Titelthema
Leben wir im "Zeitalter des Menschen"?
15 Jahre lang wurde debattiert, jetzt lehnten Geologen das Anthropozän als neue Epoche der Erde ab. Also weiter wie bisher?
In den letzten Jahrhunderten hat sich das Klima der Erde in einem beispiellosen und zunehmenden Tempo verändert, im Wesentlichen verursacht durch menschliche Aktivitäten (IPCC 2023). Das Klima der Erde unterlag zwar schon immer Schwankungen, aber aufgrund menschlicher Eingriffe liegen diese Schwankungen nicht mehr innerhalb der bisher bekannten natürlichen Grenzen des Klimas des Holozäns, dem 12.000 Jahre dauernden gemäßigten Intervall, in dem wir leben. Eine neue Ära in der Geschichte der Erde hatte begonnen, die maßgeblich vom Menschen beeinflusst wurde. Crutzen und Stoermer (2000) nannten diese neue Periode das „Anthropozän“ – das Zeitalter des Menschen.
Wenn das Anthropozän als formelle Zeiteinheit eingeführt werden sollte, musste dies durch die dafür zuständigen Gremien bestätigt werden. Für die Einteilung der geologischen Zeit war die Internationale Kommission für Stratigrafie zuständig. Zur Klärung dieser Frage gründete sie im Jahr 2009 eine Anthropozän-Arbeitsgruppe (AWG).
Doch wann begann das Anthropozän? Menschen leben seit über 200.000 Jahren auf der Erde. Heute weiß man, dass sie vor mindestens 40.000 Jahren begonnen haben, Flora und Fauna erheblich zu beeinflussen, wie die Ankunft der Aborigines in Australien belegt. Seitdem hat der menschliche Einfluss auf die Natur bis heute stetig zugenommen.
Ursprünglich wollte Crutzen sein Anthropozän mit der industriellen Revolution beginnen lassen, die im 18. Jahrhundert in England und Deutschland begann. In anderen Teilen der Welt jedoch begann die Industrialisierung zu sehr unterschiedlichen Zeiten. Zum Beispiel hat sie unter den indigenen Völkern des Amazonas-Gebietes bis heute noch nicht begonnen. Die Geologen suchten aber nach einem festen Anfangspunkt für das Anthropozän, so wie es für die anderen Erdzeitalter üblich war. Sie suchten nach einem Ereignis, das auf der ganzen Welt gleichzeitig stattgefunden hatte.
Der schnelle Anstieg der menschlichen Aktivität, insbesondere der globalen Industrialisierung und deren Folgen in den letzten Jahrzehnten, ist das entscheidende Merkmal des Anthropozäns. Diese „große Beschleunigung“ umfasst das immer raschere Bevölkerungswachstum, die steigenden Kohlendioxid- und Methangaswerte in der Atmosphäre und die wachsende Verschmutzung von Land und Meeren – sämtlich Faktoren, die zur zunehmenden Erwärmung der Erde führen. Der plötzliche Anstieg dieser Entwicklung begann Mitte des 20. Jahrhunderts. Er fiel ungefähr mit der Entwicklung der Atombomben zusammen. Die ersten beiden Atombomben, die 1945 über Japan abgeworfen wurden, hinterließen weltweit nur sehr geringe Spuren von Strahlung. Jedoch setzten die anschließenden oberirdischen Tests von Atombomben durch die USA und Russland deutlich mehr Radioaktivität in der Atmosphäre frei. Plutoniumisotope aus diesen Kernwaffentests sind überall auf der Erde nachweisbar, so zum Beispiel auch in Seesedimenten. Die Tests endeten schließlich nach der Unterzeichnung des „Vertrages über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser“ 1963. Die Spuren dieser Tests schienen daher geeignet, den Beginn des Anthropozäns zu definieren.
Plutonium ab den 1940ern nachweisbar
Im Jahr 2023 schlug eine internationale Forschungsgruppe vor, den Beginn des Anthropozäns in den Ablagerungen eines Sees im südlichen Ontario (Kanada) festzulegen. Die Gruppe veröffentlichte zu diesem Thema eine Reihe von wissenschaftlichen Artikeln in Science und Nature, gleichzeitig mit allgemeinen Zusammenfassungen zum Beispiel in den Zeitungen The Times und The Guardian.
Der Crawford Lake in Kanada war ein idealer Ort für die Festlegung dieser Grenze. In den Sedimenten dieses Sees können Sommer- und Winterschichten unterschieden werden. Durch das Zählen der Jahresschichten lässt sich das Alter der Seeablagerungen genau bestimmen. In den Ablagerungen im Crawford Lake ist Plutonium ab Ende der 1940er Jahre nachweisbar. Es folgte ein rascher Anstieg bis zu einem Höhepunkt im Jahr 1952.
Ähnliche Seen wie der Crawford Lake sind nicht selten. In Deutschland sind derartige Ablagerungen im Meerfelder Maar vorhanden. In diesen Schichten ist die Klimaentwicklung seit dem Ende der letzten Eiszeit vor 12.000 Jahren dokumentiert. Trotz der Ergebnisse der Untersuchungen aus dem Crawford Lake und von anderen Orten lehnte die Deutsche Stratigraphische Kommission (DSK) das Konzept des Anthropozäns ab. Das Gremium befand, dass der Begriff in der Geologie einfach unnötig sei. Das Zeitalter des Menschen sei zu kurz, um im Vergleich zur gesamten Erdgeschichte als eigenständiger Zeitabschnitt ausgegliedert zu werden. Unser Planet wurde vor 4,5 Milliarden Jahren gebildet, und Leben existiert auf der Erde seit etwa drei Milliarden Jahren.
In der Geologie wird die Erdgeschichte hierarchisch in verschiedene Perioden eingeteilt. Diese Epochen dauern typischerweise zehn bis Hunderte Millionen Jahre. Nehmen wir zum Beispiel die Kreidezeit, das Zeitalter, das von den Dinosauriern dominiert wurde. Die Kreidezeit dauerte 80 Millionen Jahre. Nach dem kanadischen Vorschlag hat das Anthropozän dagegen bisher nur 70 Jahre gedauert, also weniger als ein Millionstel der Kreidezeit. Daher stellt das Anthropozän aus geologischer Sicht „weniger als einen Wimpernschlag“ dar. Tatsächlich hat das Anthropozän gerade erst vor weniger als einer menschlichen Lebensspanne begonnen, und niemand weiß, ob es weitere zehn Millionen Jahre dauern oder vielleicht schon übermorgen enden wird.
Als es 2024 schließlich zur Abstimmung kam, lehnten die stimmberechtigten Mitglieder der Subkommission für Quartärstratigraphie, des Gremiums, das für die Einteilung der Zeit im Eiszeitalter verantwortlich ist, den kanadischen Vorschlag mehrheitlich ab. Sie wollten das Anthropozän nicht als formelle chronostratigrafische Einheit mit einer festgelegten Basis von 1952 anerkennen.
Aber ist das auch das Ende der Diskussion? Nein, sicherlich nicht. Nur der Vorschlag in seiner aktuellen Form ist abgelehnt worden, nicht das Konzept des Anthropozäns selbst. Es ist klar, dass die Menschen ihre natürliche Umwelt beeinflussen, und das in zunehmendem Maße. Dieses Thema wird zweifellos in den kommenden Jahren weiter diskutiert werden. Auch wenn das Anthropozän nicht sofort als formelle Einheit anerkannt wurde, besteht kein Zweifel an seiner Existenz. Der Begriff wird weiterhin als ein flexibel definiertes „Ereignis“ betrachtet werden, das zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten auf der Welt beginnt – so wie es ursprünglich auch Crutzen (2002) in Nature beschrieben hat.
Jürgen Ehlers ist Geograf und Schriftsteller und lehrte an der Universität Bremen. Seine Spezialgebiete sind die Eiszeitforschung und die Küstenmorphologie.
Philip Gibbard ist Prof. em. an der Universität Cambridge und Dozent an der Universität Helsinki. Er gehört weltweit zu den renommiertesten Stratigrafen.