Titelthema
"Die Fremde ist uns vertraut"
Ein Interview mit Brigitte Bornemann, Bundesvorsitzende des Bessarabiendeutschen Vereins in Stuttgart über das Nachleben der Bessarabiendeutschen
Im Jahr 1812 lud der russische Zar Alexander I. deutsche Siedler ein, sich am Schwarzen Meer niederzulassen, und versprach ihnen Land und Freiheitsrechte. Die Einwanderer stammten überwiegend aus Südwestdeutschland und aus Preußen. Im Laufe ihrer 125-jährigen Siedlungsgeschichte entwickelten die Deutschen hier ein prosperierendes Gemeinwesen, das durch lokale Autonomie und eine religiös-pietistisch grundierte Ethik geprägt war. Wie muss man sich das Leben in einer solchen deutschen Siedlung vorstellen?
Es gab das Fürsorgekomitee, eine Art Sonderverwaltung des russischen Staates, der dafür gesorgt hat, dass den neuen Siedlern Recht geschah und dass sie sich ordentlich verhielten. Zu Beginn gab es Korruption und Missbrauch, wie es im riesigen Zarenreich nicht anders zu erwarten war, aber unter dem Einfluss dieser Behörde kam es doch zu einem geplanten und geordneten Ansiedlungsprozess. Der begann allerdings nicht auf dem Gebiet des heutigen Moldawien, sondern im Budschak, dem südwestlichen Zipfel der Ukraine. Als es den ersten Siedlern hier nach den ersten 20 oder 25 Jahren gut ging und sie viele Kinder bekamen, zogen manche von ihnen weiter. Tochterkolonien im heutigen Moldawien entstanden seit den 1880er Jahren.
Was hat diese ersten Siedler angelockt?
Die Aussicht auf ein Stück Land und auf Selbstverwaltung hat die Auswanderung stark begünstigt. Die Siedler bekamen ein Stück Land von 60 Desjatinen (mehr als 60 Hektar, d. Red.) pro Familie, mit dem man auskömmlich wirtschaften konnte. Das war für Bauern aus Württemberg, wo Realteilung herrschte und es immer kleinere Grundstücke gab, enorm. Das war ein kleiner Reichtum. Die Aufgabe war, das Land zu erschließen, die Steppe zu erschließen. Aber in der ersten Zeit gab es eine hohe Sterblichkeit, weil die Arbeit hart war und alles erst aufgebaut werden musste.
Attraktiv war auch das Versprechen, nach den eigenen Regeln leben zu dürfen. Viele kamen wegen der religiösen Freiheit, das war den Menschen mit das Wichtigste. Das waren die Pietisten. Sie errichteten gleich als erstes eine Schule und ein Bethaus. In den 1840er Jahren wurden schon die ersten Kirchen aus Stein gebaut. Zu den protestantischen Grundwerten gehörte der Schulunterricht, Lesen und Schreiben zu lernen, was ja ein Ergebnis der Reformation war. Selbst die Bibel zu lesen, um sich selbst ein Urteil bilden zu können. Damit hatten die Deutschen einen Vorteil vor den anderen Völkerschaften, die dort lebten. Die Deutschen wurden auch als Vorbilder selbstständiger Landwirtschaft gesehen, was im russischen Zarenreich nicht üblich war. Da gab es ja noch die Leibeigenschaft. Aber hier wurden selbstständige Landwirte ins Land geholt, die nach Anfangsschwierigkeiten ein, wenn auch kurzes, goldenes Zeitalter erlebten. Zur Selbstverwaltung gehörte auch die niedere Gerichtsbarkeit. Diebstähle und kleinere Gewalttaten durften sie selbst aburteilen. Den Dörfern stand ein Schulz vor, der alle drei Jahre gewählt wurde. Es entwickelte sich also eine echte dörfliche Demokratie. Mit den Verwaltungsreformen in den 1870er Jahren wurden diese Kolonien dann ins russische Reich überführt und verloren immer mehr Sonderrechte.
Bessarabien war multiethnisch geprägt, die Bessarabiendeutschen lebten neben Moldauern, Russen, Ukrainern, Bulgaren, Juden und anderen Gruppen. Wie hat das funktioniert?
Nun, der Kontakt war gar nicht so eng. Jede Gruppe lebte weitgehend autark. Man kam zwar auf dem Markt zusammen und trieb Handel, ging danach aber wieder zurück ins Dorf. Die anderen Ethnien waren auch in geschlossenen Dörfern angesiedelt. Einen Unterschied machten die Juden, die nicht in eigenen Dörfern, sondern in den Dörfern unterschiedlicher Ethnien zur Miete lebten. Es gab russische Knechte und rumänisch-moldawische Bauarbeiter, die dann am Abend aber wieder in ihre Dörfer zurückgingen.
Die Zahl der Siedler wuchs von 9000 in den Anfangsjahren auf über 93.000 bis 1940, als die Bessarabiendeutschen in Folge des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes ausgesiedelt und 1941/42 größtenteils im besetzten Polen angesiedelt wurden. Anfang 1945 mussten sie flüchten und sich im geteilten Deutschland eine neue Existenz schaffen. Was wurde aus den Bessarabiendeutschen?
Hier im Bessarabiendeutschen Verein haben wir heute noch 2000 Mitglieder, das können wir also ganz gut überblicken. Die haben sich schnell und gut integriert. Die Nachfahren der Bessarabiendeutschen sind heute zu 40 Prozent im Norden und zu rund 60 Prozent in der Region Stuttgart angesiedelt. Als die Bessaraber nach Deutschland kamen, waren sie überwiegend Landwirte und Handwerker. Es gab nur eine sehr kleine Zahl an Intellektuellen. Das waren Lehrer und Pastoren. In meiner Familie sind die jungen Männer, die mit Mitte 20 aus dem Krieg kamen, auf den Bau gegangen und haben sich bald wieder selbstständig gemacht. Die Tendenz der freien Bauern zur Selbstständigkeit war doch sehr ausgeprägt. Und Bildung war wichtig. Heute haben wir viele Unternehmer und Akademiker in unseren Reihen.
Wie ist Ihr persönlicher Bezug zu Bessarabien?
Meine Mutter wurde 1927 im heutigen Moldawien geboren, in Fürstenfeld, 60 Kilometer vor Chisinau. Sie hat als 13-Jährige die Umsiedlung mitgemacht, als 18-Jährige die Flucht. Sie hat in Deutschland einen jungen Lehrer geheiratet, einen Bornemann, ich trage den Namen meines Vaters. Aufgewachsen bin ich bei meiner Großmutter in einer bessarabischen Großfamilie in Warwe bei Bremen, was ein Abbild von Fürstenfeld war. Dort haben sich die Nachbarn aus Bessarabien wieder zusammengefunden. Von anderen hört man, dass sie als Flüchtlinge diskriminiert wurden. Das haben wir nicht erlebt, aber wir waren dort auch in der Mehrheit – auch in der Schule. Leider hat sich dieser Ort wirtschaftlich nicht halten können, viele sind bald wieder weggezogen. Aber andere Bessaraberdörfer sind groß geworden, Neu Wulmstorf bei Hamburg, Borgfeld bei Bremen zum Beispiel.
Sie kommen aus Norddeutschland, aber arbeiten in Stuttgart …
… und lebe mit meinem Mann in München. Die Bessaraber reisen viel. Die Fremde ist uns vertraut.
Ihr letzter Satz verrät viel. Da schwingen Wehmut wegen der Umsiedlung und eine Sehnsucht nach Heimat mit. Andererseits zeigt er, wie anpassungsfähig Bessaraber sind.
Ja, wenn ein paar Bedingungen erfüllt sind, zum Beispiel die Gemeinschaft. Viele Bessaraber haben ihre alten Nachbarn wieder gesucht, mit denen sie sehr verbunden waren. Das Leben in der Steppe mit allen Gefahren, die die Natur bereithält, hat zusammengeschweißt. Wir Bessaraber haben nicht vergessen, wo wir herkommen. Wir haben in der Gemeinschaft etwas erfahren, was man in der heutigen individualistischen Gesellschaft nicht mehr erfährt. Dazu gehören gemeinsame Werte, füreinander einstehen. Gastfreundschaft auch.
Wenn man sich auf der Webseite des Bessarabiendeutschen Vereins umschaut, erfährt man, dass Sie sich für den Erhalt der Tradition einsetzen. Was ist das für eine Tradition, wie sieht das Nachleben der Bessaraber aus?
Es sind nicht in erster Linie die Trachtengruppen, sondern ist vor allem das bessarabische Essen. Und es ist das geistliche Wort zum Tage, für das wir uns Zeit nehmen, wenn wir eine Sitzung haben. Also die kirchliche Bindung ist noch da. Zum pietistischen Erbe gehört auch ein Streben nach Integrität. Denken, reden und handeln soll auf einer Linie sein. Das hat viel mit Selbsterforschung zu tun, sich selbst Rechenschaft abzulegen über die eigenen Motive und Bestrebungen. Einmal im Jahr haben wir ein Wochenendseminar, wo Themen aus unserer Geschichte besprochen werden. Neben dem historischen Vortrag steht immer ein Teil: Wie war das in meiner Familie, wie haben es meine Eltern erzählt, wie habe ich das zu Hause erfahren? Das hat einen nahezu psychotherapeutischen Effekt. Da werden einem auf einmal Zusammenhänge klar und man versteht, warum sich der Vater oder Onkel so komisch verhalten hat. Kleine Traumata werden durchsichtig und verständlich, weil viele andere dabei sind, die die gleiche Geschichte vereint.
Geben sie mal ein Beispiel.
In diesem Jahr sprechen wir in Bad Sachsa darüber, wie wir es erlebt haben, auf den Höfen der Polen angesiedelt zu werden. Und wie es die Polen wahrgenommen haben. Es geht also darum, Klarheit über die eigene Geschichte zu gewinnen, was die eigene Person geprägt hat.
Das Trauma der Vertreibung ist noch immer tief in der Bessaraberseele verwurzelt.
Ja, das schweißt uns zusammen. Weil es da andere Menschen gibt, bei denen man den Gleichklang spürt, weil sie es auch erlebt haben. Heute spricht man von einer transgenerationalen Weitergabe von Traumata.
Wie wollen Sie dieses Erbe bewahren und wie gut kann das überhaupt gelingen, wenn es kaum noch Menschen gibt, die einen persönlichen Bezug zu Bessarabien haben. Genügen die Erzählungen der Alten?
Die Erzählungen der Alten gibt’s bald nicht mehr, aber wir zeichnen sie auf. Wir haben Erzählungen, Bücher, Bilder und wir haben unser Museum. Unsere Ältesten, die Bessarabien als Kinder erlebt haben, sind um 90 Jahre alt. Im Verein aktiv sind viele 70- bis 85-Jährige, sie kennen die Geschichten noch von den direkten Erzählungen ihrer Eltern. Damals wurde viel am Familientisch erzählt, Fernsehen gab es noch nicht. Durch diese direkte Erzählung werden Geschichten erlebbarer, greifbarer, plastischer. Manches zeichnen wir auf in Video-Interviews und zeigen es in unserem Museum.
Und dann gibt es noch die Reisen.
Das ist durch Corona unterbrochen worden und jetzt durch den Krieg unmöglich. Aber seit 1991 sind wir zu Tausenden dorthin gereist und haben die Dörfer besucht, die unsere Eltern aufgebaut haben. Das macht was mit einem, wenn man da an dem Ort steht, wo die Mutter geboren wurde – wie es aussieht, wie es in Schuss gehalten wird oder auch nicht. Gerade dort, wo unser Hof stand, war gerodet worden, alles abgerissen. Ich habe mir eine Mirabelle gepflückt von einem Baum, der neben dem Grundstück stand. Das gesehen zu haben schließt eine Lücke. Die Menschen, die dort heute leben, nutzen immer noch unsere Häuser, Neubau gibt es wenig. Und als klar war, dass wir die Häuser nicht zurückhaben wollen, waren die Menschen sehr gastfreundlich. Es haben sich sogar Freundschaften entwickelt. Aber die Dörfer leiden unter der Landflucht und wir versuchen, zu unterstützen, die Dörfer in Schuss zu halten. Die jungen Leute gehen weg, um gute Arbeit zu finden. Die Dörfer bluten aus.
Die Besuche vor Ort sind für viele sicher sehr emotional.
Das kann man sagen. Mich hat es zum ersten Mal so richtig erwischt, als mir hier im Museum Bücher von Tarutino gezeigt wurden. Das war der politische Hauptort, wo meine Großmutter geboren wurde. Fürstenfeld war ein neues Dorf, aber Tarutino war eines der ersten, die gegründet wurden. Wir leben heute in einer Zeit, die wenig auf Tradition und Familiengeschichte gibt. Als ich da den Namen meiner Familie fand, auf vielen Höfen in Tarutino, hat mich das umgehauen. Da merkte ich, dass mir etwas gefehlt hatte. Zu wissen, dass ich auf den Schultern einer langen Ahnenreihe stehe, das erdet einen.
Aus einer historischen Verbindung heraus engagiert sich Ihr Verein auch in der Ukrainehilfe. Was tun Sie?
Die moldawischen Grenzorte sind sehr belastet durch die Flüchtlingssituation. Dort unterstützen wir die Integrationsbemühungen. Wir kümmern uns also nicht nur um die Durchreisenden, sondern auch um die, die eine Weile bleiben. Das gilt auch für die ukrainische Seite. Wir haben eine umfangreiche Bessarabienhilfe, die derzeit voll eingenommen ist von der Flüchtlingshilfe. Es gibt Sammlungen von Hilfsgütern, die gebraucht werden. Zu Anfang waren das Nahrungsmittel, dann Medizinisches, heute läuft das sogar nach Bestellung. Interessant ist, dass sich dort sogar Verteilerzentren gebildet haben in den ehemals deutschen Dörfern in der Ukraine. Von dort aus werden unsere Hilfslieferungen verteilt. Vor zehn Jahren wäre das noch nicht möglich gewesen, die Korruption in der Region war zu stark. Aber durch den Krieg hat sich bei den Menschen eine andere Einstellung fürs Gemeinwohl entwickelt – wir sind wirklich erstaunt. Ein Dorf, Sarata, möchte sein Museum modernisieren und stärker seine deutsche Geschichte betonen. Es möchte zu einem Touristenzentrum werden. Wir warten nur darauf, dass der Krieg zu Ende geht, damit wir dieses und andere Kulturprojekte unterstützen können. Unsere Mitglieder sind sehr spendenfreudig.
Das Interview führte Björn Lange.