100 Jahre Rotary Österreich
Ins Blaue
Zwischen Kickls Ambitionen und der liberalen Demokratie stehen nur noch die Zivilgesellschaft, der Beamtenapparat und der Bundespräsident. Ob das reicht?
Nach dem Wahlerfolg der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) im September bekommt die Alpenrepublik eine neue Bundesregierung. Derzeit läuft gerade der zweite Versuch einer Koalitionsbildung, nachdem die Verhandlungen einer Dreierkoalition zwischen der konservativen Volkspartei (ÖVP), den Sozialdemokraten (SPÖ) und den liberalen Neos am 4. Januar gescheitert waren. Viele Analysen konzentrieren sich darauf, die Schuldigen für das Scheitern der schwarzrot-pinken „Zuckerl-Koalition“ zu benennen. Ohne einen Blick auf die Verschiebung der Machtverhältnisse in den letzten Jahrzehnten zu werfen, ist es jedoch kaum möglich, die Ereignisse zu verstehen.
Hören Sie hier den Artikel als Audio!
Einfach anklicken, auswählen und anhören!
Seit 1955 war Österreich politisch zwischen einem sozialdemokratischen und einem christdemokratischen Block geteilt gewesen. Die SPÖ dominierte Wien und die städtischen Zentren im Osten des Landes, während die ÖVP in ländlichen Gebieten verankert war. Ein Proporz-Mechanismus regelte die Machtverteilung zwischen den beiden Parteien, von politischen Spitzenpositionen bis hin zu Stellen in staatlichen Unternehmen und öffentlichen Schulen. Dieses Patronagesystem funktionierte, solange die Wirtschaft wuchs und genügend Geld vorhanden war, um Konflikte durch Kompromisse zu lösen.
Mit der Privatisierung staatseigener Unternehmen in den 1980er Jahren verlor die SPÖ eine wichtige Machtbasis. Durch Globalisierung und zunehmenden Druck auf die öffentlichen Budgets war auch der Proporz immer schwerer aufrechtzuerhalten. Dazu kam, dass die radikale Rechte stark zu wachsen begann – vor allem seit der Übernahme der FPÖ durch Jörg Haider im Jahr 1986. Im Gegensatz zu Deutschland hatte sich Österreich niemals in der Tiefe mit seiner NS-Vergangenheit auseinandergesetzt. Haiders populistische Rhetorik, die Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Kritik am politischen Establishment vereinte, verwandelte die FPÖ von einer kleinen Randpartei in eine bedeutende politische Kraft. Zwischendurch erlitt die FPÖ zwar immer wieder Verluste, oft nach internen Streitigkeiten oder Korruptionsskandalen. Mit dem Aufstieg Herbert Kickls als Parteichef im Jahr 2021 stabilisierten sich jedoch die Wahlerfolge der Partei. Begünstigt wurde dies durch eine Kombination umstrittener Covid-Maßnahmen, hoher Inflation und staatlicher Geldgeschenke an Unternehmen. Die ÖVP passte sich rasch an die Situation an: In fünf der neun Bundesländer koaliert sie heute bereits auf Landesebene mit der FPÖ. Dies erklärt auch, warum die ÖVP innerhalb weniger Stunden nach dem Scheitern der Dreier-Koalitionsverhandlungen ihre „prinzipielle“ Ablehnung gegenüber Kickls FPÖ beendete und Koalitionsgespräche mit ihr aufnahm.
Die Gründe für das Scheitern
Die schwarz-grüne Regierung hinterlässt ein großes Budgetdefizit. Die Gründe dafür liegen unter anderem an der Entscheidung, keine Preisobergrenzen für Energie und Konsumgüter festzusetzen und die wachsende Teuerung stattdessen durch wenig treffsichere Zahlungen an Unternehmen und die Bevölkerung zu lindern. Dass das Budgetdefizit laut Prognosen in den nächsten Jahren noch weiter steigen wird, schürt die Sorge um die Zinsen für die wachsende Staatsschuld. Besorgt ist man auch um die Rolle Österreichs als Industriestandort: Neben hohen Lohnkosten machen stark gestiegene Energie- und Mietkosten Österreich für multinationale Konzerne immer weniger attraktiv. Was Österreich derzeit noch einen Wettbewerbsvorteil beschert, sind die vergleichsweise großzügigen Förderungen für Forschung, Innovation und Klimaschutz. Wenn diese zum Opfer des Sparkurses einer neuen schwarz-blauen Regierung werden, wird das dem Industriestandort Österreich wohl nicht helfen. Für Unternehmen, die auf grüne Strategien setzen, wäre das ein zusätzlicher Grund, Österreich den Rücken zu kehren.
Auflagenstarke Printmedien fungierten während der Verhandlungen zur Dreierkoalition als Sprachrohre jener Teile der Industrie, die die Lösung im Senken der Lohnnebenkosten und in Kürzungen in den Sozial- und Gesundheitsausgaben sahen. Einnahmenseitige Maßnahmen wie die Besteuerung großer Vermögen, wie sie in vielen anderen europäischen Ländern üblich sind, wurden als „radikal“ bezeichnet und für das Scheitern der Koalitionsverhandlungen verantwortlich gemacht. Näher an der Realität scheint die Erklärung, dass weder die ÖVP noch die Neos eine Koalition mit der SPÖ wollten. Teile der Neos favorisierten die Oppositionsrolle, während die Industrie-Fraktion der ÖVP von vornherein eine Koalition mit der FPÖ bevorzugte. Beide Parteien stellten letztendlich Parteistrategie und Klientelpolitik über den Schutz der Demokratie.
Was kommt?
Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Textes wurden Sparmaßnahmen auf Kosten von Arbeitnehmern, Sozialhilfeempfängern, jungen Menschen und Migran ten angekündigt. Teile der Landwirtschaft und der Unternehmen sowie einkommensstarke Gruppen würden davon profitieren. Maßnahmen zum Klimaschutz sollen zurückgenommen werden.
Trotz einiger offenkundiger Parallelen zu den 1930er Jahren sind Nazi-Vergleiche hier wenig hilfreich. Viel wahrscheinlicher ist der Umbau Österreichs nach ungarischem Vorbild. Angriffe auf den öffentlichen Rundfunk und andere missliebige Medien mehren sich bereits. Ein Video eines Treffens von FPÖ-Funktionären Mitte Januar zeigte das erschreckende Ausmaß der Entmenschlichung von Andersdenkenden innerhalb der FPÖ. Unter anderem wurde das Taliban-Regime als positives Beispiel dafür genannt, wie man mit Menschen umgeht, die sich nicht an die Leitkultur halten. Die Effekte solcher Aussagen sind nicht zu unterschätzen: Je tiefer demokratiefeindliche Positionen in den politischen Diskurs eindringen, desto einfacher wird es, sie in die Tat umzusetzen. Seitens des angehenden Koalitionspartners ÖVP blieben diese Aussagen – abgesehen von einzelnen Stimmen – unwidersprochen.
Mit einer freiheitlich geführten Regierung wird Österreich zu einem der Vorhöfe russischer Macht werden, mit allem, was dazugehört: Korruption, EUFeindlichkeit und die Einschüchterung all jener, die sich dem Ausverkauf der Demokratie entgegenstellen. Mit einer Medienlandschaft, die kaum noch als unabhängig bezeichnet werden kann, stehen zwischen Kickls Ambitionen und der liberalen Demokratie nur noch die Zivilgesellschaft, der Beamtenapparat und der Bundespräsident. Ob das genügen wird?
Barbara Prainsack ist Professorin am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Wien. 2023/24 war sie Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.
Hendrik Wagenaar ist Politikwissenschaftler mit Expertise im Bereich der Praxis und Theorie der Demokratie sowie in der Verwaltungslehre. Er ist Fellow am Institut für Höhere Studien (IHS) in Wien und lehrt am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien.
© Johanna Schwaiger