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Israel im Krisenmodus

Titelthema - Israel im Krisenmodus
Juden gegen Juden: Ein israelischer Siedler redet mit der Bereitschaftspolizei. Im Februar 2006 brauchte es Tausende Soldaten, um neun illegale Häuser in der Siedlung Amona im Westjordanland abzureißen. © shaul schwarz/getty images

Der jüdische Staat steht an seinem 75. Geburtstag vor massiven innen- und außenpolitischen Problemen, die das Land gefährden.

Richard C. Schneider01.05.2023

Seit Monaten befindet sich Israel in einer existenziellen innenpolitischen Krise. Premier Benjamin Netanjahu hatte Ende letzten Jahres mit seiner Likud-Partei eine Koalition mit ultraorthodoxen und rechtsextremen Parteien gebildet, die die rechteste Regierung in der nun 75-jährigen Geschichte des jüdischen Staates darstellt. Anfang Januar verkündete Justizminister Jariv Levin dann seine Pläne für eine sogenannte „Justizreform“. Im Kern sieht sie vor allem zwei Dinge vor:

Zum einen soll das Oberste Gericht zukünftig nicht mehr in der Lage sein, Gesetze, die die Regierung beschlossen hat, zu kippen, wenn sie gegen die „Basic Laws“ verstoßen. Die Basic Laws sind eine Art Grundgesetz. Verwirft das Gericht neue Gesetze, dann kann die Regierung mit der einfachen Mehrheit von 61 Stimmen in der 120 Sitze umfassenden Knesset die Entscheidung der Richter überstimmen. Zum anderen will Levin das Komitee, das neue Richter bestimmt, künftig so zusammenstellen, dass die Regierungsparteien die Oberhand haben und mittelund langfristig die Gerichte mit ihnen genehmen Richtern besetzen können.

Im Klartext läuft dies auf das Ende der Gewaltenteilung und das Ende der Demokratie hinaus, wie sie in Israel bis heute existiert. Die Regierungsparteien erklären, die neuen Gesetze würden die Demokratie stabiler machen, da das Oberste Gericht in den vergangenen Jahrzehnten eine Machtfülle erlangt habe, wie es sie in keinem anderen Land gebe. Das ist zwar richtig, doch wird dabei unterschlagen, dass das politische System in Israel keinerlei andere Kon trollinstan zen hat als das Oberste Gericht. Anders als in anderen demokratischen Staaten gibt es beispielsweise keine zwei Kammern, keine Teilung von Verantwortung und Macht zwischen kommunalen Institutionen und Landesregierungen auf der einen und der nationalen Regierung auf der anderen Seite, oder irgendwelche anderen Kontrollstrukturen. So war es in Israel fast nicht zu vermeiden, dass das Oberste Gericht als einzige Institution des Staates, die den Politikern in die Parade fahren konnte, Kontrollaufgaben übernahm, die anderswo auf verschiedene Einrichtungen und Gremien verteilt sind.

Die Proteste zeigen Wirkung

Sehr früh begriffen vor allem die liberalen und säkularen Israelis, was diese Justizreform für das Land bedeuten würde. Sie begannen mit Demonstrationen und Streiks, an denen sich zunehmend auch rechte und religiöse Israelis zu beteiligen begannen, da sie der Regierung zwar ideologisch nahestehen, aber dennoch die Demokratie in ihrer jetzigen Form verteidigen wollen. Umfragen vor etwa anderthalb Monaten zeigten, dass mehr als 15 Prozent der Wähler der aktuellen Regierung mit den Reformplänen absolut nicht einverstanden sind. Die Protestbewegung wurde immer größer, längst demonstrieren wöchentlich Hunderttausende Israelis auf den Straßen. Kleineren und größeren Streiks folgte schließlich sogar ein Generalstreik der Gewerkschaft Histadrut, nachdem Premier Netanjahu völlig unerwartet Verteidigungsminister Joaw Gallant feuerte. Der Grund: Gallant machte, wie es seine Pflicht im Amt ist, darauf aufmerksam, dass die innenpolitische Krise die Sicherheit des Landes gefährde. Er machte das öffentlich, was Netanjahu absolut nicht passte. Denn längst hatten nicht nur Hightech-Unternehmer und Risikokapital-Investoren begonnen, ihre Firmen und ihr Geld außer Landes zu schaffen, sondern immer mehr Reservisten der israelischen Armee kündigten an, in Zukunft nicht mehr zum Dienst erscheinen zu wollen, falls die Reformen umgesetzt werden.

Die Kampfbereitschaft und mehr noch die Moral der Armee drohten zu zerfallen, nachdem sich auch innerhalb der Geheimdienste, wie etwa dem Mossad und dem Schin Bet, zunehmend Unmut über die Regierungspläne breitmachte.

Der Rauswurf Gallants führte zu spontanen nächtlichen Massendemonstrationen inklusive des Generalstreiks, der Israel lahmlegte. Die Wut der Menschen war so groß, dass Netanjahu nachgeben musste. Er kündigte an, die Justizreform erst einmal auf Anfang Mai zu verschieben, wenn die Knesset nach den Pessachfeiertagen wieder zusammenkommt. Und er gab dem Druck von Präsident Jitzchak Herzog nach, Gespräche zwischen Regierung und Opposition über einen Kompromiss in Sachen Justizreform zuzulassen. Die Delegationen treffen sich nun regelmäßig in der Residenz des Staatspräsidenten, doch eine Lösung des Problems scheint nicht in Sicht.

Verbündete gehen auf Distanz

Inzwischen ist eingetreten, was Gallant und andere befürchtet hatten. Nicht nur, dass Israels Wirtschaft bereits unter der Krise zu leiden beginnt, nicht nur, dass die Ratingfirma Moody’s Israel herabgestuft hat, nicht nur, dass das internationale Ansehen des Staates schwindet und selbst die US-Regierung mit sehr klaren Worten auf Abstand zu Netanjahu geht und andeutet, dass die enge Kooperation auf Dauer gefährdet sein könnte – die Feinde Israels, allen voran der Iran, wittern obendrein die Schwäche des Landes und wagen es im Fastenmonat Ramadan, den jüdischen Staat immer dreister zu provozieren.

Die Lage in den palästinensischen Gebieten ist sowieso seit Monaten explosiv. Und als nach der Ermordung zweier jüdischer Männer im Westjordanland ein Mob radikaler Siedler in die palästinensische Stadt Huwara eingedrungen war und dort ein „Pogrom“ veranstaltete, wie dies der in der Region kommandierende Befehlshaber der israelischen Armee nannte, nahm die Gewalt weiter zu. Und nachdem der extremistische Finanzminister und Minister für zivile Angelegenheiten in den besetzten Gebieten, Besalel Smotrich, erklärt hatte, dass man „Huwara auslöschen“ solle, begannen selbst befreundete Staaten wie die Vereinten Arabischen Emirate, Bahrain und andere auf immer größere Distanz zur Regierung Netanjahu zu gehen.

Doch es ist vor allem der Iran, der die Situation nutzt und seine Stellvertreter auf Israel hetzt. Die schiitische Hisbollah-Miliz im Libanon arbeitet inzwischen eng mit den palästinensischen Terrororganisationen Hamas und Islamischer Dschihad zusammen, alles koordiniert von den iranischen Revolutionsgarden. Nach Unruhen zwischen Palästinensern und Israelis auf dem Tempelberg rund um die Al-Aksa-Moschee, feuerte die Hamas vom Libanon aus 36 Raketen auf Israel ab, auch aus Gaza und selbst aus Syrien wurden Raketen auf den jüdischen Staat geschossen. Von dort drangen auch iranische Drohnen in den israelischen Luftraum ein, wurden jedoch sofort abgeschossen.

Hinzu kommt, dass der Iran und Saudi-Arabien unter der Vermittlung der Chinesen wieder diplomatische Beziehungen aufnehmen, was für Israel ein großes Problem darstellt. Jerusalem und Riad hatten in den vergangenen Jahren immer engere Kontakte aufgebaut, um dem gemeinsamen Feind Iran, der an der Schwelle zur Atommacht steht, im Falle eines Krieges Paroli bieten zu können. Für Israel dürfte die neue Entwicklung nun strategisch ebenso Konsequenzen haben wie die inzwischen enge Zusammenarbeit zwischen Russland und dem iranischen Re gime. Der Iran versorgt Moskau mit Drohnen und Raketen im Ukrainekrieg und wird sich das von Putin nicht nur finanziell, sondern auch mit einer militärischen Kooperation im Nahen Osten bezahlen lassen. Möglicherweise wird die israelische Luftwaffe schon bald nicht mehr so ohne Weiteres im syrischen Luftraum agieren können wie bisher. Seit Jahren erlaubt Putin den Israelis, iranische Stellungen und Waffenkonvois in Syrien zu bombardieren, seine dort stationierten Truppen halten still, wenn Jerusalem zuschlägt. Teheran dürfte Moskau bald bitten, israelische Angriffe künftig zu unterbinden.

Für Israel entsteht derzeit also eine Situation, die das Land militärisch zum Umdenken zwingt. Es muss sich zukünftig auf eine gleichzeitige Bedrohung von allen Seiten vorbereiten. Hinzu kommt, dass Teheran nur noch knapp 14 Tage bräuchte, wenn es eine Atombombe herstellen will. Israel hat stets erklärt, das nicht zuzulassen, man sei bereit, die Nuklearanlagen des Iran anzugreifen. Aber werden die Saudis oder die Emirate und Bahrain jetzt noch Israel bei einem solchen Vorhaben unterstützen? Für den jüdischen Staat ist die Lage wahrlich nicht günstig. All diese geostrategischen Veränderungen mitsamt der wachsenden Bedeutung der Chinesen und Russen sind nur möglich geworden, weil die USA sich seit Langem aus der Region zurückziehen.

Es droht ein heißer, gefährlicher Sommer

Weil Israel innenpolitisch geschwächt ist, reagierte Jerusalem auf die Raketenangriffe zu Beginn des jüdischen Pessachfestes tatsächlich sehr verhalten. Verteidigungsminister Joaw Gallant, der zwei Wochen auf sein Demissionsschreiben wartete und in diesem Limbo die gefährliche Situation händeln musste, darf inzwischen im Amt bleiben. Premier Netanjahu musste seine Entscheidung widerrufen. Das beruhigt Armee und Gesellschaft einerseits. Andererseits fragen sich Militärs und die Bevölkerung, wie sehr Netanjahu die Dinge noch unter Kontrolle hat, da seine beiden rechtsextremen Minister Besalel Smotrich und der Nationale Sicherheitsminister Itamar Ben-Gwir nach allen Seiten hin weiterhin mit Worten und Taten zündeln.

Im Mai kommt die Knesset wieder zusammen, dann könnte die Justizreform verabschiedet werden. Die Mehrheit im Land will das nicht zulassen und demonstriert weiterhin. Trotz der Gefahren von außen steuert Israel auf einen innenpolitischen Machtkampf zu. Viele befürchten gar einen Bürgerkrieg. Und nach wie vor steht die Drohung vieler Reservisten im Raum, ein illiberales Israel nicht mehr verteidigen zu wollen. Dem jüdischen Staat steht im 75. Jahr seiner Existenz ein heißer, gefährlicher Sommer bevor.

Richard C. Schneider
Richard C. Schneider ist Publizist, Buchautor und Dozent an verschiedenen Hochschulen. Einem breiten Publikum wurde er als Studioleiter und Chefkorrespondent des ARD-Studios in Tel Aviv bekannt.