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Geschüttelt, nicht gestreichelt

Der 20. November ist der „Internationale Tag der Kinderrechte“

30.10.2015

Die jährlich vom Bundeskriminalamt veröffentlichten Zahlen sind alarmierend. Jede Woche versterben in Deutschland drei Kinder an den Folgen von Misshandlungen. Die tatsächliche Anzahl solcher Fälle ist unbekannt. Besonders gravierend ist allerdings, dass Säuglinge seit Jahren das höchste Risiko haben, durch Gewalt zu sterben. Laut Statis­tischem Bundesamt können mehr als ein Drittel aller tödlichen Säuglingsverletzungen, die sich von 2001 bis 2010 ereigneten, auf Gewalt zurückgeführt werden.


Für 2012 führt die Statistik 3998 Kinder auf, die misshandelt wurden, aber überlebten, 2013 stieg deren Zahl auf 4051 und 2014 auf 4233. Auch hier ist von einer Dunkelziffer auszugehen.


Auch wenn die Misshandlung von Kindern meist durch einfache körperliche Gewalt erfolgt, so hat sie doch äußerst vielfältige Erscheinungsformen vom Schlagen mit der flachen Hand bis hin zum Fesseln.
Je nach Art der Gewalt und Massivität des Angriffs resultieren auf dem Körper des Kindes Hämatome, Platzwunden, Hautabschürfungen, Würgemale, Drosselmarken oder thermische Verletzungen. Unter dem Einsatz verschiedener Schlagwerkzeuge wie Elektrokabel, Kochlöffel, Reitgerte, Peitsche, Knüppel, Hundeleine oder Besenstiel – zufällig oder ganz bewusst gewählte Tatwaffen – werden den Kindern zum Teil lebensbedrohliche oder sie entstellende Verletzungen zugefügt.


Typische verletzungen
Knochenbrüche und Verrenkungen sind weitere typische Folgen einer Misshandlung. Innere Organe können schwer verletzt werden. Lebens-bedroh­liche oder sogar tödliche Blutungen in die Bauchhöhle sind nicht selten die Folge. Das Schütteltrauma ist eine besonders schwere Form der Misshandlung und betrifft in der Regel Säuglinge innerhalb des ersten Lebensjahres, wobei die meisten jünger als sechs Monate sind. Am stärksten gefährdet sind Schreikinder, da wiederholtes und lang anhaltendes Schreien zu massivem Stress der Eltern mit Erfolgsdruck und Versagensängsten führen kann.


Phänomenologie der misshandlung


Die in der Rechtsmedizin untersuchten Fälle repräsentieren zwar ein heterogenes Kollektiv, weisen aber Gemeinsamkeiten auf:

  • Kindesmisshandlung ist ein Delikt, das sich fast ausschließlich im direkten familiären Umfeld ereignet. Die Täter sind typischerweise die Eltern, der neue Lebensgefährte eines Elternteils oder die Pflegeeltern.
  • Besonders gefährdet sind Säuglinge und Kinder bis zu einem Alter von fünf Jahren.
  • Ärzte und medizinisches Personal ziehen zu selten bei kindlichen Verletzungen eine Misshandlung als Ursache in Betracht.
  • Das Fehlen einer nachvollziehbaren Erklärung für ein unfallbedingtes Entstehen von kindlichen Verletzungen und das verzögerte Aufsuchen eines Arztes sind hochgradig verdächtig.


Schwachstellen des Systems
Es zeigen sich immer wiederkehrende gravierende Schwachstellen in der Interaktion und Kommunikation der für den Kinderschutz in Deutschland Verantwortlichen. Eine ausreichende Vernetzung der verantwortlichen Institutionen ist auch in Zeiten digitaler Datenverarbeitung und -transfers nicht gewährleistet.


Quo vadis Kinderschutz?
Jugendämter unterliegen in Deutschland keiner Fachaufsicht. Auch wenn dies politisch gewollt wäre, wäre die Umsetzung einer solchen politischen Entscheidung bei den derzeit gegebenen Strukturen überhaupt nicht möglich. Sollte eine Fachaufsicht über die Jugendämter angestrebt werden, dann müsste entweder die gesamte deutsche verfassungsmäßige Ordnung geändert werden, oder die Aufgaben der Jugendhilfe müssten zu Bundesaufgaben erklärt werden - schier aussichtslose Forderungen. Aber eine mögliche Abhilfe wäre die Einrichtung einer unabhängigen Kontrollinstanz, die als gleichermaßen staats- und wirtschaftsferne Organisation nach dem Modell der Stiftung Warentest kons­truiert werden könnte. Aufgabe dieser Institution müsste es sein zu kontrollieren, ob die ange­ordneten Maßnahmen tatsächlich mit der gebotenen Konsequenz in der Jugendhilfe umgesetzt werden, und andererseits müssten von dieser Institution geeignete Untersuchungsinstrumente entwickelt werden, um in empirischen Studien wissenschaftlich zu überprüfen, ob die eingesetzten Maßnahmen geeignet sind, die intendierten Schutz- und Förderwirkungen zu entfalten.


In einem novellierten Bundeskinderschutzgesetz muss eine gesetzliche Reaktionspflicht für Ärzte bei Misshandlungsverdacht verankert werden. Kinderärzte sollten bei Verdacht auf Kindesmisshandlung verpflichtet werden, die betroffenen kleinen Patienten an eine nahe gelegene Kinderschutzambulanz oder Klinik mit angegliederter Kinderschutzgruppe zu überweisen.


Wer Gewalt gegen Kinder verhindern will, muss sich mit den Schwachstellen des Systems aktiv und konstruktiv auseinandersetzen. Und dazu gehört auch eine kritische Auseinandersetzung mit Punkten, die die klassischen Denkmodelle im Umgang mit den Begriffen „Kindeswohl“ und „Kinderschutz“ zwangsläufig infrage stellen müssen.