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Globales Netzwerk

Leben im Ausnahmezustand

Globales Netzwerk - Leben im Ausnahmezustand
Hoffnungsträger: Olga und Mykola Stebljanko mit einem Friedenspfahl © Privat (drei Fotos)

Seit drei Jahren leben Olga und Mykola Stebljanko vom Rotary E-Club Ukraine im belagerten Odessa. Die beiden geben Einblick in einen Alltag zwischen Hoffnung, Verlust und unermüdlichem Einsatz

01.08.2025

OLGA: Die schiere Zahl an Monaten, Wochen und Tagen, die wir durchlebt haben, während unser Land um sein Überleben kämpft, übersteigt jegliche Vorstellungskraft. Am 24. Februar 2022 konnten wir nicht erahnen, wie lange dieser Albtraum dauern würde. Und auch heute wissen wir es nicht – doch wir kämpfen weiter.
In jener Nacht lag etwas in der Luft. Eine Anspannung, eine düstere Vorahnung. Wir warteten, spürten längst, dass es bald beginnen würde – und doch war unser innerer Widerstand stärker. Der Gedanke, dass im 21. Jahrhundert ein großflächiger Krieg ausbrechen könnte, erschien zu absurd. Gegen 4 Uhr morgens legte ich mein Handy zur Seite, auf dem ich bis zuletzt die Nachrichten verfolgt hatte, und versuchte zu schlafen.

Um 5 Uhr rissen mich laute Explosionen aus dem Schlaf. Noch bevor ich ganz wach war, wusste mein Verstand: Es hat begonnen. Und doch konnte ich mich nicht rühren – meine Beine verweigerten den Dienst. Später erinnerten Mykola und ich uns an das seltsame Gefühl, wie die Erschütterungen der Explosionen durch unsere Körper liefen, sich in uns festsetzten, chaotisch weiterpulsierten, unseren Herzschlag störten. Adrenalin. So begann unser erster Tag im Krieg.

Draußen war die Luft erfüllt von einem wilden Durcheinander an Geräuschen: ankommende und abfahrende Autos, das Rattern von Rollkoffern auf dem Asphalt, die Silhouetten von Erwachsenen und Kindern, die in der Dunkelheit verschwanden. Fast augenblicklich entstanden Staus auf den Straßen. Aus dem Fenster sahen wir eine lange Schlange an der nahegelegenen Tankstelle. Auf Krieg kann man sich nicht vorbereiten. Man mag Vorräte haben, Medikamente, Dokumente, Geld und einen Notfallplan – aber als Zivilist ist man niemals bereit. Nichts kann den Schock abfedern, der einen überrollt. Nichts bereitet einen darauf vor, wie der eigene Geist plötzlich anders funktioniert, wie sich das Innere neu sortiert. Was eben noch wichtig war, verliert seinen Wert. Was vorher nebensächlich erschien, wird zum Zentrum der Gedanken.

Die ersten Tage vergingen wie im Rausch. Wir lebten im Ausnahmezustand, unter Sirenengeheul, das uns immer wieder in unser provisorisches Badezimmer-Versteck trieb. Unsere Handys waren unsere Verbindung zur Außenwelt, unser Zugang zu aktuellen Informationen über Angriffe in anderen Regionen. Wir verfolgten die Frontverläufe, die Standhaftigkeit der Streitkräfte, die unglaubliche Tapferkeit ganz normaler Menschen. Die Ukraine stand zusammen – Schulter an Schulter. Alter, Herkunft, Überzeugungen – all das verlor seine Bedeutung. Uns verband eine einzige, gewaltige Tragödie. Und aus ihr wuchs eine schier unerschütterliche Kraft.
Schon in diesen ersten Tagen wussten wir: Es war richtig, in Odessa zu bleiben. Wir lebten hier seit einigen Jahren – nachdem die Annexion der Krim uns gezwungen hatte, unsere Heimat zu verlassen. Jetzt, da der Krieg uns erneut eingeholt hatte, war uns klar: Wir würden nicht noch einmal fliehen. Wir mussten bleiben. Und wir mussten tun, was wir konnten. Ich erinnere mich an den Moment, in dem sich dieser Gedanke in mir formte: "Überleben. Durchhalten. Sieg."

Ein gespendeter Rettungswagen auf dem Weg in sein neues Einsatzgebiet
Ein gespendeter Rettungswagen auf dem Weg in sein neues Einsatzgebiet

Schon am ersten Tag der Invasion begannen unsere Telefone zu klingeln. E-Mails, Anrufe, Nachrichten von rotarischen Freunden aus aller Welt. Sie schickten ermutigende Worte, fragten, wie sie helfen könnten, boten uns sogar Zuflucht an, falls wir das Land verlassen wollten. Es waren so viele Nachrichten, dass wir kaum hinterherkamen. Diese Erinnerungen bleiben – ebenso wie unsere tiefe Dankbarkeit für alle, die in den dunkelsten Stunden unseres Lebens an unserer Seite standen. Damit begann eine Phase, die wir später "Sprint" nennen würden – eine Zeit voller schneller Entscheidungen und schneller Hilfe, mit wenig Schlaf, dafür mit umso größerem Antrieb, gemeinsam mit der weltweiten Rotary-Gemeinschaft so viel wie möglich zu bewirken.

MYKOLA: Am ersten Tag der groß angelegten Invasion erhielt ich einen Anruf von John Hewko, dem Generalsekretär von RI. In den letzten Jahren hatten wir regelmäßig Kontakt – in meiner Rolle als Koordinator für Öffentlichkeitsarbeit in Zone 21 A. Doch diesmal gab es nur ein Thema: die Situation in der Ukraine und die Frage, wie Rotary helfen könnte, die sich abzeichnende humanitäre Katastrophe zu bewältigen. Trotz des Chaos um uns herum konnte ich berichten. Die Führung des ukrainischen Distrikts hatte sich im Vorfeld auf den Ernstfall vorbereitet. Eine Woche vor Kriegsbeginn hatten frühere Governor gemeinsam mit uns eine Mitteilung entworfen – mit klaren Anweisungen für alle ukrainischen Rotary Clubs für den Fall einer Eskalation. Und so erhielten die Clubs unmittelbar nach dem Angriff präzise Informationen darüber, wie sie sich inmitten von Unsicherheit und Gefahr verhalten sollten. Dieser Schritt war entscheidend. Er ermöglichte koordinierte Hilfe und richtete unseren Fokus sofort auf das Wesentliche: den Dienst am Menschen.

Im Gespräch informierte mich John darüber, dass RI ein Sonderkomitee einberufen werde, um Schwerpunkte für die Unterstützung der Ukraine festzulegen. Auf unserer Seite wurde ein Distrikt-Koordinationskomitee gegründet, das die Aktivitäten der Clubs im Land koordinieren sollte. Es organisierte Medikamentenlieferungen und Ausrüstung für Krankenhäuser, unterstützte Binnenvertriebene mit lebensnotwendigen Gütern, stellte Generatoren und Spezialfahrzeuge bereit.

In dieser frühen Phase schufen wir auch Räume für offenen Austausch. Zweimal täglich, morgens und abends, veranstaltete unser damaliger Governor Wolodymyr Bondarenko Zoom-Sitzungen, an denen alle Mitglieder der rotarischen Familie teilnehmen konnten. Was wir damals erfuhren, war zutiefst bewegend: Rotary ist mehr als ein Netzwerk Gleichgesinnter. Es ist ein kraftvoller Gegenpol zur Verzweiflung. Der gemeinsame Dienst half uns, den Blick von den Schrecken des Alltags zu lösen – und neue Stärke zu finden, um anderen zu helfen.

OLGA: Für uns war diese Erkenntnis von tiefer Bedeutung: Wer sich ganz in den Dienst anderer stellt, wer gemeinsam mit anderen ums Überleben kämpft, bewahrt zugleich auch seine eigene seelische Gesundheit – in einem Land, das vom ersten Kriegstag an von Schmerz durchdrungen ist. Unsere erste "Therapie" bestand darin, den Rettungskräften in Odessa zu helfen. Wir lieferten Wasser, Lebensmittel und Decken an einen Schutzraum auf dem Gelände des Katastrophenschutzes .

So begann unser Sprint. Mykola war komplett mit der Arbeit im Koordinationskomitee beschäftigt. Ich erinnere mich an ihn meist am Laptop, vertieft in E-Mails, Nachrichten oder Zoom-Konferenzen. Ich selbst fand meine Aufgabe in der Unterstützung von Militärmedizinern und Krankenhäusern – unterstützt vom globalen Rotary-Netzwerk. In dieser Zeit war Odessa stark bedroht, sowohl vom Meer als auch vom Land aus.

In der Region Mykolajiw leisteten die ukrainischen Streitkräfte, die territoriale Verteidigung und viele Bürger erbitterten Widerstand. Die Kämpfe waren heftig, medizinische Hilfe wurde dringend benötigt. Wir lieferten Tourniquets, Verbände, blutstillende Mittel, Medikamente, Tragen und Notfallequipment für die Evakuierung von Verwundeten direkt aus dem Kampfgebiet. Unser Schlafzimmer wurde zum provisorischen Lager. Dort lagerten die Hilfsgüter. Dort verpackten wir medizinische Sets, stellten Erste-Hilfe-Ausrüstung zusammen – wie in einer kleinen Manufaktur des Widerstands.

Damals war Odessa kaum wiederzuerkennen. Eine Stadt, die sonst zu jeder Jahreszeit vor Leben sprühte, voller Leichtigkeit, Musik und Genuss – nun war sie leer, konzentriert, still. Die Straßen lagen wie erstarrt. Der Alltag war verschwunden. Geblieben war eine ernste Wachsamkeit. Viele Einwohnerinnen und Einwohner – vor allem Frauen und Kinder – flohen nach Moldawien, Rumänien, Bulgarien oder in andere Länder, die erschöpfte Ukrainer mit offenen Armen aufnahmen. Auch einige Rotarier aus Odessa verließen die Stadt. Doch die, die blieben, rückten enger zusammen. Sie halfen, unterstützten, organisierten – und wurden zur Stütze füreinander.
Wir tauschten Informationen über Hilfsbedürftige aus, vernetzten uns, koordinierten Hilfe. Ein zentraler Treffpunkt war das Postfracht-Terminal: Hier kamen humanitäre Lieferungen aus aller Welt an, organisiert von Rotary Clubs und Distrikten. Hier wurden Hilfsgüter empfangen, sortiert und weiterverteilt. Und hier stellte man auch die einfachen, aber wichtigen Fragen: "Wie geht’s dir?" – "Was brauchst du?" – "Wer braucht gerade Hilfe?" Diesen Ort gibt es nicht mehr. Am Abend des 1. Mai 2024 wurde das Terminal bei einem Raketenangriff vollständig zerstört. Geblieben sind Erinnerungen – und Fotos, auf denen wir Seite an Seite zu sehen sind, als Gemeinschaft, die hilft.

Rotary bedeutete für uns immer schon Gemeinschaft. Doch erst in diesen Monaten, unter den Bedingungen von Krieg, Gefahr und Verlust, haben wir ganz neue Seiten aneinander entdeckt: Menschlichkeit, Wärme, Solidarität – Qualitäten, die in ruhigeren Zeiten kaum sichtbar waren, nun aber das Fundament unseres Miteinanders bildeten. Diese rotarische Solidarität war kein Phänomen, das nur Odessa betraf. Sie zeigte sich im ganzen Land – überall dort, wo Rotarier aktiv waren. Diese nationale Einheit, gepaart mit der Menschlichkeit und gewaltigen Unterstützung des globalen Rotary-Netzwerks, wurde zu einem zentralen Pfeiler unseres Durchhaltevermögens.

Über das rotarische Netzwerk organisiert: dringend benötigte Generatoren
Über das rotarische Netzwerk organisiert: dringend benötigte Generatoren

MYKOLA: Die Hilfe, die Rotary der Ukraine in den vergangenen drei Jahren geleistet hat, lässt sich kaum in Worte fassen. In dieser Zeit hat jeder ukrainische Rotarier die Stärke dieser Gemeinschaft gespürt – und den tiefen Wunsch der Freunde weltweit, ihnen in der Not beizustehen. Die Einrichtung des Sonderfonds für Katastrophenhilfe durch RI war ein Meilenstein. Dank großzügiger Spenden kamen 18 Millionen Dollar zusammen. Mehr als 500 Projekte konnten mit diesen Mitteln umgesetzt werden – darunter medizinische Versorgung, Notunterkünfte, Lebensmittel, Bildungsmaterialien und psychologische Unterstützung für Geflüchtete und Betroffene. Darüber hinaus ermöglichte der Fonds die direkte Versorgung der Ukraine mit lebenswichtigen Gütern. Noch umfangreicher war die Hilfe, die direkt durch rotarische Distrikte, Clubs und Einzelpersonen in die Ukraine gelangte. Um deren Verteilung zu koordinieren, entstand ein landesweites Netzwerk von mehr als zehn Rotary-Hubs. Sie bildeten das Rückgrat einer logistischen Kette, die mit rotarischen Freunden in aller Welt begann. Hilfslieferungen wurden zunächst nach Polen geflogen, von dort aus per Bus und Lkw in ukrainische Städte transportiert, wo sie über Rotarier weitervermittelt wurden. Dieses Modell funktioniert bis heute.

OLGA: Mit der Zeit lernt man, mit der ständigen Bedrohung zu leben. Man akzeptiert, dass das eigene Leben jederzeit durch eine feindliche Rakete beendet werden könnte. Am 23. April 2022, einen Tag vor Ostern, erlebte Odessa einen der verheerendsten Angriffe seit Kriegsbeginn. Die Einschläge trafen genau jenen Stadtteil, in dem wir leben. Die Detonationen waren ohrenbetäubend.

Eine der Raketen traf ein Mehrfamilienhaus. Ihr Einschlag zerstörte eine Wohnung, in der sich eine junge Mutter mit ihrem drei Monate alten Baby und ihrer eigenen Mutter im Badezimmer während des Luftalarms versteckt hatte. Alle drei starben auf der Stelle. Der einzige Überlebende war der Vater des Kindes – er war kurz zuvor losgegangen, um Lebensmittel für das Osterfest zu besorgen. Insgesamt kamen in diesem Gebäude acht Menschen ums Leben, darunter auch ein junges Paar, das ein Kind erwartete.

Dieser Angriff war ein Schock für ganz Odessa. Inmitten all des Schreckens hatten viele auf Ostern gehofft – auf ein wenig Licht, auf Frieden, auf Trost. Mehr und mehr hörten wir auf, bei Luftalarm in unser Badezimmer zu flüchten. Es schien sinnlos.

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© RI

Eineinhalb Jahre nach dem Angriff ereilte uns die nächste erschütternde Nachricht: Yuriy Glodan, der überlebende Vater, fiel am 12. September 2023 im Einsatz. Vor Kurzem wurde eine Straße in unserer Nachbarschaft nach der Familie benannt: die Glodan-Familien-Straße.

MYKOLA: Drei Jahre intensiver humanitärer Arbeit der Rotary Clubs in der Ukraine haben zu einem bemerkenswerten Ergebnis geführt: Rotary ist sichtbar geworden. Rotarier haben gezeigt, was es heißt, "People of Action" zu sein. Auch unter extremen Bedingungen. Auch unter Lebensgefahr.
Rotary ist in der ukrainischen Gesellschaft angekommen. Für Behörden, Institutionen und Zivilgesellschaft sind wir ein verlässlicher Partner in der Krisenbewältigung geworden. Und das hat Wirkung gezeigt: In den letzten drei Jahren ist die Zahl der Rotarier in der Ukraine um rund 40 Prozent gestiegen. Trotz aller Gefahren und Entbehrungen setzen die ukrainischen Rotarier ihren Dienst fort – getragen vom Rückhalt einer weltweiten Gemeinschaft, die mehr ist als ein Netzwerk: Sie ist eine Familie.

Olga und Mykola Stebljanko
Rotary E-Club Ukraine