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100 Tage Hoffnung

Blick auf die ersten Aktionen der neuen Bundesregierung: Von einem Neustart mit Altlasten schreibt Paul Kevenhörster.
Nach 100 Tagen der neuen Bundesregierung ist es an der Zeit, eine erste Zwischenbilanz zu ziehen. Diese muss Antworten auf drei Fragen geben:
1. Was hat der Neustart in Bewegung gesetzt?
2. Welche drängenden Herausforderungen zeichnen sich ab?
3. Welche Baustellen werden liegengelassen?
Ein verheißungsvoller Neubeginn: die Wiederentdeckung Europas
Am markantesten hat sich der Neustart der schwarz-roten Koalition auf das Profil der Bundesregierung in der Außen- und Europapolitik ausgewirkt. Mit Friedrich Merz sind ein neuer Ton, aber auch eine neue Substanz in die deutsche Außenpolitik eingekehrt. Das gilt zunächst für das Verhältnis der Bundesregierung zur amerikanischen Regierung, aber ebenso für die Beziehung zum französischen Präsidenten, dem der Kanzler als engstem europäischen Nachbarn unmittelbar nach seiner Amtsübernahme einen Besuch abstattete. Am gleichen Abend reiste er auch nach Warschau und sandte damit zugleich ein unübersehbares Signal nach Moskau.
Der französische Präsident und der Bundeskanzler müssen alte Differenzen überwinden und Zuversicht und Tatkraft ausstrahlen: in der Wirtschaftspolitik, der Verteidigungspolitik sowie in der Energiepolitik und in der Raumfahrt. Dies ist ihnen offensichtlich gelungen: Die französischen Medien haben das Duo Merz und Macron inzwischen "Merzcron" getauft. Dieses Duo könnte zusammen mit dem britischen Premierminister zu einem Trio werden, das der Europapolitik dringend benötigte Impulse gibt.
Der Kanzler ist bei der Fortsetzung dieses vielversprechenden Neubeginns allerdings auch auf einen kooperationsfähigen Koalitionspartner angewiesen. Doch hier zeigen sich erste Probleme. Die SPD steht in der aktuellen Diskussion um die Eckwerte der deutschen Außenpolitik vor der Herausforderung, die Friedensträume ihrer alten Seilschaften aus der Zeit der "Russland-Connection" wieder auf den Boden der Wirklichkeit herunterzuholen. Der Kanzler tut daher gut daran, die Sozialdemokraten dazu zu bewegen, veraltete gesinnungsethische Positionen zu räumen und zusammen mit Verteidigungsminister Boris Pistorius eine mehrheitsfähige Position verteidigungspolitischer Verantwortungsethik zu erarbeiten.
Die Frankfurter Friedensforscherin Nicole Deitelhoff hat die zentrale Herausforderung der Sicherheitspolitik vor diesem Hintergrund so umrissen: "Die optimistische Vision ist ein selbstbewusstes Europa, das aus seinen Strukturen heraus- beziehungsweise über sie hinauswächst und das die regelbasierte Ordnung am Leben hält. Ein Europa-Plus, in dem die Europäische Union sich zumindest in einigen Bereichen mit anderen Staaten zusammenschließt." Dabei sei an Großbritannien, Kanada, Neuseeland, Australien, Japan und Südkorea zu denken. Das unablässige Werben des Kanzlers um die verteidigungspolitische Anbindung des amerikanischen Präsidenten an die europäische Ukraine-Politik weist zugleich darauf hin, wie sehr die Sicherheit Europas auch künftig von der amerikanischen Unterstützung abhängt.
Weichenstellungen der Wirtschaftspolitik – ein Neubeginn mit Widersprüchen
Die Bundesregierung hatte geplant, bis zur Sommerpause ein Maßnahmenpaket für eine umfassende Entlastung der Bürger und der Unternehmen bei den Energiekosten zu verabschieden. Die Stromsteuer sollte auf das europarechtliche Minimum abgesenkt werden und die Netzentgelte entsprechend reduziert werden. Bei der Umsetzung dieser Pläne wird die Bunderegierung darauf achten müssen, dass das Sondervermögen nicht verpufft: Zusätzlichkeit und Wirkungsorientierung der neuen wirtschaftspolitischen Maßnahmen sind gesetzlich abzusichern. Die Koalition sollte zugleich ein umfassendes Monitoring des Kernhaushaltes vornehmen. Jeder Haushalt muss künftig zusätzlich zur Investitionsquote auch die Zukunftsquote ausweisen, die den Mitteleinsatz für Natur-, Sach- und Humankapital sowie des technischen Wissens widerspiegelt. Diese Weichenstellungen schlagen sich auch in der Haushaltspolitik nieder. Lars Feld, der wirtschaftspolitische Berater des Finanzministers, bemängelt am Entwurf des Bundeshaushaltes 2025, der Kernhaushalt stelle weniger Geld für Investitionen bereit, als ursprünglich vorgesehen, und öffne stattdessen neue Spielräume für größere Konsumausgaben, die für Sozialleistungen, Subventionen und Konsumausgaben verbraucht würden.
Eine weitere Baustelle kommt hinzu: Zu beschneiden ist der Wildwuchs industriepolitischer Subventionen als Folge einer bequemen Gefälligkeitspolitik. Auf den Prüfstand der Kritik gehört ebenso der Bundeszuschuss zur Rentenkasse. Die neue Regierung sollte daher von weiteren, auf Dauer nicht haltbaren Zusicherungen an einzelne Wählergruppen absehen. Sonst kann die angestrebte Reform der Schuldenbremse zu einer Zerreißprobe für die Koalition werden. Wachstumsfördernde Investitionen allein verdienen staatliche Förderung.
Seit jeher ist die Verhandlungsdynamik innerhalb der Koalition dadurch gekennzeichnet, dass jeder Partner gerne in die Tasche des anderen greift und dessen Finanzierungsvorschläge für neue Vorhaben zugunsten der eigenen Klientel in Frage stellt. Dieses haushaltspolitische "Fingerhakeln" ist ebenso verständlich wie vermeidbar: Es fordert ein zentrales Management des Kanzleramtes heraus – und damit letztlich die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers. Doch diese droht immer wieder dem politisch opportunen Ziel der Wahrung des Zusammenhalts der Koalition geopfert zu werden – wie schon oft in der Vergangenheit.
Einstweilen spricht die schwarzrote Koalition noch mit zwei Stimmen: Mit der einen fordert sie einen entschlossenen Rückbau der staatlichen Verwaltung und will mit einem Investitionsbooster das wirtschaftliche Wachstum ankurbeln, mit der anderen Stimme allerdings will sie die Ausgaben für die Renten erhöhen und durch das Tariftreuegesetz kleinen und mittleren Unternehmen zusätzliche Lohnkosten auferlegen. So gerät auch die Politik der neuen Koalition in Widerspruch zu ihren eigenen Zielen. Vordringlich sind indessen vor allem eine Reform der Schuldenbremse, der Rentenpolitik und des Bürgergeldes.
Vergessene Baustellen
Philip Banse und Ulf Buermeyer haben wichtige, aber schnell verdrängte Aufgaben der Bundesregierung aufgezeigt: Das Wohlstandsversprechen der Politik wird unglaubwürdig, wenn die gesellschaftliche Ungleichheit weiter wächst und sich zudem verhärtet. In der "trügerischen Prosperität der Merkel-Jahre" hatten sich die Deutschen wohlig eingerichtet und dabei die Herausforderungen der Modernisierung "schnell wieder vergessen" (Oliver Georgi). Ihre Politiker erkennen jetzt zwar die drängenden Probleme, leiden aber unter einem anhaltenden "Umsetzungsdefizit". Was ist zu tun? Das Bildungssystem ist so zu gestalten, dass alle jungen Menschen tatsächlich die Chance auf eine gute Bildung erhalten – unabhängig von ihrer Herkunft und dem Status der Eltern. Doch lange Zeit haben die Bundesregierungen sozialpolitischen Wohltaten Vorrang gegenüber öffentlichen Investitionen eingeräumt.
Eine weitere Baustelle ist das gesetzliche Rentensystem, das weithin als ungerecht, teuer und auch als wenig effektiv wahrgenommen wird. Der Wirtschaftsweise Martin Werding hat regelmäßige Anhebungen des Renteneintrittsalters vorgeschlagen: Eine Erhöhung der Regelaltersgrenze von 2031 an um sechs Monate alle zehn Jahre würde dazu betragen, das Rentenniveau zu stabilisieren. Wegen der demographischen Alterung sollten die Rentenausgaben gedämpft und nicht noch weiter ausgeweitet werden. Als Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche auf den Zusammenhang von Lebensalter, Arbeitszeit und Rente hinwies, ließ sich aber nicht einmal ansatzweise erkennen, dass die Bundesregierung zu einer umfassenden Bearbeitung dieser zentralen Frage bereit gewesen wäre. Der Bundeskanzler erweckte vielmehr den Eindruck, die von seinen beiden Vorgängern bevorzugte "Politik der konsequenten Realitätsverweigerung" fortführen zu wollen. Die gleichzeitig vom Finanzminister vorgeschlagene Erhöhung der Staatsschulden wirft daher die drängende Frage auf, wie das gut gehen soll.
In der Rentenpolitik kommt die Regierung derzeit nicht vom Fleck: Ihre Inkonsequenz spiegelt sich bereits in der populären Beschwörung der "Work-Life-Balance" – als ob es einen fundamentalen Gegensatz von Arbeit und Leben gebe und die Frühverrentung Politik und Gesellschaft eine zukunftsfähige Perspektive eröffne. Stattdessen gilt es, den Rotstift anzusetzen und die geplanten massiven Investitionen auf die Straße zu bringen. Doch das vom Kabinett verabschiedete Rentenpaket ist ein Dokument der Ohnmacht. Die führende Regierungspartei verzichtet auf die Forderung ihres eigenen Grundsatzprogramms, die Lebensarbeitszeit an die Lebenserwartung zu koppeln. So aber wird der Generationenvertrag von einer "Koalition der Verängstigten" (FAZ) zulasten der jüngeren Generation umgesetzt.
Eine offensichtlich immer wieder gerne verdrängte Baustelle ist die Bekämpfung des Rechtsextremismus. Auf diese Herausforderung reagieren große Teile der politischen Klasse jedoch mit einer Mischung aus Problemleugnung und gewohnheitsmäßiger Prokrastination. Die CDU scheint sich aus dieser Debatte sogar weitgehend verabschiedet zu haben. Wovor fliehen die Entscheider eigentlich? Gewiss: Die Risiken eines AfD-Verbotsverfahrens sind unübersehbar. Doch bleiben einer entschlossenen Politik der politischen Mitte drei Werkzeuge, mit denen sie den rechtsextremen Sumpf trockenlegen kann:
1. der Entzug der staatlichen Parteifinanzierung der "gesichert rechtsextremen" Partei
2. das Verbot der Jugendorganisation ("Junge Alternative", künftig "Junge Patrioten") mit ihrem markanten neofaschistischen Selbstverständnis und
3. der Entzug des passiven Wahlrechts nach einem Vorschlag der beiden Berliner Politikforscher Matthias Kumm und Michael Zürn für diejenigen AfD-Politiker, denen die Behörden eindeutige rechtsextreme Aussagen oder Aktionen zuordnen können.
Ferner erfordert die Wohnungsbaupolitik nach ihrem Scheitern in der Ampel-Koalition eine Wiederbelebung, wenn sie ihrem ehrgeizigen Ziel des Neubaus von mehreren hunderttausend Wohnungen im Jahr nahekommen will. Ihre Belebung lässt sich durchaus mit dem Ziel des Bürokratieabbaus verbinden: Die Wirtschaftswissenschaftlerin Veronika Grimm hat jüngst noch daran erinnert, dass das deutsche Baurecht dringend Standardisierungen und die Abschaffung von Vorschriften benötigt, damit schneller und seriell gebaut werden kann.
Im aktuellen Streit um Vorschläge für die Wahl von Kandidaten für das Amt eines Bundesrichters am Bundesverfassungsgericht sollten die Koalitionsparteien über ein neues Nominierungsverfahren nachdenken, das mehr Offenheit und Transparenz schon im Vorfeld der Kandidatenaufstellung garantiert, politisches Grundvertrauen festigt und Missverständnisse in den beteiligten Bundestagsfraktionen gar nicht erst aufkommen lasst.
Ist die schwarz-rote Koalition handlungsfähig und kann sie wieder ein Gefühl des Aufbruchs vermitteln? Der Optimismus scheint jedenfalls zerbrechlich. Politiker pflegen koalitionspolitische Ohnmacht gerne mit "Macher-Phrasen" zu kaschieren und Angst vor Entscheidungen mit der Simulation von Tatkraft. Die verschobene Nominierung der Bundesverfassungsrichter und der Koalitionsstreit um die Abschaffung der Stromsteuer zeigen: Ein aufkommender Optimismus wird gerade von denjenigen gefährdet, die Versuche der Lösung anstehender Probleme gerne zerreden. Immerhin kündigen sich erste Erfolge der außen- und sicherheitspolitischen Kurskorrektur an: Die Verteidigungsbereitschaft der Bundesrepublik wird international eher unterschätzt, und die Bundeswehr geht längst "neue Wege", wie die Sicherheitsexperten Florence Gaub und Roderick Parkes beobachtet haben.
Welche Aufgabe kommt der parlamentarischen Opposition zu? Kritik, Kontrolle und politische Alternativen sind ihre klassischen Funktionen. Zur Wahrnehmung dieser Aufgaben sind die rechten und linken Flügelparteien derzeit in verantwortlicher Weise aber kaum in der Lage. Und die Grünen? Diese scheinen, wie der Berliner Tagesspiegel anmerkt, das "Maß der Mitte" aus den Augen verloren zu haben. Stattdessen sollten sie konkret aufzeigen, wie die Politik die Zukunft unserer Gesellschaft nachhaltig und lebenswert gestalten kann.
Nur durch einige mutige Schritte lassen sich die Herausforderungen meistern, die auf jahrzehntelange Unterlassungen und Fehlsteuerungen der Bonner und Berliner Politik zurückzuführen sind. Die Folgen kann man mit dem Mainzer Historiker Andreas Rödder auch als "intellektuelle Ermattung" und "selbstgewisse Behäbigkeit" umschreiben. Zu Recht hat der Bundeskanzler in seiner Sommerpressekonferenz eine negative Bilanz der Asylpolitik von Angela Merkel gezogen und eine Neuordnung der europäischen Asylpolitik angemahnt: Es geht darum, die Außengrenzen Europas künftig wirksamer zu schützen.
Bleibt aber der Neustart trotz eines verheißungsvollen Aufbruchs in der Außen- und Europapolitik etwa auf halbem Wege stecken? Zu Recht warnt der Vorsitzende der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft seine Partei davor, drei wichtige Baustellen der parlamentarischen Opposition zu überlassen: bezahlbare Wohnen, eine marode Bahn und sichere Arbeitsplätze. Hier ist politische Führung durch den Kanzler ganz besonders gefordert. Mit der Richtlinienkompetenz und dem Bundeskanzleramt verfügt er über zwei gewichtige Führungsinstrumente. Ein Problem bleiben jedoch die christdemokratische Bundestagsfraktion und ihre Führung: Vor einer Neuordnung sollte er nicht zurückschrecken. Denn nach dem Ende einer Wohlstandsförderung, die von der Substanz gelebt hat, braucht es einen freiheitlichen Aufbruch der bürgerlichen Mitte.

Paul Kevenhörster (RC Steinfurt) ist Professor emeritus für Politikwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Verfasser der Bücher "Strategie und Taktik. Ein Leitfaden für das politische Überleben", Baden-Baden 2024 (mit Benjamin Laag); "Politischer Kurswechsel im Gegenwind. Die Krise politischer Führung in Deutschland", Baden-Baden 2023.
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