Titelthema
„Junge Menschen haben nicht das Gefühl, dem Staat etwas schuldig zu sein”

Der Jugendforscher Simon Schnetzer sagt, die eigentliche Brandmauer sei die Nichtbeteiligung junger Menschen an der Politik. Die Zukunft des Landes müsse gemeinsam gedacht werden, von Jüngeren und Älteren
Herr Schnetzer, wie geht es der Jugend, wenn Sie in die Zukunft schaut?
Junge Menschen schauen in eine sehr ungewisse Zukunft. Damit sind sie nicht die ersten. Als damals die Menschen aus dem Zweiten Weltkrieg kamen, hatten sie nichts, und darum sagen heute ältere Menschen sehr schnell: Die jungen Leute sollen sich nicht so haben, die sind wohlbehütet aufgewachsen. Aber diese jungen Leute erkennen, dass jener Wohlstand in Gefahr ist. Sie haben den Glauben daran, dass sie durch die Rente eine gute Vorsorge haben werden, längst verloren. Ein Weiter-so gibt’s also nicht. Schaut man in den Generationenvergleich unserer jüngsten Trendstudie, stellt man aber fest, dass die junge Generation noch am optimistischsten in die Zukunft schaut. Damit meinen sie aber weniger die gesellschaftliche als ihre persönliche Zukunft.
Ihre persönliche Zukunft hängt doch aber stark von gesellschaftlichen Veränderungen und eigenen Gestaltungsmöglichkeiten ab.
Ja und nein. Ja, wenn sie ihre Zukunft in Deutschland sehen, nein, wenn sie sich vorstellen können, woanders zu leben. Und ihre persönliche Zukunft ist noch offen. Wenn man erst mal eine Familie gegründet und in eine Immobilie investiert und in ein Rentensystem eingezahlt hat, dann kann man nicht mehr so leicht wechseln. Aber die Jungen sind ungebunden. Hinzu kommt ihr jugendlicher Optimismus, der den gegenwärtigen Krisen, Kriegen und Konflikten trotzt. Mit Blick auf die Gesellschaft ist ihr Zukunftsbild genauso schlecht wie das der anderen Generationen.
Wenn Sie mit jungen Menschen sprechen: Realisieren sie schon, was da auf sie zukommt?
Zum Teil. Die Konflikte, die sie in den Nachrichten sehen, sind sehr präsent, ebenso die Inflation, die sie jeden Tag spüren, wenn das Geld knapp wird. Auch der Klimawandel ist präsent, ebenso die soziale Spaltung, wenn etwa Kontakte zu Freunden oder Teilen der Familie durch die Covid-Pandemie abgerissen sind. Aber sie machen sich noch keine weitreichenden Gedanken dazu, wie wir als Gesellschaft in Zukunft die Rente finanzieren.
Sie sagten eingangs, junge Menschen hätten den Glauben an die staatliche Rente längst verloren. Ein Bewusstsein für den Generationenvertrag gibt es also?
Die Frage ist doch, ob sie in einem Generationenvertrag denken. Die jungen Menschen erben de facto einen Generationenvertrag, den sie aber nie bewusst eingegangen sind. Sie wissen, dass die Finanzierung der Rente so nicht mehr funktioniert. Und weil junge Menschen kaum an politischen Prozessen beteiligt werden, haben sie nicht das Gefühl, dem Staat etwas schuldig zu sein.
Aufgrund ihrer großen Zahl werden die Babyboomer die wichtigste politische Wählergruppe bleiben. Wenn Bundeskanzler Merz diese Stimmen nicht verlieren will, wird er keine zukunftsgerichtete Politik für junge Menschen machen können.
Das ist seit über 20 Jahren das große Dilemma. Ich bin gespannt, wie Friedrich Merz sein Bundeskabinett auf nachhaltigere Lösungen einschwören will. Manchmal poste ich dazu Statements auf Social Media, und dann kommen Rückmeldungen von älteren Menschen: Wir haben 45 Jahre gebuckelt, und jetzt wollt ihr bei uns kürzen? Wir haben einen Anspruch darauf! Alle kommen und fordern ihre Ansprüche, nur die jungen Menschen dürfen keine stellen. Denen werden Schulden in die Zukunft gelegt, die sie dadurch gar nicht unbelastet gestalten können.
Und wenn ältere Menschen nun argumentieren: Wir haben euch den Weg zu Frieden und Wohlstand geebnet, Ihr seid die am besten ausgebildete Generation aller Zeiten, jetzt sorgt mal schön selbst für euch?
Wir haben ein unglaublich hohes Ausgangsniveau, das ist richtig. Aber die Jugendlichen treibt eine Abstiegsangst um. Sie wissen, es wird schlechter. Es stimmt ja: Die Menschen nach dem Krieg hatten fast nichts, aber es hatten ebenalle nichts, und man hat das Beste daraus gemacht. Heute gibt es eine Fülle von Möglichkeiten, aber es ist schwer, die richtigen Entscheidungen zu treffen, und die Welt ist viel komplexer geworden. Selbst wenn die Jungen eine Musterkarriere hinlegen, ist nicht klar, ob sie sich ein Leben in Wohlstand überhaupt noch leisten können.
Haben Sie den Eindruck, dass die Brandmauer auch eine Generationenschutzmauer ist?
Politisch wählen junge Menschen Parteien entsprechend ihren Bedürfnissen. Bei der Bundestagswahl 2025 haben sie die sogenannten Ampel-Parteien und die Union abgestraft und verstärkt links und rechts gewählt. Das Pendel ist sehr stark nach rechts ausgeschlagen, weil junge Menschen ein hohes Maß an Enttäuschung spüren. Nahezu sämtliche Bedürfnisse der jungen Generationen wurden von der Regierung ignoriert oder zumindest nicht bedient. Die Wahl der Linken bietet die Möglichkeit, sich von der AfD und von den Versäumnissen der demokratischen Mitte zu distanzieren. Die eigentliche Brandmauer ist quasi die Nichtbeteiligung junger Menschen an der Politik. Die Anliegen und Ideen der Generationen Z und Alpha bleiben außen vor.
Dazu passt die Debatte um die Wiedereinführung der Wehrpflicht: Stimmt es, dass der Großteil der jungen Menschen sich bei der Entscheidung darüber nicht ausreichend gehört fühlt?
Ja, der größte Teil der jungen Menschen ist gegen die Wiedereinführung der Wehrpflicht bei der Bundeswehr. Sie erkennen sehr wohl die veränderte Sicherheitslage, aber sie fragen sich, warum nur sie ihren Teil beitragen sollen und nicht alle. Die Rente ist wie die Sicherheit eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Also Boomer an die Waffen? Die haben ja schon ihren Wehrdienst hinter sich, da würde die Grundausbildung nicht so lange dauern.
Nein, natürlich nicht. Ich habe ein 4+1-Modell entwickelt: Vier Tage in der Woche arbeitet man in seinem Job, einen Tag arbeitet man an der Gemeinschaft – und das gilt für alle, in der Teilzeit dementsprechend. Wer Familie hat oder pflegt, wird angepasst miteinbezogen. Die Kommunen werden noch viel größere Probleme bekommen mit Themen wie Erziehung, Pflege, öffentlicher Nahverkehr und so weiter. Eine Möglichkeit, um die Erledigung von Aufgaben in einer Gemeinschaft, im Sozialstaat sicherzustellen, könnte sein, diese Menschen aus der Gesellschaft selbst zu gewinnen und somit auch das Wir wieder zu stärken.
Das Gespräch führte Björn Lange.
Die ungekürzte Version lesen Sie unter rotary.de/a25919

Zur Person: Simon Schnetzer (RC Kempten-Residenz) ist Jugendforscher, Speaker und Führungs-kräftecoach. Er ist Mitherausgeber der jährlichen Trendstudie „Jugend in Deutschland“.