Nachruf
Staatsmann mit klarem Kompass
Mit dem Tod von Wolfgang Schäuble verliert die Bundesrepublik einen Politiker von scharfem Intellekt. Er besaß die Fähigkeit, die großen Linien der Geschichte zu sehen und in die Anforderungen des Tages zu übertragen.
von Ulrich Schlie
"Politik handelt immer erst dann, wenn das Kind im Brunnen hängt und mit der letzten Fingerkuppe abzurutschen droht", so lautete ein Bonmot des langjährigen Staatssekretärs im Bonner Wirtschaftsministerium Otto Schlecht. Wolfgang Schäuble zitierte es in seinem Buch "Und der Zukunft zugewandt" (1994). Wenn ein Politiker mit Ideen und Vorschlägen aufwarte, so schrieb er damals, die über den Tag hinausreichten, dann sei es wahrscheinlicher, dass er damit die große Koalition der Bedenkenträger auf den Plan rufe.
Damals war Wolfgang Schäuble einflussreicher Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion des Deutschen Bundestags. Er war ein geschliffener Debattenredner, ein politisches Allround-Talent, das schon damals über zwei Jahrzehnte im Deutschen Bundestag saß. Er war auch eine Art Kronprinz von Helmut Kohl, was ihm in der Bezeichnung nicht gefiel, weil er wusste, dass Demokratien keine Kronprinzen kennen.
Bundesinnenminister zur Zeit der Wiedervereinigung
Schon in seinen ersten 20 Jahren als Politiker hat er eine tiefe Furche gezogen. Er war ab 1984 einflussreicher Kanzleramtsminister unter Helmut Kohl, Bundesinnenminister in den turbulenten Monaten der deutschen Wiedervereinigung und Verhandler des Vertrags über die deutsche Einheit.
Wolfgang Schäuble war eine Persönlichkeit mit klarem Kompass. Politik war sein Leben, aber er gehörte nie zu jenen Vollblutpolitikern, die nichts anderes kannten: Die eigene Familie, auch als Rückzugsraum, die Festigkeit in seinem protestantischen Glauben, das hohe Verständnis für Musik, sportlich der Ausgleich beim Tennisspiel waren ihm wichtig. Wolfgang Schäuble war ein lesender Mensch, und er reflektierte unablässig die Zeitläufte. Vielleicht ist es diese ungewöhnliche Kombination, die ihn, neben seinem scharfen Intellekt, in der politischen Klasse der Bundesrepublik so herausragen ließ. Nie ließ er sich auf nur eine Rolle reduzieren, und er besaß die Fähigkeit, die großen Linien der Geschichte zu sehen und in die Anforderungen des Tages zu übertragen.
Der CDU-Politiker hatte Nerven wie Drahtseile. Er ließ sich weder von hysterischen Untergangsszenarien noch vom Jahrmarkt der Eitelkeiten beeinflussen. Es hat wohl mit jener Fähigkeit zu tun, den Dingen ganz auf den Grund gehen zu können und die Frage nach der Finalität von staatlichen Ordnungen zu stellen. Jedenfalls erkannte und durchdachte er die grundstürzenden Veränderungen, die mit der Vereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit 1990 verbunden waren, in ihren ganzen Konsequenzen früher als andere.
Deutsche Frage und europäisches Gleichgewicht gehörten immer auch zusammen. Dies war schon das Erbe des Problems der halbhegemonialen Stellung des Deutschen Reiches im europäischen Staatssystem nach 1871. Auch nach 1990 waren die Fragen der Nachbarn und Partner an Deutschland geblieben. Wolfgang Schäubles konsequente Beschäftigung mit den Themen "Was wird aus Europa?" und "Wie kann man die Europäische Union zukunftsfest machen?" hatte auch mit den im Vertrag von Maastricht begründeten strukturellen und geopolitischen Veränderungen der Lage Europas zu tun. Das "Schäuble-Lamers-Papier" zu Europas Zukunft vom September 1994 ist bis heute als strategischer Grundsatzentwurf Maßstab.
"Scheitert der Westen?"
Wolfgang Schäuble war gewiss kein Enthusiast bezüglich der Einführung der Gemeinschaftswährung, der Verwirklichung der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion gemäß dem Maastrichter Vertrag. Trotzdem hat er dann den Euro, als er das Unausweichliche identifiziert hatte, auf die von ihm als bestmöglich erkannte Weise politisch zu begleiten versucht. Parallelen zu seiner Rolle als Finanzminister in der Finanzkrise 2008/2009 und im Umgang mit Griechenlands Staatsverschuldung liegen nahe. Europas Stellung in der Welt, Fragen der institutionellen Reform der Europäischen Union, die mit den Jahren nicht abnehmende Sorge um das transatlantische Verhältnis blieben bis zum Schluss Themen, denen seine ganze Aufmerksamkeit galt. "Scheitert der Westen?", fragt denn auch einer seiner Bestseller im Titel.
Der zweite große Strang, der sich durch dieses beeindruckende Politikerleben zieht, ist Konsequenz der Conditio Germaniae, den Erfahrungen der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert geschuldet. Wolfgang Schäuble war 1942 geboren worden. Er zog als gerade 30-jähriger, promovierter Jurist und Fachmann für Fragen des Steuerrechts 1972 in den Deutschen Bundestag ein. Erst sieben Jahre vorher hatte Bundeskanzler Ludwig Erhard im Hohen Haus das "Ende der Nachkriegszeit" verkündet. Die leidenschaftlichen Diskussionen der 1960er und 1970er Jahre: um die Verjährung von Verbrechen während der NS-Zeit, um die Ostpolitik und die Bindungswirkung der Ostverträge, um die Interpretation der Rechtslage Deutschlands – dies waren auch die politischen Debatten, die Wolfgang Schäuble geprägt haben.
Verhandler des Einheitsvertrages
Deutschlandpolitik war im Kern immer Berlin-Sicherheitspolitik. Der Eiserne Vorhang hatte das Land in einen freien und einen unfreien Teil getrennt. Die Bundesrepublik Deutschland war Frontstaat, die innerdeutsche Grenze Abbruchkante der freien Welt. Schon als Bundeskanzleramts-Chef unter Helmut Kohl hat Wolfgang Schäuble mit einem kleinen Kreis von Vertrauten – der "Schäuble-Runde" im Bundeskanzleramt ab Mitte der 1980er Jahre – Konsequenzen der Deutschen Frage auf weite Sicht zu formulieren versucht. Rechtsfragen, Fragen des Status von Berlin, das Verhältnis zu den Vier Mächten und immer auch humanitäre Fragen verbanden sich dabei zu einem Ganzen.
Wolfgang Schäuble wollte eine Veränderung des Status quo, aber er wusste auch um die Begrenztheit der Spielräume der Politik, um die Grenzen der Macht. Als der Vorsitzende des Staatsrats der DDR und Generalsekretär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Erich Honecker, im September 1987 von Bundeskanzler Helmut Kohl und seinem Kabinett mit protokollarischen Ehren und großem Zeremoniell zum Besuch in Bonn empfangen wurde, trug Wolfgang Schäuble aus innerem Protest den ältesten Anzug, den er im Kleiderschrank hatte.
Es war ein Glücksfall für Deutschland, dass Wolfgang Schäuble, ab April 1989 nun Bundesinnenminister, von Helmut Kohl mit den Verhandlungen zum Einheitsvertrag betraut wurde.
Ein Pflichtmensch auf vorbildliche Weise
Das Attentat eines geistig Verwirrten bei einer Wahlkampfveranstaltung in der baden-württembergischen Heimat im Oktober 1990, wenige Tage nach der Vollendung der staatlichen Einheit, zwang ihn für den Rest seines Lebens querschnittgelähmt in den Rollstuhl. Er war ein Pflichtmensch, der persönliche Belange vollständig zurückstellen konnte, intellektuell neugierig, offen für Neues und aufgeschlossen auch für unorthodoxe Lösungen. Er verkörpert in seiner Biografie das Beste, was einem Staat als Gemeinwesen durch einen Diener des Staatsganzen passieren kann: Augenmaß und Leidenschaft, Heiterkeit und Härte gegen sich selbst verbanden sich dabei.
Wolfgang Schäuble wurde nie Bundeskanzler und auch nicht, obwohl er zweimal ganz kurz davor war, Bundespräsident. Im ersten Fall waren es die Launen der Geschichte und die Nachwirkungen der Parteispendenaffäre, die ihm sein Vorgänger im Amt des Parteivorsitzenden, Helmut Kohl, hinterlassen hatte, die ihm das Amt verwehrt haben. Im zweiten Fall, beim Amt des Bundespräsidenten, war es das parteitaktisch-persönliche Kalkül der damals amtierenden Bundeskanzlerin.
Es wäre indes ganz verfehlt, Wolfgang Schäubles politische Vita von der Nichterreichung dieser Ziele her zu erklären. In den 1990er Jahren hat er in seinen Reden häufiger Hölderlin zitiert – "Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch". Und in Anlehnung an Albert Camus erklärte er, dass man sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen möge.
In Zeiten, in denen Politikverdrossenheit zu einem pandemischen Phänomen geworden ist und die Verwirklichung des Ego großgeschrieben wird, hebt sich Wolfgang Schäubles Weg auf vorbildliche Weise ab. General de Gaulle rühmte in seinem Beileidstelegramm nach Adenauers Tod die Tatsache, dass der erste Bundeskanzler dem gesunden Menschenverstand in Deutschland wieder zu seinem Recht verholfen habe. Wolfgang Schäuble war ein Mann des gesunden Menschenverstandes. Er hat das verkörpert, was Konrad Adenauer so häufig mit "Stetigkeit" beschrieben hat.
Züge der anderen Seite im Voraus zu berechnen und dies bei der eigenen zu berücksichtigen – die Fähigkeit eines guten Schachspielers – beherrschte Wolfgang Schäuble auch im politischen Spiel der Kräfte. Er war ein scharfer Analytiker, aufmerksamer Beobachter und umsichtig Handelnder. Manchmal verfolgte er Diskussionen als Zuhörer scheinbar unbeteiligt, um dann am Ende umso klarer mit seiner Zusammenfassung den Weg nach vorn aufzuzeigen. Wertegebundenheit, Bekenntnis, Verhandlungsgeschick: Was Wolfgang Schäuble als politischen Akteur so herausragen ließ, war auch in der persönlichen Zusammenarbeit maßgeblich. Ordnung, ein Gespür für Prioritäten und das Wesentliche, dies bestimmte auch die Struktur des Tages. Auf die Vorbereitung seiner Reden legte er ganz besonderen Wert. Sie trugen seine Handschrift. Wolfgang Schäuble war eine Ausnahmegestalt und ein Glücksfall für unser demokratisches Gemeinwesen.
Dieser Artikel ist zuerst erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung.
Ulrich Schlie ist Historiker und Henry-Kissinger-Professor für Sicherheits- und Strategieforschung an der Universität Bonn. Er gehörte 27 Jahre dem deutschen Auswärtigen Dienst an und war von 1995 bis 2000 als Angestellter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Mitarbeiter des damaligen Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Schäuble.