Ukraine-Krieg
Deutschlands unzureichende Rolle
Russlands brutale Unterwerfungsoffensive gegen die Ukraine ist verbrecherisch nach Absicht und kriegsvölkerrechtswidrigen Methoden. Westliche Waffen sind entscheidend für die um ihre Existenz kämpfende Ukraine. Reicht Deutschlands Engagement diesbezüglich aus?
Deutschlands bisherige Lieferungen sind wichtig, aber ungenügend angesichts deutscher Möglichkeiten. Die wachsende Zahl der Argumente gegen die Abgabe gepanzerter Gefechtsfahrzeuge macht diese nicht glaubwürdiger. Deutsche Führung im Sinne von Initiative und aktiver Abstimmung ist erforderlich. Denn es steht auch Europas Sicherheit auf dem Spiel.
Karl Schlögel, eminenter deutscher Osteuropa-Historiker, schrieb vor Jahren: "Wir alle müssen wieder in die Schule gehen, denn wir alle haben uns angewöhnt, die Ukraine nur mit russischen Augen zu sehen". Viele machen sich nicht klar, dass die Ukraine eine eigenständige Nation ist, zwar erst seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 unabhängig als Staat, dessen Entwicklung nationaler Identität aber durch Russland seit dem 19. Jahrhundert unterdrückt wurde. Unbekannt scheint den meisten auch, dass die NATO 1997 nicht nur die NATO-Russland-Grundakte vereinbart und den NATO-Russland-Rat eingerichtet hat, sondern dass damit die Begründung einer "Distinct Partnership" mit diesem größten Land Europas und die Schaffung der NATO-Ukraine-Kommission einherging.
"Waffenstillstand jetzt"?
Trotz großer Hilfsbereitschaft für das durch den russischen Überfall in seiner Existenz bedrohte ukrainische Volk scheint dieses Geringschätzungssyndrom nicht überwunden. Ungeachtet aller Beteuerungen, die Ukrainer müssten selbst über ihr Schicksal entscheiden, gibt es viel "guten Rat": "Waffenstillstand sofort" – den doch Russland lediglich zur Umgruppierung und Verstärkung nutzen würde. "Verhandlungen jetzt" – zu denen die russische Führung, die keines ihrer Ziele aufgegeben hat, keinerlei Bereitschaft zeigt, solange sie sich auf der Siegerstraße fühlt. Verharmlosend ist die Phrase "zwei Kriegsgegner". Dabei handelt es sich um eine brutale Unterwerfungsoffensive Russlands gegen ein souveränes Nachbarland – verbrecherisch sowohl nach Absicht und Ziel (jus ad bellum) als auch nach den kriegsvölkerrechtswidrigen Methoden (ius in bello).
Ist die Aufforderung "nicht den Krieg verlängern!" etwa an die ukrainische Seite zu richten? Gönnerhaft sagte ein ehemaliger Bundeswehrgeneral in einer Talkshow zum ukrainischen Botschafter, Neutralität sei "doch auch nicht so schlimm". Ist sie aber sehr wohl zu russischen Bedingungen. "Ohne Gebietsabtretungen wird es für die Ukraine nicht abgehen" meinen manche.
Wer von denen macht sich klar, dass "abzutretende Gebiete" Regionen, Städte, Dörfer mit Millionen von Ukrainern sind, denen das wiederfahren wird, was sich in einigen von Russland besetzten Gebieten bereits gezeigt hat: Mord, Vergewaltigung, Folter, Absetzung und Verschwindenlassen von Kommunalpolitikern, Plünderungen, systematischer Abtransport von Kulturgut aus Museen, Zerstörung von Wohnhäusern, Schulen, Kindergärten, Krankenhäusern und Kirchen, Diebstahl oder Vernichtung der Weizenernte und Blockieren des Exports, Verminung von Ortschaften, Häusern und Feldern, Rachejustiz an Kriegsgefangenen – und die Verschleppung nach Russland von Millionen Ukrainern, darunter auch von zehntausenden Kindern zur Adoption durch Russen.
Halten diejenigen, die implizit ukrainische Kapitulation fordern, sich nicht vor Augen, was Putins Ziele "Entnazifizierung", "Entukrainisierung" und "Entmilitarisierung" wirklich bedeuten? Ist ihnen nicht bewusst, wie weitgehend über die Ukraine hinaus die Forderungen sind, die Putin Mitte Dezember an die NATO und die US-Regierung gerichtet hat? Es geht um die Zerstörung staatlicher Identität und die Auslöschung der Ukraine als Staat. Nach einer Niederwerfung der Ukraine würde er an deren Grenzen nicht haltmachen. Bei einem "Friedensschluss" unter "Abtretung" von Krim und Donbass würde der russische Despot, der noch fast jeden Vertrag gebrochen und ausländische Staatsmänner reihenweise belogen hat, bald auch in der Ukraine erneut gewaltsam seine umfänglicheren Ziele verfolgen. Neuerdings vergleicht sich Putin mit Peter dem Großen, der im Nordischen Krieg "russische Erde einsammelte". Die Analogie zu Iwan dem Schrecklichen liegt näher.
Putins Motivation
"Putin-Versteher" muss nicht mit Verständnis einhergehen, und Kritik an der aktuellen russischen Führung ist nicht Russophobie. Putins überwölbendes Ziel ist "Demokratie-Eindämmung" (democracy containment). Er hat keine Angst vor der NATO, deren strukturell und politisch defensiver Charakter ihm bewusst ist, sondern vor dem eigenen Volk, sofern es vom demokratischen Virus infiziert werden sollte. Er herrscht durch Furcht, aber auch aus Furcht. Bei den von Putin dauernd angeführten Sicherheitsinteressen handelt es sich eher um politisch-psychologische Befindlichkeiten: ein Demütigungskomplex als Verlierer im Kalten Krieg, sogenannter "imperialer Phantomschmerz", der Zerfall der Sowjetunion als "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" und die Frustration, vom Westen und besonders den USA nicht als ebenbürtig betrachtet zu werden. Sergei Karaganov behauptete vor Jahren, Russland sei in derselben Situation wie Deutschland nach dem Vertrag von Versailles. Das ist absurd, aber bezeichnend.
Daraus ergibt sich die revisionistische Absicht, die in den erwähnten Briefen an die NATO und die USA deutlich zum Ausdruck kam: Zurückdrehen der Entwicklung seit 1991, Anerkennung einer exklusiven russischen Einflusssphäre, tendenzielle Neubelebung der Breschnjew-Doktrin eingeschränkter Souveränität von Satellitenstaaten, Schutzverpflichtung für Russen "wo immer sie leben", deren Zahl durch "Passportisierung" ständig vergrößert wird.
Die Ukraine erscheint lediglich als eine Station zur Wiederherstellung des ehemals sowjetischen Machtbereichs. Das kommt einer Niederringung des "dekadenten" Europa und einem Umsturz der europäischen Sicherheitsordnung gleich. Dazu gehören die in der Pariser Charta 1990 bekräftigten Prinzipien der Helsinki-Schlussakte von 1975: souveräne Gleichheit der europäischen Staaten, territoriale Integrität, Unverletzlichkeit der Grenzen, friedliche Streitbeilegung, Freiheit der Bündniswahl. Alle diese Verpflichtungen hat die russische Führung eklatant verletzt.
Das einhergehende Leitbild der "russischen Welt" beruht auf einer verfälschten Geschichtsdeutung, in der die Ukraine kein Recht auf eigene Staatlichkeit hat. Bundeskanzler Scholz hat mit Recht festgestellt: Akzeptierte man die eigenmächtige Ableitung heute erwünschter Grenzen aus Geschichtsbüchern, so wären für die nächsten Jahrhunderte auf der ganzen Welt Kriege vorprogrammiert.
Putin hat aber schon jetzt in vielerlei Hinsicht das Gegenteil vom Angestrebten erreicht: Volk und Staat der Ukraine zusammengeschweißt, die NATO geeinigt und geradezu wiederbelebt, die russische Wirtschaft weiter ruiniert, Schweden und Finnland zur Aufgabe ihrer Neutralit.t und zum Eintritt in die NATO bewegt sowie die Verstärkung von deren Ostflanke und die Erhöhung der Verteidigungsausgaben bewirkt. Die Stimmen für "Waffenstillstand sofort" sind etwas ruhiger geworden angesichts der regionalen Erfolge ukrainischer Gegenangriffe – die fast noch erstaunlicher sind als der schon über ein halbes Jahr dauernde Widerstand der ukrainischen Streitkräfte gegen eine enorme Übermacht.
Militärischer Widerstand –Kriegswende?
Natürlich gibt es für nichts eine militärische "Lösung". Gegen den Furor des Putinschen Unterwerfungskriegs hilft aber neben den Sanktionen nur militärischer Widerstand. Seine Pläne müssen durchkreuzt werden, die russischen Truppen müssen zurückgedrängt werden und abziehen. Schon um für Verhandlungen die ukrainische Ausgangslage so günstig wie möglich zu gestalten, ist das nötig. Russlands Truppen sind lediglich in der Feuerkraft überlegen und – zynisch ausgedrückt – in der Brutalität der völlig regellosen Kriegführung.
Auf allen anderen Gebieten, wie der operativen Planung und Führung, taktischen Beweglichkeit, Initiative und Improvisation, Versorgung, Aufklärung, Kommunikation, dezentralen Führungsorganisation und vor allem Motivation, bieten sie ein überraschend klägliches Bild. Zum "Gefechtswert" gehört gemäß der Bundeswehrdoktrin eben mehr als "Kampfkraft". Amateure", heißt es, "reden von Truppen und Waffen, Profis von Logistik und Moral." Insofern hat sich Putin nicht nur verkalkuliert im Widerstandswillen des ukrainischen Volkes, der Einigkeit des Westens, der Konsequenz der Sanktionen, der militärischen und darüberhinausgehenden Unterstützung, sondern auch hinsichtlich der Fähigkeiten der eigenen Streitkräfte.
Seit der ersten Septemberhälfte 2022 scheint der ukrainische Überlebenskampf mit Erfolgen von Gegenoffensiven im Nordosten und im Süden sowie dem Zurückweichen russischer Truppen an einem Wendepunkt angelangt zu sein. Der für viele unerwartete Fortschritt beruht auf mehreren Faktoren; nicht zuletzt dem heldenhaften Einsatz der ukrainischen Streitkräfte, dem operativen Geschick und den an die Ukraine bisher schon gelieferten modernen Waffen aus vielen Ländern. Die verwunderlich lauten ukrainischen Ankündigungen einer großen Gegenoffensive im Raum Cherson hatten die russischen Streitkräfte veranlasst, ihre Truppen an der nordöstlichen Front abzuziehen und im Süden zu verstärken. Die ukrainische Führung identifizierte die geschwächten Abschnitte, vollführte erfolgreiche Gegenstöße, befreite etwa 400 Ortschaften und eroberte 6000 km. Gelände.
Viele russische Kräfte ergriffen regelrecht die Flucht unter Hinterlassung von Gefechtsfahrzeugen und Munition – sowie der Spuren weiterer Kriegsverbrechen beispielsweise in der Ortschaft Isjum. Doch ist hier vorsichtige Beurteilung geboten. Realistischerweise muss erkannt werden, dass auch die ukrainischen Streitkräfte große Verluste erleiden. Gleichwohl haben die Wiedergewinnung der Initiative und die raschen Erfolge Volk und Armee einen großen moralischen Schub gegeben Schrittweise gibt es weitere Fortschritte im Nordosten und auch im Süden.
Die Wiedergewinnung des Oblast Cherson bleibt aus verschiedenen Gründen besonders wichtig: Diese erste von Russland eroberte Großstadt ist das "Tor zur Krim" und der einzige russischen Brückenkopf westlich des Dnipro (Dnjepr). Der Nord-Krim-Kanal wird von hier beherrscht, die Region ist landwirtschaftlich bedeutsam. Ihre Rückgewinnung wird die Gefahr eines russischen Angriffs auf Odessa verringern. Die große Aufgabe wird weiterhin so sorgfältig vorbereitet wie bisher, vor allem durch nachhaltige Störung des russischen Nachschubs.
Auf russischer Seite sind schwere Planungs- und Führungsfehler festzustellen sowie gravierende Schwächen bei Ausbildung und Motivation der Truppen. Gegenmaßnahmen scheinen konfus, und am 17. September 2022 berichtete das Institute for the Study of War (ISW): "Die russischen Streitkräfte setzen sinnlose Offensivoperationen um Donezk und Bahmut fort, anstatt sich auf die Defensive gegen ukrainische Gegenangriffe zu verteidigen, die Raum gewinnen" (Aus dem Englischen übersetzt durch den Autor).
Russische Personalschwierigkeiten bestehen fort und führen sogar zur Rekrutierung von Strafgefangenen. Putins Verhältnis zum Militär scheint getrübt, und er baut zunehmend auf irreguläre Kräfte. Ob er über das Versagen auf russischer Seit unzureichend informiert ist oder sich nach Vogel Strauß-Art verhält, ist schwer zu sagen.
Jedenfalls gehen die asymmetrischen Reaktionen mit Schlägen gegen die Zivilbevölkerung und zivile Infrastruktur weiter. (zum Beispiel Elektrizitätswerk Charkiv oder Staudamm bei Krywyi Rih). In Donezk, Luhansk und auch in Cherson brach Panik aus, und mit fingierten "Referenden" forcierte man einen Anschluss an Russland. Damit versucht die russische Führung nun Offensive in Defensive umzumünzen: Die Rückeroberung ukrainischen Gebiets soll als "Angriff auf Russland" gelten.
Putin musste im Übrigen bei der Tagung der Shanghai Cooperation Organisation ziemlichen Unmut der chinesischen und indischen Führung über seinen Ukraine-Krieg zur Kenntnis nehmen. Ebenso kann ihm nicht gefallen, dass in dessen Schlagschatten kriegerische Konflikte zwischen Armenien und Aserbeidschan sowie Tadschikistan und Kirgistan wieder aufgeflammt sind.
In Russland beginnt sich Opposition gegen den Krieg zu regen, teilweise von Kräften, denen die Kriegführung nicht konsequent genug erscheint, aber auch aufgrund der konfusen und in der Rekrutierung recht willkürliche Teilmobilmachung. Trotzdem ist es wohl noch nicht so weit, dass sich der Kreml durch militärischen Misserfolg und anfänglichen Geländeverlust zu Verhandlungen nach ukrainischen Bedingungen einlassen würde.
Neben personeller Verstärkung braucht die Ukraine deshalb weiterhin in großen Mengen Rohr- und Raketenartillerie, Flugabwehrsysteme, Munition und weitere Versorgungsgüter – aber auch gepanzerte Gefechtsfahrzeuge.
Die Debatte in Deutschland
Dies wirft ein Schlaglicht auf die Haltung Deutschlands. Der Deutsche Bundestag hat am 28. April 2022 der Regierung den Auftrag zur Lieferung schwerer Waffen an die in ihrer Existenz bedrohten Ukraine erteilt. Diese war aber weitgehend auf Artillerie und Flugabwehr beschränkt, erfolgte zögerlich und blieb zahlenmäßig hinter den Anstrengungen vieler anderer Partner zurück. Fast fünf Monate später, am 21. September 2022, gab es einen neuen parlamentarischen Vorstoß. zur Lieferung auch dringend benötigter gepanzerter Gefechtsfahrzeuge. Der Antrag wurde in den Auswärtigen Ausschuss überwiesen. Jetzt besteht die Gelegenheit, die Zurückhaltung aufzugeben, aber auch die Bereitschaft?
Drei Aspekte des Themas erscheinen derzeit hierzulande beunruhigend: Erstens ein intellektuell-akademisches Infragestellen "westlicher Narrative" vom Ukraine-Krieg. Demzufolge seien die "Leitmedien" rasch mit Schuldzuweisungen bei der Hand, und abweichende Meinungen kämen nicht zu Gehör – wie beispielsweise jüngst die Autoren Richard David Precht und Harald Welzer in einem öffentlich-rechtlichen Sender am 29. September 2022 monierten. Dabei werden immer wieder eindeutige Wahrheiten über den Charakter des Krieges und die von Putin selbst deklarierten Ziele relativiert, obwohl die massenhaften Menschenrechtsverletzungen vielfach dokumentiert sind.
Zweitens die Sorgen der deutschen Bevölkerung um eigenen Wohlstand und Sozialstatus. Inflation und Energiepreise belasten private Haushalte und die Wirtschaft zunehmend. Wie viele Einschränkungen sind die Menschen bereit, aus Solidarit.t zur Ukraine in Kauf zu nehmen? Gibt es eine Ermüdung in der Unterstützungsbereitschaft? Putins Absichten gehen weit über die Ukraine hinaus und legen die Axt an die Wurzel der europäischen Sicherheitsordnung. Es ist eine erstrangige Führungsaufgabe, dies immer wieder zu verdeutlichen und klarzumachen: Sollte Putin siegen, wäre der Preis für alle um ein Vielfaches höher als das, was die deutsche Bevölkerung zurzeit "auszustehen" hat. Deshalb braucht nicht nur die Ukraine Durchhaltefähigkeit, sondern die deutsche Bevölkerung benötigt Durchhaltewillen.
Drittens wird die "angezogene Handbremse" bei der Unterstützung der Ukraine mit angreifbaren Argumenten begründet. Die wirksamen ukrainischen militärischen Vorstöße, das Bewusstsein, dass Gelände-Rückeroberung unabdingbar ist, und die Erkenntnis, dass nur mithilfe von Gefechtsfahrzeugen der Erfolg nachhaltig werden kann, haben zur Zuspitzung der seit Monaten geführten Diskussion geführt. Im Zentrum steht die Frage, ob die "schweren Waffen", die Deutschland nach dem seinerzeit von Regierungs- und Unionsfraktionen ausgedrückten Willen des Deutschen Bundestags liefern muss, Kampf- und Schützenpanzer umfassen sollen. Die den drei Ampel-Parteien angehörigen Vorsitzenden der Bundestagsausschüsse Auswärtiges, Verteidigung und Europa fordern dies seit langem. Allerdings zeigt sich hier eine Lebensweisheit: Wenn man etwas will, bringt man es zustande; will man es nicht, lassen sich endlos Gegenargumente finden. Deren wachsende Zahl macht sie nicht glaubwürdiger.
Alle drei Phänomene scheinen Charakter und Gefährlichkeit dieses Krieges zu verkennen und auch die jetzt bestehende Chance, die russischen Truppen von ukrainischem Gebiet schrittweise zu verdrängen, sofern die ukrainischen dafür ausreichend bewaffnet sind. Besonders das dritte Thema, der Grad der Unterstützung mit wirksamen Waffen, verdient genauere Betrachtung, nun da ein neuer Bundestagsbeschluss in Vorbereitung ist. Wirksame Waffen hätte die Ukraine schon vor vielen Monaten gebraucht, um das Vorrücken der russischen Truppen im Donbass zu stoppen.
Gleich nach der "Zeitenwende"-Rede von Olaf Scholz am 27. Februar 2022, aber spätestens nach dem 28. April, hätten die konkreten Konsequenzen gezogen worden müssen – was relativ zügig nur hinsichtlich der Panzer- und Fliegerfäuste geschah, die beim Zurückschlagen des Sturms auf Kiew wirksam waren. Ansonsten kaum Lieferungen kampfentscheidenden Geräts, Vorbehalte, ewige Diskussionen über leichte/schwere und defensive/offensive Waffen. Allmählich setzte, neben sehr vielen kleineren Unterstützungsleistungen, die Lieferung auch von Großgerät ein. Das waren Panzerhaubitzen 2000 – für die das Artillerieerfassungsradar COBRA allerdings erst Monate später geliefert wurde – Mehrfachraketenwerfer und Flugabwehrkanonenpanzer GEPARD.
Entscheidungen erfolgten zögernd, die Zahlen waren überschaubar. "Ringtausch" war eine gute Idee für die allerersten Kriegsmonate: sofortige Lieferung sowjetgefertigter Waffensysteme, ohne Ausbildung und große Vorbereitung nutzbar, und deutscher Systeme als Ersatz für die abgebenden Streitkräfte (Polen, Slowakei, Griechenland). Allerdings hat die deutsche Kompensation bisher in keinem Fall konkret stattgefunden, obwohl zum Beispiel Polen einen großen Teil seiner Kampfpanzer T 72 abgegeben hat.
Die Haltung der Bundesregierung
Der Bundeskanzler, der sich am 18. September 2022 im "Interview der Woche" des Deutschlandfunks ausführlich äußerte, bleibt bei seiner Ablehnung. Schon zu Zeiten des Außenministers Guido Westerwelle begann ein FAZ-Leitartikel mit dem Satz: "Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der deutschen Sicherheitspolitik, dass sie, wenn es ums Militärische geht, den Verbündeten immer als erstes verkündet, was ausgeschlossen ist". Bei dieser "Ausschließeritis" Einstellung ist Deutschland offenbar wieder angekommen.
In dem Interview berichtet der Kanzler aus seinem letzten Telefonat mit Präsident Putin ("im Ton freundlich geführt"), dieser bleibe bei seinem "Ziel, sich einen Teil des Nachbarterritoriums einzuverleiben". Das ist eine krasse Verharmlosung seiner Absichten. .Über die Motive des Kanzlers kann nur gemutmaßt werden: Einschüchterung durch Putin? Einfluss von SPD-Politikern? Kürzlich war der 40. Jahrestages des Sturzes von Bundeskanzler Helmut Schmidt, nicht zuletzt weil ihm seine eigene Partei wegen der Nachrüstung aufgrund des NATO-Doppelbeschlusses die Unterstützung entzogen hatte. Oder ist es der Wunsch, es mit Putin nicht ganz zu verderben? Im Sinne der Aussage von Präsident Macron, Putin dürfe nicht "gedemütigt" werden?
Verteidigungsministerin Christine Lambrecht interpretiert diplomatische Höflichkeit ihrer Kollegen aus der Ukraine und Litauen als Zustimmung zur deutschen Politik. Allerdings ist die Stimmung in Mittel- und Osteuropa eher gekennzeichnet durch den polnischen Vorwurf, beim "Ringtausch" getäuscht worden zu sein. Der lettische Verteidigungsminister Artis Pabriks äußerte ebenfalls schwindend geringes Vertrauen zu Deutschland. Man darf nicht unterschätzen, wie tief bei diesen Staaten die Verbitterung über die deutsche Russlandpolitik mindestens seit 2014 ist. Auch heute erscheint es noch unerklärlich, wie die Regierung Merkel mit dem Beharren auf der Nord Stream 2-Gaspipeline, ein Erbe von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder, soviel guten Willen und Vertrauen zerstören konnte.
Auf der Bundeswehrtagung Mitte September 2022 verkündete die Verteidigungsministerin die Lieferung von zwei weiteren Mehrfachraketenwerfern MARS mit 200 Raketen – knapp 17Werferserien – sowie von 50 gepanzerten Radfahrzeugen DINGO, bewaffnet mit MG, geeignet für Patrouillen, Aufklärung, Truppentransport und .ähnliches, aber nicht von großem Nutzen vorne im Angriff. Außerdem soll die Ukraine von Griechenland 40 sowjet- gefertigte BMP 1-Schützenpanzer bekommen, sobald Griechenland diese Zahl von SPz MARDER erhalten hat. Allerdings: Die Bundeswehr hat den BMP nach der Wiedervereinigung nicht im Bestand behalten, weil er wegen seiner Schwachstellen in Wirkung, Schutz, Sicherheit und Ergonomie für Bundewehrsoldaten nicht zumutbar schien. Um nicht selbst Schützenpanzer ins Kriegsgebiet liefern zu müssen, treten wir also den wirksamen MARDER an Griechenland ab, damit diese den geringerwertigen BMP der kriegführenden Ukraine geben.
Deutsche Vorbehalte gegen die Lieferung von Kampf- und Schützenpanzern
Zwei Tage nach Beginn der Invasion der Ukraine wurden die bis dahin gängigen grundsätzlichen und während der russischen Angriffsvorbereitungen eisern beibehaltenen Vorbehalte gegen deutsche Waffenlieferungen abgeräumt. Die "Zeitenwende"-Rede brachte insofern eine 180-Grad-Wendung, was in der deutschen Bevölkerung große Unterstützung fand. Jetzt verdienen aber die vor allem seitens des Bundeskanzlers benutzten Argumente gegen Panzerlieferungen sorgfältige Betrachtung.
"Deutschland liefert sehr, sehr viel": Mit der mantraartigen Wiederholung dieser Feststellung vermittelt der Kanzler der Öffentlichkeit ein unzutreffendes Bild. In Vilnius sagte er am 7. Juni 2022 sogar, niemand liefere der Ukraine Waffen in dem Maße wie Deutschland, während eine Statistik vom selben Tag Deutschland weit hinter den USA, dem Vereinigte Königreich, Polen, Kanada, sogar Estland und Lettland zeigte (FAZ, 22.06.2022).
Auch wenn die Verteidigungsministerin am 12. September 2022 bei der DGAP meinte, sie halte "nichts von solchen Rankings", liefert der "Ukraine Support Tracker" des Kieler Instituts für Weltwirtschaft fortlaufend einen objektiven Vergleich. Der Kanzler jedenfalls war im DLF-Interview immer noch der Meinung "Wir sind mittlerweile, was die militärische Unterstützung betrifft, ganz vorne an." Übertrieben war auch, was Scholz dort zu den Angriffsfortschritten der ukrainischen Streitkräfte ausführte: "Gerade die Waffen, die wir zur Verfügung gestellt haben, haben den Unterschied gemacht und die jetzigen Erfolge, die die Ukraine verzeichnet, auch ermöglicht."
Sicher haben sie dazu beigetragen, aber schon zahlenmäßig in geringerem Ma. als die von anderen Staaten gelieferten. Nicht nachvollziehbar ist auch die Interview-Aussage, dass die deutsche Entscheidung für Waffenlieferungen viele andere europäische Länder erst dazu veranlasst habe, dies ebenfalls zu tun (Deutschlandfunk, 18.09.2022).
Desgleichen muss bei der langen BMVg-Liste "Militärische Unterstützungsleistungen für die Ukraine" unterschieden werden, was bereits geliefert wurde und welche wichtigen Geräte – teilweise wegen der zögerlichen, späten Entscheidungen – noch in Teil 2 stehen ("In Vorbereitung/Durchführung"). Auf die Aussage, dass Deutschland sehr viel liefere, kann nur zurückgefragt werden: Genug? Zeitgerecht entschieden? Entsprechend den Notwendigkeiten? Gemäß unseren Möglichkeiten?
Nicht Bundeswehrbestände schmälern ist ein nicht von der Hand zu weisender Gesichtspunkt. Allerdings könnte die Bundeswehr beispielweise beim Transportpanzer FUCHS, bei dem es sich um ein auslaufendes Modell handelt, eine gewisse Zahl entbehren. Und bei den gegenwärtig so kontroversen 88 Kampfpanzern LEOPARD und 100 Schützenpanzern MARDER geht es nicht um Bundeswehrbestände, sondern um bei der Industrie vorhandene und teilweise bereits eigeninitiativ hergerichtete Kampffahrzeuge, für welche seit Monaten die Ausfuhrgenehmigungen versagt werden.
NATO-Aufträge nicht beeinträchtigen: Das ist unbestritten für die Aufträge an der NATO-Ostflanke und im Zusammenhang mit der NATO Response Force. Aber der NATO-Generalsekretär antwortete kürzlich auf eine entsprechende Frage, er halte eine Niederlage der Ukraine für gefährlicher als unter Plan gefüllte Waffenlager in NATO-Staaten. Das war ein deutlicher Ausdruck von Zweifeln an deutschen Argumenten. "Indem wir dafür sorgen, dass Russland in der Ukraine nicht gewinnt, erhöhen wir auch unsere eigene Sicherheit und stärken das Bündnis", sagte er bei einer Pressekonferenz am 9. September 2022.
Komplexität der Waffensysteme/Ausbildungszeit: Wären manche Entscheidungen viel früher getroffen worden, hätten auch Ausbildung und Munitionsbeschaffung früher erfolgen können. Auch sollten die Erfahrung der ukrainischen Soldaten und ihre Flexibilität in der Aneignung verschiedenster Waffensysteme nicht unterschätzt werden. Die Ausbildung ist in Wochen zu bewältigen und dauert nicht Jahre, wie bisweilen behauptet wird – sogar kürzlich von einem ehemaligen Bundeswehrgeneral –, was zögerliche Politiker gern als Argument aufgreifen. Wie hätte die Bundeswehr denn sonst früher mit Wehrpflichtigen die Kampfbataillone bewegt und beübt? MARDER und LEOPARD 1 sind übrigens nicht "modernste westliche Technik", sondern circa 50 Jahre alt. Da der Krieg nicht so rasch zu Ende sein wird, ist es immer noch nicht zu spät, endlich mit der Ausbildung ukrainischer Besatzungen zu beginnen, positiv über die Freigabe der Panzerfahrzeuge zu entscheiden und diese alle in Schuss zu bringen. Auch im Frühjahr, nach der bald beginnenden Schlammperiode, werden ukrainische Rückeroberungen weitergehen.
Keine deutschen Alleingänge/Abstimmung mit anderen: Das ist natürlich wichtig, keiner will deutsches "Vorpreschen". Aber Abstimmung muss nicht heißen, stets auf die anderen zu warten, sondern sollte deutsche Initiative und Vorschl.ge bedeuten. Ministerin Lambrecht proklamiert doch eine deutsche Führungsrolle im Militärischen. Statt des Hinweises, dass andere dieses oder jenes ja auch nicht liefern, wäre eine Ansage Deutschlands im Ramstein-Abstimmungsformat vorstellbar: Wir wären bereit, der Ukraine dringend benötigte Panzer und Schützenpanzer zu geben, wenn andere mitziehen, denn natürlich wollen wir nicht die einzigen sein.
Denkbar wäre auch eine europäische Initiative in Anlehnung an den kürzlich vom ECFR Berlin veröffentlichten Vorschlag: 2000 KPz LEOPARD in 13 NATO-Staaten plus denen in Depots als Basis für ein gemeinsames Programm. Allerdings wird ein prägnanter Aspekt in der Haltung des Bundeskanzlers deutlich: Er scheint sogenannte Steilfeuerwaffen (Artillerie, Flugabwehr) für weniger "provozierend" zu halten als Flachfeuerwaffen wie Kampf- und Schützenpanzer, die auf Sichtweite feuern. Das ist eine sehr artifizielle Unterscheidung– zumal der Flugabwehrkanonenpanzer GEPARD mit besonderer Munition auch im Erdkampf einsetzbar ist. Sie kommt ebenfalls in der neuerdings von Scholz propagierten Idee einer "Arbeitsteilung" zum Ausdruck, bei der sich Deutschland sich auf Artillerie und Flugabwehr spezialisieren würde.
Doch wirkt auch das eher wie Ausweichen und Beiseitetreten. USA liefern auch keine Kampfpanzer: Eine Initiative, wie sie der ECFR vorschlägt, könnte auch bei diesem Argument weiterhelfen. Präsident Biden scheint in der Tat vorsichtig – aber wohl weniger aus Angst vor Putins Drohungen, sondern weil er innenpolitisch, im Wahljahr, den Vorwurf fürchtet, die USA täten für die Ukraine im Vergleich mit den meisten Europäern übermäßig viel. Es scheint wie eine Catch-22-Situation: Scholz will Kampfpanzer nur liefern, wenn die USA das auch tun; Biden will innenpolitisch auf beherzteres Vorgehen der Europäer und besonders Deutschlands verweisen können. Seitens Deutschlands ist hier "aktive Abstimmung" erforderlich. Übrigens würde die Lieferung der immer wieder erwähnten US-Kampfpanzer ABRAMS auch logistische Probleme mit dem Transport dieses 60-Tonnen-Geräts und vor allem seinem Gasturbinenmotor bereiten.
Eskalationsfurcht ("nicht Kriegspartei werden"): Der Bundeskanzler wurde am 7. Juli 2022 aus dem Auswärtigen Ausschuss mit den Worten zitiert, die Lieferung von Schützenpanzern würde eine "furchtbare Eskalation" zur Folge haben. Indes sollte Deutschland "Selbstabschreckung" vermeiden, der zunehmend frustrierte russische Präsident stößt völlig leere Drohungen aus. Die Unterstützung der Ukraine mit Waffensystemen macht einen nicht zu einer "Kriegspartei", auch nicht ab einem bestimmten Kaliber. Von den periodischen russischen Drohungen mit "roten Linien" oder gar mit Atomschlägen sollte man sich nicht einschüchtern lassen.
Atomwaffen sind heutzutage nicht mehr zur Kriegführung geeignet, sondern nur noch zur Abschreckung – und zur Erpressung gegenüber dem, der sich erpressen lässt. Es hat bisher keinerlei Veränderung der russischen nuclear posture gegeben. Also: Nerven behalten, auch gegenüber der jüngsten Befürchtung mancher, "Referenden" in Cherson, Luhansk und Donezk würden diese Gebiet zum Teil Russlands machen und damit den Einsatz von Atomwaffen zu ihrem Schutz rechtfertigen.
Präsident Putin hat für keinen seiner Aggressions-und Eskalationsschritte irgendeiner "Provokation" bedurft. Dass nun Präsident Biden auf eine Reporterfrage Putin ausdrücklich vor dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen warnte ("Don’t do it!"), hat nichts mit Furcht zu tun, sondern ist die berechtigte Warnung, dass so etwas den Charakter des Krieges völlig ändern und Russland sowie Putin selbst am meisten schaden würde.
An die Bundesregierung
Es bleibt dabei: Damit die derzeitigen erfolgreichen militärischen Vorstöße der Ukraine tatsächlich zur entscheidenden Wende im russischen Unterwerfungskrieg werden, braucht diese zwar auch immer mehr Rohr- und Raketenartillerie, Flugabwehrsysteme sowie Munition und vieles andere – aber vor allem dringend und so schnell wie möglich Kampf-, Schützen, Rad- und Brückenlegepanzer.
Sollte die Ukraine wegen Mangels an Gefechtsfahrzeugen scheitern, hätte Deutschland eine Mitschuld auf sich geladen. Die Leitglosse der FAZ vom 19. September 2022 macht nachdenklich: "Die Rücksicht auf Putin ist größer als die Hilfsbereitschaft für das geschundene Opfer".
Eine eindringliche Frage an Deutschland: Wenn die Ukraine obsiegt, will Deutschland dann unter denen sein, die das maßgeblich mitbewirkt haben? Beziehungsweise: Wenn sie unterliegt und als eigenständiges europäisches Land ausgelöscht und zerstückelt wird, will sich Deutschland sagen müssen, dass die Unterstützung des Landes ungenügend, weil halbherzig, war – dass nicht alles getan wurde, was möglich gewesen w.re? Da steht der Ruf Deutschlands mit auf dem Spiel. Noch einmal: Würde sich Putin durchsetzen, wären die Kosten für alle viel höher als das, was wir zu Zeit an wirtschaftlicher Belastung "auszustehen" haben.
Klaus Wittmann
Dr. Klaus Wittmann war 42 Jahre bei der Bundeswehr. Er ist Brigadegeneral a.D., Lehrbeauftragter für Zeitgeschichte an der Universität Potsdam, bis 2020 war er Senior Fellow des Aspen Institute Deutschland.