weil die Oper schon dadurch, dass sie aus Russland kommt, stigmatisiert war. Das mag die Folge einer Idiosynkrasie sein, die auf den politischen Erfahrungen des Landes beruht – pauschal als "Russenangst" bezeichnet. Schon nach der Annexion der Krim gehörten polnische Autoren zu den ersten, die vor dem Großmachtwahn Putins warnten. Als Putin im Dezember 2021, kurz vor dem 30. Jahrestag des Zusammenbruchs der Sowjetunion von der größten geopolitischen Katastrophe sprach, wurden die Flammenzeichen an der Wand nicht enträtselt. Die von einer Gesinnungsethik beherschte deutsche Illusions-Politik hatte nicht sehen wollen, wie ein "lupenreiner Demokrat", das Gold verkörpernd, oligarchische Strukturen geschaffen hatte und, nun als Stahl, Bomben über Tschetschenien und Syrien werfen ließ, regionale Krieg begann, die Krim annektierte, Regime-Kritiker verfolgte, vergiftete und ermordete und, die Verfassung ändernd, zum autokratischen Herrscher wurde. Und die von ökonomischer Bedenkenlosigkeit getriebene Wirtschaft wollte nicht sehen, dass auch "Energiepartnerschaften" nicht unbedingt ein Bund für die Ewigkeit sein würden.

Welch böses Erwachen. Seit Beginn der von Putin inszenierten Blutkirmes gibt es, ganz so wie auf den Finanzmärkten, auch im Kulturbetrieb Sanktionen und Boykotts – nicht immer wohl überlegt, manche aus schierer Panik entstanden oder durch eine Phobie ausgelöst. Sie richten sich nicht nur gegen Parteigänger Putins, sondern erfassen reflexartig auch Schriftsteller und Künstler, weil sie durch die Untaten eines Autokraten stigmatisiert werden. Dass selbst ein Dichter mit einem russischen Namen zum Verdachtsfall werden konnte, zeigte sich an einer Universität in Mailand, wo ein Seminar über Dostojewski ausgesetzt werden sollte. Denis Yüzel, Präsident des deutschen PEN,  mahnte:

Der Feind heißt Putin, nicht Puschkin.

All das ließe sich als absurd abtun, aber es ist kennzeichnend für eine Zeit, in der Konflikte mit "alternativen Fakten" ausgefochten werden. So wie Trump hat auch Putin das nationale Gemütsleiden seines Volkes zum Vehikel seiner Größe gemacht. Im Alltag erleben wir allüberall den Hass von Beleidigten-Betroffenen-Empörten, die sich politisch oder ästhetisch als Scharfrichter aufspielen. Aus einem Museum soll ein Bild entfernt werden, weil das Leid einer schwarzen Figur, das von einer weißen Künstlerin gemalt ist, Ausbeutung sei; die Mohrenstraße soll ihren Namen wegen eines tabuisierten Wortes verlieren; die Grünenpolitikerin Bettina Jarasch kam an den Marterpfahl, weil sie sagte, dass sie als Kind Indianerhäuptling werden wollte. In einer Zeit, in der solches Pharisäertum als "wokeness" gilt, sollte man sich an die Einsicht erinnern, dass es "keine moralischen Phänomene gibt, sondern die nur moralische Ausdeutung von Phänomenen" (Nietzsche). 

Dieser Friede – dieser Krieg

Dies sind die Titel von zwei Aufsätzen, die Thomas Mann in den Jahren 1938 und 1940 schrieb. Es waren weltgeschichtliche Betrachtungen zum einen über den fauligen Frieden, in dem die Zerschlagung der Tschechoslowakei wie die Annexion Österreichs hingenommen worden war, zum anderen über die Selbstaufgabe von Demokratien, die zum Krieg  führte. Ob der damalige Diktator in Putin einen Wiedergänger gefunden hat, könnte als Geschichtsklitterung verstanden werden. Jedenfalls konnte Putin bilanzieren, dass all seine Mord- und Schandtaten hingenommen worden sind. Jetzt erleben wir fassungslos die Folgen: die Zerstörung der Vernunft in der Politik wie in der Kultur. Putin verdankt seine Machtfülle, wie der Historiker Gerd Koenen summierte, einer "sozialen und mentalen, historisch und sogar geographisch begründeten Leere seines Landes, dem sowohl die Gedankenfreiheit als auch das Bewusstsein für seine Geschichte gestohlen worden ist." 

Den Versuch einer Aufarbeitung der Geschichte hat es nicht gegeben. Mehr noch, er wurde unterbunden. In dem berühmt gewordenen Aufsatz "Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit" von Theodor Adorno heißt es:

Man will von der Vergangenheit loskommen: mit Recht, weil unter ihrem
Schatten gar nicht sich leben läßt, und weil des Schreckens kein Ende ist,
wenn immer nur wieder Schuld und Gewalt mit Schuld und Gewalt bezahlt
werden soll; mit Unrecht, weil die Vergangenheit, der man entrinnen möchte,
noch höchst lebendig ist.

Und jetzt erleben wir die zivilisatorische Katastrophe eines Braindrain: die panische Abwanderung von Schriftstellern, Künstlern und Intellektuellen, die schon in den ersten drei Wochen nach dem Beginn des Krieges  aus Russland flohen – so wie nach der Oktober-Revolution von 1917 Nabokov, Rachmaninov, Strawinsky, Horowitz, Diaghilev, Bunin, Chagall, Kandinsky und viele andere ihr Land verließen; so wie 1933 nach der Machtergreifung viele deutsche Dichter, Künstler und Wissenschaftler emigrierten. Der russische Schriftsteller und Journalist Mikhail Zygar schrieb jüngst:

Die Russen werden schon bald eine der "world's largest "divided nations" sein.

Zur Rolle der Künstler

Als Peter Gelb, der Manager der Metropolitan Oper ankündigte, sein Theater werde die Zusammenarbeit mit Sympathisanten des russischen Diktators beenden, sagte er:

It's terrible that artistic relationships, at least temporarily, are the collateral damage of these actions by Putin.

Kollateralschaden! Welch ein Wort! Nein, es geht keineswegs um "Begleitschäden", die nach der Maxime "Wandel durch Handel" morgen schon behoben werden könnten. Es geht um den Verrat an der Kultur – Kultur  im übergeordneten Sinne verstanden als Grundlage der Humanität; es geht weiter um die Zerstörung auch der nationalen Identität durch einen Revanchisten, der auch den Kulturbetrieb für seine Strategien genutzt hat. Die Totalität des westlichen Kulturbetriebs – also die Umwandlung in ein globalisiertes Entertainment – hat zu Kumpaneien und Verstrickungen geführt, die, wie die erwähnten "Energiepartschaften", ökonomische Abhängigkeiten zur Folge hatten. Und so wie in Politik und Wirtschaft von Wandel durch Handel gesprochen wurde, griff man in den höheren Sphären der Kultur auf vernutzten Floskeln aus dem Jargon der Eigentlichkeit zurück.

Musik ist eine Sprache der Herzen... Beethoven  macht uns Mut für das große Abenteuer, gemeinsam Mensch zu sein auf dieser Welt.

Das Resümee – Musik überwindet alle Grenzen – wurde zur großen Lüge.

Zu einem Opfer namens Wilhelm ...

Jedem Künstler müsste in Erinnerung sein, wie bitter die Folgen für viele Berühmtheiten des Musik- und Sprechtheaters waren, die in den Dreißigern des vorigen Jahrhunderts in das chorische "Gott sei mit unserem Führer" eingestimmt hatten. Besonders bitter etwa für Wilhelm Furtwängler. Er war kein Opportunist; er ist nicht in die Partei eingetreten; er hat zahlreichen jüdischen Musikern zumindest eine Zeitlang helfen können; er hat sich für Paul Hindemith, der als "atonaler Geräuschemacher" (Goebbels) beschimpft wurde, öffentlich eingesetzt. Aber seine Hoffnung, er könne eine Kultur, die Bach und Beethoven hervorgebracht hatte, bewahren, erwies sich naiv. So wie es, nach einem oft zitierten Wort, kein richtiges Leben im falschen gibt, kann ein Kunstwerk seiner Wahrheit beraubt werden. In einer Zeit der Unfreiheit eine Oper wie "Fidelio" zu spielen, deren Thema der Kampf gegen Tyrannei ist, war eine Pervertierung der Kunst – so wie heute eine Aufführung des "Boris" in Moskau absurd wäre.

Dass der Elfenbeinturm nicht als Schutzort taugt und auch der Weg in die innere Emigration zum Pakt mit dem Teufel gehörte, war allerdings eine Einsicht erst post festum. Gleichwohl, für die Manichäer politischer Schuldzuweisungen gilt Furtwängler bis heute als "The Devil's Music Maker". Es ist eine ausweglose Fatalität der "Gerechtigkeit":

Ihr lasst den Armen schuldig werden. Dann überlasst ihr ihn der Pein. Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.

Zu einem Täter namens Valery

Die Wiederkunft des Gleichen in Gestalt von Valery Gergijew? Hat auch er den Pakt mit dem Teufel geschlossen? Geboren wurde er in jener kalten Zeit, in der russischen Künstlern der Weg in die Musik-Metropolen durch den Eisernen Vorhang versperrt war. Wenn Emil Gilels oder David Oistrach Mitte der fünfziger Jahre im Westen spielen durften, mussten sie mit einer Entourage von Politfunktionären und Geheimdienstlern reisen. Die Debüts von Svjatoslav Richter in New York (1960) und in Deutschland (1971) wurden erst nach vielen Anfragen genehmigt. Als Individualist in einem nach-individualistischen Russland lebte Richter wie in einem Gefängnis, ebenso wie der Pianist Waldimir Aschkenasi, der sich nach lähmenden Kontroversen mit der Kulturbürokratie – eindringlich geschildert in seinem Buch "Beyond Frontiers" – 1963 entschied, in den Westen zu gehen. Dem Cellisten Mstislaw Rostropowitsch wurden Gastspiele im Westen untersagt, weil er Andreij Sachararow in sein Haus aufgenommen hatte, so dass er 1984  in den Westen ging. Wie kam es dazu, dass russische Künstler als Eroberer in den Westen gelangten?

Gergijew begann seine Karriere in jener verheißungsvollen Zeit, in der Michail Gorbatschow die Öffnung seines Landes versucht hatte. 1988 übernahm er die Leitung der Kirow-Oper, die 1992 wieder ihren ursprünglichen Namen zurückbekam: Mariinsky Theater. In dieser Zeit, nun unter der Ägide von Boris Jelzin, bildete sich eine neue Herrschaftsstruktur, in der Oligarchen eine immer größere Rolle  spielten, die sie auch unter der Ägide Putins behielten – nun aber in einem Exil, in dem sich diese Kleptokraten in einem Leben von Satrapen suhlen, als  "Sponsoren" den Sport korrumpieren oder sich auch in den Kulturbetrieb einmischen konnten. Die besten Künstler wurden nicht länger eingehegt, sondern wurden wie Sportler zum höheren Ruhme Russlands in die Welt geschickt – voran Gergijew, der zum Allgegenwärtigen wurde wie kein Dirigent je zuvor.

1995 wurde er Chefdirigent des Rotterdams Philharmonish Orkest. 1996 initiierte er dort das Gergijew-Festival. Er begründete auch das Weiße-Nächte-Festival in St. Petersburg und die Moskauer Osterfestspiele. Nachdem er 2002  mit dem Ensemble seines Mariinsky in New York triumphiert hatte – mit Sergei Prokofjews Oper "Krieg und Frieden" –, begann er Kooperationen mit der Londoner Covent Garden Opera, der Mailänder Scala, dem Pariser Théâtre du Chatelet. Zwischen 2007 und 2015 war er Chefdirigent des London Symphony Orchestra, seit 2014 der Münchner Philharmoniker. Nachdem er sich in Salzburg mit Mussorgskis "Boris" eingeführt hatte, dirgierte er allein in den folgenden zehn Jahren neun Produktionen – darunter von Werken, die in der Geschichte der Festspiele Fremdling gewesen waren: "Chowantschina", "Die unsichtbare Stadt Kitesch", "Pique Dame", "Krieg und Frieden" und "Mazeppa". Einige dieser Werke dirigierte er auch an der Met, an der Covent Garden Opera, an der Mailänder Scala, am Théatre du Chatelet.

Als sein für 530 Millionen Euro renoviertes Theater "Mariinsky II", wiedereröffnet wurde, erhielt er den anachronistisch gewordenen Titel "Held der Arbeit". Er hat das  Haus nicht nur zum  Hoftheater seines Herrn gemacht, sondern diesem auch nach dem Mund geredet: sei es, dass er die Annexion der Krim guthieß, sei es, dass er das repressive Verbot, in Gegenwart von Kindern über Homosexualität zu sprechen, hinnahm. Proteste gegen sein Engagement in München und die dortige Vertragsverlängerung 2018 – unterzeichnet von Bürgermeister Dieter Reiter ­– blieben Nebengeräusche unter der politischen Wahrnehmungsschwelle. In einem jüngst veröffentlichten Gesprächsbuch distanziert er sich allerdings von Putins Homophobie, betont aber, der Herr des Kreml habe die Kultur in ihrer Bedeutung für das russische Selbstverständnis wiederbelebt.

Sollte Gergijew auf seinem hektisch-maß- und rastlosen Weg seine eigenen Ziele so blind verfolgt haben, dass er nicht  abzuschätzen wusste, dass er nicht sein eigener Herr war? Dass er eine Figur auf einem kulturpolitischen Schachbrett war? Oder ein Tycoon mit einem Millionen-Salär und Villen in seinem Heimatland und Grundbesitz in Italien im Wert von über hundert Millionen Euro, die er nun verkaufen wollte? Offenbar kann auch ein Dirigent ein Oligarch sein, der zwar nicht wie die Kleptokraten seinen Landsleuten die Öl- und Gasgewinne gestohlen hat, sondern Profiteur der westlichen Kultur-Industrie ist. Auf  die Frage, ob er sich "als Poliker und Musiker zugleich" sehe, erwiderte er:

Nein, überhaupt nicht. Ich bin Musiker und sonst gar nichts.

Es ist die altbekannte, die fatale Antwort. dass sein Mentor zum Monster mutieren sollte, konnte er vermutlich nicht sehen und mag auch nicht in seinem Sinne gewesen sei. Jetzt aber, vor ein Rechtfertigungs-Tribunal gezerrt, blieb er stumm. Vielleicht musste er stumm bleiben, um seines Lebens sicher zu sein.

Caesar erobert Gallien, Gergijew die Welt –  wie hat er das getan und wann? Wer waren die Helfer, wer die Geldgeber beim Bau seines weitverzweigten Netzwerkes? Ob die Frage je zu beantworten sein wird? Eine andere Frage, wo ein zweiter Eroberer steht: Teodor Currentzis. Und wer hinter ihm steht? Welcher hiesige Veranstalter kann es sich leisten, für eine Aufführung von Verdis Requiem die Musiker und den in Soutanen gehüllten Chor von musicAeterna auf Tournee in die westeuropäischen  Metropolen zu  schicken? Welches Geld ermöglicht es ihm, im Westen die "Marktpreise" zu unterbieten. Es war das Geld der VTB, des zweitgrößten sowjetischen Kreditinstituts. Für eine Salzburger Aufführung von Mozarts "La clemenza di Tito" spendete die Bank die milde Gabe von einer Million Euro.

Sponsoren sind, das sollten wir wissen, keine Mäzene, denen es um die Kunst geht, sondern sie verfolgen Interessen. VTB ist für den  Dirigenten und sein Orchester das, was Gazprom für den FC Schalke war. Der amtierende Vorstandsvorsitzende Andrei L. Kostin wurde direkt per Erlass vom russischen Präsidenten ernannt. Currentzis ist ohne Frage ein brillanter Könner  – und ein nicht minder brillanter Selbstdarsteller, der seine Bewunderer mit vorgetäuschtem Tiefgang zu ködern weiß. Während sich heute das jüngere Publikum vom Typus des großen Maestro – des alten weißen Mannes – abwendet, lässt es sich von einem à la mode-Guru einlullen. Journalistische Proselyten empfangen seine frommen Botschaften wie Hostien: "Musik ist kein Beruf, sondern eine Botschaft", und  sie beten dieses pastorale Gefloskel als höhere Wahrheit nach. Das ist die perfekte Umformung alten idealistischen Wunschdenkens in Ideologie. Wessen Bote ist er? Und welche Botschaft bringt er, wenn er demnächst bei den Salzburger Festspielen Carl Orffs "De temporum fine comoedia" dirigiert?

...von der Macht der Bilder

Anna Netrebko gehört zu den viel-, den meistfotogafierten Frauen auf den Laufstegen des Kulturbetriebs. Es sind vieldeutige Bilder, durch die sie politisch ins Zwielicht geraten ist: Eines zeigt sie 2008 im Mariinsky Theater nach der Auszeichnung als "Volkskünstlerin" durch Putin, ein anderes sieben Jahre später nach der Wiedereröffnung des Theaters als "Mariinsky II"; und  als sie im Kreml ihren 50. Geburtstag feierte, verlas Dimitri Peskow einen Glückwunsch, in dem ihre "schillernde Individualität, ihre fabelhafte künstlerische Darstellungskraft, ihre in dieser Schönheit und diesem Klang seltene Stimme‘‘ gerühmt wurde. Der Laudator: Wladimir Putin.

Diesem kultur-rituellen Zeremoniell, das durch Blätter wie "Bunte" und "Gala" massentauglich gemacht wird, konnte sie sicher nicht entgehen, und wahrscheinlich wollte sie sich ihm auch nicht entziehen. Aber das Foto, das sie 2014 in der Ost-Ukraine mit dem Separatistenführer Oleh Zarjow – unter der Fahne "Neurussland" – zeigt, ließ sich nur als Bekenntnis verstehen. Ob sie so ahnungslos war, sich instrumentalisieren zu lassen, oder ob ihr bewusst war, wozu sie sich bekannte, steht dahin. In einem Statement, für das ihre Hand wohl  von Agenten, Beratern und Rechtsanwälten geführt worden, erklärte sie, dass ihr Herz gebrochen sei über das Leid und dass sie das Ende des Krieges herbeisehne. Doch fügte sie hinzu: "Ich bin keine politische Person." Ihre Kritiker bezeichnete sie als "human shit".

"Keine Expertin in politischen Fragen." Die armselige Apologie erinnert daran, dass weltgeschichtliche Ereignisse und Personen sich zwei Mal ereignen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Es ist vierzig Jahre her, dass die Sopranistin Elisabeth Schwarzkopf die fatalen Fehler ihrer Jugend nicht eingestehen konnte oder wollte,  sondern sich mit dem Titel von Toscas Gebet – "Vissi d'arte. Vissi d'amore" – meinte salvieren zu können.

"Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst", lautet eine Maxime Goethes, "und man verknüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst."  

Was die vielsagenden Bilder angeht: Es gibt deren viele, auf denen Funktionäre der Politik, der Wirtschaft und des Sports – Gerhard Schröder, Thomas Bach, Gianni Infantino – neben Putin stehen, der mit dem kühlen Lächeln oder auch dem eisig-gnadenlosen Blick der Verachtung den Kotau jubelnd-lachender Aufsteiger duldet, die sich in seiner Nähe für einen Moment sichtbar selig fühlen. Gianni Infantino bedankte sich nach der Fußball-WM bei Putin mit dem Satz: "Soweit ich das sehe, haben wir uns alle in Russland verliebt." Bach verneigte sich vor Putin wie vor dem chinesischen Präsidenten so demütig wie vor einem Thron. In Sippenhaft wurde bisher nicht genommen.

Es gibt viel, so unendlich viel, was an und in Russland zu lieben ist. Jetzt aber gibt es mehr, viel mehr, was zu fürchten ist. Was in den letzten beiden Jahren zu erleben war, ist eine Propaganda, die eine rationale Manipulation des Irrationalen betreibt: die geistige Entmündigung des Volkes durch Geschichtsfälschung.

Ich  zitiere  noch einmal den Historiker Gerd Koenen:

Die moralisch kaum ertragbaren und intellektuell kaum
auslotbaren Abgründe der eigenen Geschichte, vor denen
viele Bürger Rußlands wie vor einem Medusenhaupt
geflohen sind, hat Wladimir Putin, seit Jahren der oberste
Historiker seines Landes, in einem einzigen großen,
vaterländischen Narrativ einzuebnen und zu beerdigen versucht.

Wir erleben die Rückkehr zum Stalinismus, Putins Identifikation mit einem Diktator, dessen Vergangenheit in Russland nicht aufgearbeitet worden ist: nicht dessen millionenfachen Morde, auch nicht der Charakter eines Despoten, der selber die grässlichsten Methoden der Folter ersann; der enge Mitarbeiter belobigte und tags darauf erniedrigte oder verstieß. Putin hat dies, den Stalin spielend, wiederholt, als er Sergej Narischkin, den Chef der Auslandsspionage, öffentlich demütigte.

Der Schaden, der durch den Krieg angerichtet worden ist, lässt sich bei weitem noch nicht übersehen, auch nicht der immaterielle Schaden angeht. Der Putinismus ist wie ein Gift in das politische und gesellschaftliche Kapillar-System eingedrungen ist. Selbst ein militärischer Sieg kann für ihn aber nur zu einer politischen Niederlage werden, weil er ein Feind seines eigenen Volkes ist.

Entsetzlich daran, wie der Schriftsteller Wladimir Sorokin feststellte, dass das russische Volk und viele Unschuldige vom Putinismus infiziert und, oft ahnungs- und hilflos, schuldig gemacht werden. Die ganze Welt blutet aus den Wunden, die Putin geschlagen hat.  


Jürgen Kesting (RC Hamburg-Dammtor) ist Journalist, Musikkritiker und Autor. In den 1970er und 80er Jahren war er Autor und geschäftsführender Redakteur beim Stern, ehe er 1993 zur neu gegründeten Zeitung Die Woche wechselte. 1997 entwickelte er das Musikmagazin Amadeo.