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TICHYS DENKANSTOSS

Gelassenheit ist Bürgerpflicht

Der Tag der deutschen Einheit, ein Tag zum Feiern. Oder doch nicht – mehr?

01.11.2016

Die Feiern zum Tag der deutschen Einheit waren in diesem Jahr von Auseinander­setzungen zwischen „denen da rechts“ und „denen da oben“ überschattet. Oder ist die „deutsche Wiedervereinigung“ gar nicht mehr so gerne gesehen in Zeiten der Auseinan­der­setzung, wie deutsch Deutschland noch sein darf?  Für mich war es ein Tag zum Feiern. Jeder hat sein Bild von der Wiedervereinigung. In meine ­Er­innerung eingebrannt hat sich die Fußgängerbrücke vom Bahnhof Friedrichstraße, dem ostdeutschen Verkehrsknotenpunkt und Schlupfloch in den Westen hinüber zur Unterhaltungsmeile am Schiffbauerdamm, wo das Ber­li­ner Ensemble Bert Brecht’­scher Schule steht.

Anfang der 90er Jahre erinnerten mich die Brücke und die Ufer an das kriegszerstörte Berlin; nur die Haufen von Taubendreck waren der sichtbare Beitrag des Sozialismus zum Fortschritt.

Heute verbindet die Brücke die pulsierende Friedrichstraße mit der Ausgehmeile, Farbe, Licht, Fröhlichkeit; das pul­sierende Leben einer Weltmetropole fasziniert.  

Ja, es sind die blühenden Landschaften, die Helmut Kohl versprochen hat und über die so lange gelästert und gelacht wurde – an die keiner geglaubt hat. Die Brücke und ihr Umfeld stehen für die ganze frühere DDR: Leipzig leuchtet wieder, Dresden strahlt, Magdeburg lebt auf, und so ist es an allen Orten. Ruinen zu beseitigen und neu aufzubauen ist keine Sache von ein paar Tagen, sondern von Generationen. Den größeren Anteil an ihr haben die Bürger aus dem Ostteil. Viele der älteren Generation fühlen sich um ihre Lebensleistung gebracht. Ostberlin ist noch voll von den frustrierten frü­heren Funktionsträgern des Sozialismus, deren großzügige Westrente zwar zweimal im Jahr Mallorca erlaubt, aber gleichzeitig beweist: Nicht das Sein bestimmt das Bewusstsein, sondern die Einbildung. Sicherlich – statistische Unterschiede lassen sich immer noch finden.

Heute stehen Städte wie Jena weit vorne in den Ranglisten, was Wachstum, Wohlstand, Dynamik und Zukunftserwartung betrifft – und Oberhausen, Gelsenkirchen und Herne tragen die rote Laterne. Wenn man Mieten und Lebenshal­tungskosten berücksichtigt, redu­zieren sich die unterschiedlichen Höhen der Brutto-Einkommen zu einer erstaunlichen Ausgeglichenheit. „Einigkeit und Recht und Freiheit sind des Glückes Unterpfand“ – diese Zeile des Deutschlandlieds hat sich erfüllt.

Ja, es gibt trotzdem Unterschiede zwischen Ost und West: Die Menschen in Ostdeutschland sind kri­tischer, was die Medien betrifft. Sie hatten gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen, was ihnen die Lügenpresse der DDR aus der Hauptstadt vorschrieb. Seltsam: Die scheinbar so kritischen Wessis sind gutgläubiger. Sie vertrauen ihrer Regierung und den Medien, während die Ossis wissen, wie schnell Macht korrumpiert und Belehrung von Oben zum Dauergewäsch werden kann.  

Aber Deutschland – das ist ein buntes Land, unterschiedlicher Regionen, Traditionen, Geschichten und Gesichter. 

Diese Vielgestaltigkeit ist die Kraft. Und darüber freue ich mich alljährlich am 3. Oktober.