https://rotary.de/gesellschaft/nach-dem-erwachen-ein-schmerzhafter-kurswechsel-a-25015.html
Aktuiell

Nach dem Erwachen: Ein schmerzhafter Kurswechsel

Aktuiell - Nach dem Erwachen: Ein schmerzhafter Kurswechsel
© Adobe Stock Photo

Politik zwischen behäbiger Selbstbehauptung und schöpferischem Neubeginn. Ein Beitrag von Paul Kevenhörster

Paul Kevenhörster05.03.2025

Das Ergebnis der Bundestagswahl und seine Kommentierung erinnern den Beobachter an den amerikanischen Bauern Rip van Winkle in der Erzählung von Washington Irving: Rip van Winkle fällt durch einen Zaubertrank in einen tiefen Schlaf. Nach dem Aufwachen in einer ihm unbekannten Umgebung muss er feststellen, dass er die weltpolitischen Ereignisse ganz einfach verschlafen hat. In dieser Welt, gekennzeichnet durch ein dramatisch gewandeltes internationales Kräftefeld und grundlegend veränderte Einflusssphären in den europäischen Staaten, muss es der neuen politischen Führung vorrangig darum gehen, den offensichtlichen Mangel an internationalem Gestaltungswillen – wie er in der routinierten Stimmenthaltung Deutschlands in den europäischen Gremien ("German vote") zum Ausdruck kommt – zu überwinden und ganzbesonders den Kurs der Außen-, Sicherheits- und Europapolitik neu zu bestimmen. Mit anderen Worten: Die Bundesregierung und ihre Wähler müssen sich aus den phlegmatischen Verhaltensroutinen der letzten Legislaturperioden lösen und deren außen- und sicherheitspolitische Hypotheken tilgen.

Abschied von der heilen Welt

Die "heile Welt der Demokratie, des Westens oder der Moderne" (Hedwig Richter) ist durch das zynische Entgegenkommen des amerikanischen Präsidenten gegenüber dem Aggressor Putin zusammengebrochen – aber auch durch das kleinmütige Verhalten mehrerer europäischer Staaten mit entscheidungsschwachen politischen Eliten. Nach dem dramatischen Ende dieser "Wohlfühlgeschichte" stehen die Europäer vor der drängenden Herausforderung, auf ihre Politik einen zugleich kritischen und selbstkritischen Blick zu richten und sich von den verhängnisvollen Illusionen der Vergangenheit zu verabschieden. Sie müssen dabei einen Mittelweg wählen zwischen der behäbigen Selbstbehauptung der vergangenen beiden Jahrzehnte und dem Prinzip der schöpferischen Zerstörung. Diesen Begriff hat der Ökonom Joseph Schumpeter in seiner Konjunkturtheorie geprägt: Der dynamische Unternehmer treibt Innovationen entschlossen voran und schafft dadurch wirtschaftliches Wachstum. Wie der wirtschaftliche entfaltet auch der politische Wettbewerb diese reinigende Wirkung und Gestaltungskraft.

Das Ergebnis der Bundestagswahl 2025 dokumentiert, wie sich die Fehlschläge der Wirtschafts-, Migrations-, Verteidigungs- und Gesellschaftspolitik in einem neuen Regierungsauftrag niederschlagen, der sich zwischen den beiden Polen der selbstgefälligen Selbstbehauptung und der Tabula rasa eines fundamentalen und letztlich selbstzerstörerischen Neubeginns bewegen muss. Damit sind jedoch Weichenstellungen verbunden, die fundamentale Korrekturen des politischen Denkens und tiefgreifende Reformen der damit verknüpften Interessenarrangements erfordern. Sie legen eine Politik nahe, die den Mut aufbringt, sich von den Irrtümern der Vergangenheit zu lösen. Im Vorfeld der Bundestagswahl haben jedoch Demoskopen keine Anzeichen für eine neue, breite Aufbruchstimmung in der Bevölkerung entdecken können. Entsprechend brachte eine Mehrheit der Befragten in den letzten Umfragen vor der Wahl keine Zuversicht auf einen grundlegenden Politikwechsel zum Ausdruck. Immerhin hat die Bevölkerung nach dem Ergebnis dieser Umfragen den Ernst der politischen Lage und das Unvermögen der politischen Führung erkannt: 83 Prozent der Befragten brachten bei einer Allensbach-Umfrage den Wunsch nach einer "stabilen, handlungsfähigen Regierung" als Ergebnis der Wahl und der anschließenden Kabinettsbildung zum Ausdruck. Dabei scheinen sie sich aber offenbar nicht darüber im Klaren zu sein, dass ihr Wunsch nach Stabilität in einem grundsätzlichen Widerspruch zur Forderung eines umfassenden politischen Neubeginns steht. Die Grünen-Abgeordnete Ricarda Lang hat zu Recht darüber geklagt, die liberalen Demokratien würden "immer schwülstiger in ihrer Selbstbeschwörung, aber immer substanzloser im Umgang mit der Wirklichkeit".

Zuallererst muss es darum gehen, dass sich die Parteien der Mitte und damit auch die neuen Koalitionsparteien von dem Scholz-Merkel-Gesetz des bequemen Regierens verabschieden. Kern dieses Gesetzes war das Regierungsmotto "Da darf niemand verängstigt werden" (Mona Jaeger). Die Anwendung dieses Gesetzes hat in den letzten Legislaturperioden ein in sich widersprüchliches und letztlich nicht wirkungsvolles Regierungshandeln begünstigt. Doch die neue Bundesregierung wird ihren Bürgern und den oft lautstarken Interessengruppen einiges zumuten müssen – in der Verteidigungspolitik wie in der Wirtschaftspolitik, beim Zurückschneiden von Subventionen wie beim Aufbau einer nachhaltigen, zukunftsfähigen Infrastruktur. Daher gilt es, Abschied zu nehmen von einem naiven, idealistischen Denkstil, den sich große Teile der Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten angeeignet haben: "Der Glaube an die Kraft des Guten hat in der Bundesrepublik dazu verleitet, die Welt zu idealisieren (Dirk Kurbjuweit).

Ein neuer Aufbruch

Erforderlich ist ganz im Sinne der früheren Kanzler Schmidt und Kohl ein kraftvolles Engagement der neuen Bundesregierung für Europa – und im Unterschied zur Tradition des feigen Abstimmungsverhaltens der Bundesregierung in den europäischen Gremien eine entschlossene Führungsrolle der Bundesregierung in der Europapolitik.

Es sollte daher ein vorrangiges Ziel des neuen Kabinetts sein, die perspektivlose und teilweise unprofessionelle Europapolitik der früheren Bundesregierungen zu entsorgen und durch ein neues Engagement zu ersetzen. Es sei daran erinnert, dass es die frühere Kanzlerin nicht einmal für nötig gehalten hat, die europapolitischen Vorschläge des französischen Präsidenten in seiner "Sorbonner Rede"einer Antwort für würdig zu halten – geschweige denn eigene Vorschläge zu präsentieren. Und weitere neue Aufgaben und Weichenstellungen kommen hinzu.

Die politische Führung sowie Wählerschaft und Interessengruppen müssen sich vor allem von fiskalischen Illusionen befreien: Wenn sie erst einmal die Schuldenbremse gelockert hätte, würde für sie die Versuchung zu groß werden, zum alten "Wünsch-Dir-was-Spiel"zurückzukehren. Der Preis dieser Illusionen: Steuererhöhungen, eine weitere Inflationierung der Schulden und ein stärkerer Verzehr des Wohlstandes (Rainer Hank).

In den letzten Jahren ist die Regierung in der Wirtschaftspolitik keinem klaren Kompass gefolgt. Stattdessen hat sie versucht, Standortnachteile der deutschen Wirtschaft aufgrund hoher Steuersätze, mangelhafter Infrastruktur und übergriffiger Bürokratie durch großzügige Subventionen zu kompensieren. Ein überzeugendes Konzept für eine nachhaltige Politik des Neubeginns fehlte. Von der Beseitigung dieser programmatischen Lücke wird es aber abhängen, ob es der neuen Bundesregierung gelingt, einen wirtschaftlichen Aufbruch insbesondere durch eine Senkung der Abgabenlast auszulösen. Dazu wird auch der Abschied von einer "grünen Weltsicht" im Wirtschaftsministerium und seinen nachgeordneten Behörden erforderlich sein.

Allianz der Abschreckung

Laut der Einschätzung führender Sicherheitsexperten muss die Bundesrepublik in den nächsten Jahren mit einer verstärkten militärischen Bedrohung durch Russland rechnen. Abschreckung ist daher das Gebot der Stunde. Dabei sollte nicht vergessen werden, die Voraussetzungen einer abschreckungsfähigen europäischen Verteidigungspolitik zu schaffen. Europa einschließlich Großbritanniens hat der Ukraine schon jetzt mehr Waffen zur Verfügung gestellt als die Vereinigten Staaten.

Für Europa könnte es sich daher auch langfristig als vorteilhaft erweisen, mehr Mittel als bereits geplant in den Ausbau der eigenen Rüstungsindustrie zu investieren. Hierzu ist eine entschlossene politische Führung erforderlich. Es reicht für die Europa- und Verteidigungspolitik nicht aus, die vergangenen Jahrzehnte nur rhetorisch zu überwinden – wenn der vermessene Anspruch moralischer Überlegenheit in Moskau und Washington nicht als Ausdruck eigener Schwäche verstanden werden soll. Die neue Bundesregierung wird daher die Wehrhaftigkeit des eigenen Landes auch mit Zahlen genauer unter Beweis stellen müssen. Wenn die europäische Verteidigungspolitik ihr sicherheitspolitisches Trittbrettfahrer-Verhalten überwinden soll, muss sie zu allererst die europäische Rüstungsindustrie von schädlichen Fesseln befreien (Gerald Braunberger).

Voraussetzung eines außenpolitischen Kurswechsels ist freilich – wie auch neuere Wahlstudien unterstreichen – der Abschied von der nebulösen Konsenssprache der Regierungspolitik in den letzten beiden Jahrzehnten: vor allem die Bereitschaft, unbeliebte politische Weichenstellungen und unpopuläre Optionen der Politik offen zu benennen und nachdrücklich zu erklären. Hierzu wäre gewiss ein größerer "Zumutungsmut" (Karl-Rudolf Korte) statt der vielfach beklagten "Beschreibungsangst" der politischen Führung vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Wirklichkeit hilfreich. Noch angemessener wäre zudem der Mut der Regierung zu politischer Offenheit und Ehrlichkeit, der auch der Frage nach den Kosten der neuen Politik nicht ausweicht. Diese Eigenschaften sind geradezu unverzichtbar, wenn es darum geht, neue politische Prioritäten zu setzen, diese gegenüber Wählerschaft und Interessengruppen offen und angemessen zu vermitteln und wirksam um politische Zustimmung zu werben. Einstweilen bleiben aber vieleWahlversprechen vage und unverbindlich – insbesondere zur Klimaneutralität und zum Klimageld.

Prioritäten der Zeitenwende

Europa und insbesondere Deutschland benötigen vor allem eine eigene Vision der Sicherheitspolitik. Dieser muss es zu allererst darum gehen, die Streitkräfte der Mitgliedstaaten kompatibel zu planen und entsprechend auszubauen. Verteidigungsausgaben und militärische Beschaffung sind weitsichtig und pragmatisch zu planen. Die Verteidigungspolitiker wiederum werden diese "Zeitenwende in der Zeitenwende" (Focus) den eigenen Wählern nachdrücklicher als bisher verdeutlichen müssen. Nach der Aggression Russlands in der Ukraine und dem Wahlsieg Trumps ist Deutschland in einer anderen strategischen Welt aufgewacht. Der angebliche Pragmatismus der politischen Führung entpuppt sich bei näherem Hinsehen auch als politisches Phlegma, ja sogar als "Feigheit, die aus einer unguten Mischung aus Angst und Vergeltungssucht rührt" (Die Zeit).

Durch die aggressiven, anmaßenden Vorstöße des amerikanischen Präsidenten sieht sich insbesondere die Europäische Union vor die Herausforderung gestellt, sich selbst um die europäische Sicherheit zu kümmern. Die deutsche Verteidigungspolitik sieht sich außerdem durch Überlegungen der Nato und der EU für den Aufbau einer Ukraine-Friedenstruppe stark unter Druck gesetzt – und damit wird auch die gesamte Haushaltspolitik herausgefordert: Der Wehretat wird außerordentlich stark anwachsen müssen.

Kampf dem Leviathan

Erstaunlich ist immer wieder die große rhetorische Einigkeit der politischen Klasse bei der Forderung nach einem Abbau der allmächtigen und ausufernden Bürokratie. Doch bleibt die Umsetzung dieser Forderung eine dornige Aufgabe, wie die Berichte des Normenkontrollrates der Bundesregierung wiederholt unter Beweis gestellt haben. Wirtschaft und Gesellschaft leiden seit langem unter staatlicher Überregulierung – verursacht durch komplexe politische Zielsetzungen und passgenaue Verwaltungsschritte. Die Politik wird daher den Mut aufbringen müssen, ganze Maßnahmenbündel, die sich politisch nicht bewährt haben, zur Disposition zu stellen – und notfalls auch ganze Regulierungsbehörden.

Beim Abbau der besonders vom Handwerk beklagten bürokratischen Überregulierung geht es etwa um die Entschleunigung, wenn nicht Einschränkung der Gesetzgebung, die Verabschiedung sich selbsterklärender Gesetze, die Entflechtung des Paragraphendschungels und schließlich um einen einheitlichen und effizienten Verwaltungsvollzug. Erforderlich erscheinen den Experten ferner die Abwehr neuer Berichts- und Nachweispflichten und die stärkere Eingrenzung von Verbandsklagerechten.

Damit sich der bürokratische Leviathan nicht noch mehr der Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland bemächtigt, ist ein entschlossener Rückbau staatlicher Regulierungen geboten. Die Initiativen der Europäischen Kommission zur Verringerung des Verwaltungsaufwandes sind daher zu begrüßen. Das gleiche gilt für die Verpflichtung, die Berichterstattungspflichten um ein Viertel des bisherigen Umfanges zu senken. Diese Schritte sind folgerichtig, denn übergriffige Regulierungen und überbordende Bürokratie sind die Hauptgründe dafür, dass die Produktivität des Wirtschaftsraumes der Europäischen Union immer weiter hinter diejenige der Vereinigten Staaten und Chinas zurückfällt.

Die "schöpferische Zerstörung" sollte daher vor allem der Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen gelten. Der Anwendungsbereich der entsprechenden Gesetze und Verordnungen könnte ohne wesentliche Einschränkungen um etwa die Hälfte zurückgenommen werden. Die Rechtssicherheit der betroffenen Unternehmen könnte dadurch nur gewinnen. Für die Politiker in Europa gilt daher eine klassische Warnung Wilhelm von Humboldts: Sie sollten sich hüten vor der "Besessenheit des Regierens" (fureur de gouverner), die dieser in Anlehnung an Mirabeau als eine "Krankheit der modernen Regierungen" entdeckt hat. Die Parteien wiederum sollten entschiedener zu den von ihnen angestoßenen Reformen stehen und weniger in die Hektik immer neuer Regelungen verfallen. Dabei könnte die Verabschiedung von mehr Gesetzen mit Verfallsdatum helfen, eine Neuorientierung der Gesetzgebung, die auf "Ewigkeitsphantasien" verzichtet und sich von der tröstlichen Chance einer reversiblen Gesetzgebung verabschiedet.

Migrationspolitik: Bilanz eines jahrzehntelangen Kontrollverlustes

Zu Recht hat die Frankfurter Ethnologin Susanne Schröter "Schluss mit der Naivität" in der deutschen Migrationspolitik gefordert. Die optimistischen Träume der früheren Kanzlerin und ihres Nachfolgers hätten sich als Irrtum erwiesen. Stattdessen habe eine Erosion der öffentlichen Sicherheit, verbunden mit einer fortschreitenden gesellschaftlichen Desintegration, eingesetzt. Die Bundesrepublik Deutschland verfüge über keine kohärente Einwanderungsstrategie. Die neue Regierung sieht sich daher mit der alten Forderung konfrontiert, Asylverfahren in Drittstaaten auszulagern und geltende Gesetze konsequenter anzuwenden (Koopmans/Thyn). Dabei geht es um die Entschlackung überkommener Prüfverfahren und den schon seit langem überfälligen Abschied von politisch bequemer migrationspolitischer Naivität. Insbesondere Transferleistungen sollten so gestaltet werden, dass sie keine Anreize für Zuwanderung mehr darstellen. Legale Migrationswege aber müssen offenbleiben.

Deutschland braucht schließlich die richtigen Einwanderer. Zu Recht wird daher gefragt: "Aber wie kann das sein, dass allenthalben über Fachkräftemangel geklagt wird und zugleich die Arbeitslosigkeit wächst?" (Focus). Die ungeregelte Zuwanderung stellt dem deutschen Arbeitsmarkt nicht genügend Qualifizierte zur Verfügung. Auch hier kommt es vor allem auf eine neue Perspektive an: Es geht letztlich um mehr Bildung.

Wirtschafts- und Haushaltspolitik: Neue Anstöße

Damit sich Investitionen wieder lohnen, hat Michael Hüther, der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, ein Moratorium bei den Sozialbeiträgen vorgeschlagen. Außerdem fordert er mit Nachdruck: die Senkung der Netzentgelte für die Energienutzung, die Abschaffung des Soli, eine Beschleunigung der Genehmigungsverfahren durch dringend notwendigen Verwaltungsabbau und schließlich die Lockerung der Schuldenbremse für klar abgrenzbare Investitionsvorhaben im Bereich der Infrastruktur und der Verteidigung einschließlich Zivilschutz und Cyber-Sicherheit. Im Bereich der Subventionspolitik öffnet sich ein weiteres Aufgabenfeld für eine zielorientierte Politik der schöpferischen Zerstörung: Subventionen für ganze Kundengruppen oder Branchen sollten schrittweise abgebaut werden. Ebenso sollten bürokratische "Kunstwerke" wie das Lieferkettengesetz in die Rumpelkammer des staatlichen Dirigismus entsorgt werden.

Noch haben die Nachbeben des Wahlergebnisses die Wirtschafts- und Haushaltspolitik nicht im Kern erfasst. In diesen Gebieten haben sich schon früh Konturen möglicher Kompromisse zwischen SPD und CDU abgezeichnet. Beide Parteien haben ihre Wahlprogramme weitgehend von unüberwindlichen, kompromisslosen Festlegungen freigehalten. Dadurch werden bei den anstehenden Koalitionsverhandlungen Kompromisse erleichtert: etwa durch Streckungen bei versprochenen Steuersenkungen.

Bei diesen Verhandlungen sollten sich die Partner über die unvermeidlichen Warnungen der Bedenkenträger in allen Lagern hinwegsetzen und Reformen auf Sicht anstreben, die von der breiten Mehrheit der politischen Mitte getragen werden können. Nach dem Erwachen aus ihren pazifistischen Träumen werden die Führungen der Parteien der Mitte der Verteidigungspolitik neue Priorität einräumen und den haushaltspolitischen Handlungsspielraum durch eine strenge Prüfung der etablierten Besitzstände erweitern müssen.

Außen- und Europapolitik müssen zudem mit neuen Richtwerten und Konturen ausgestattet werden. Ein Kommentator bemerkt hierzu: "Die Welt wartet nicht auf ein wie üblich in Bedenken zerfließendes Deutschland, das stets vermeintlich gute Ratschläge erteilt, aber nur selten konsequent zu handeln versteht." (Gerald Braunberger) In der Energie- und Umweltpolitik wird es darauf ankommen, jene Interessen offenzulegen, die sich "hinter der Fassade der Moralisierung des ökologischen Wandels" verbergen. Außen- und verteidigungspolitisch sind im Hinblick auf die Sicherheit Europas engere, vertrauensvolle Absprachen mit Frankreich, Großbritannien und Polen geboten. Heinrich Heines Gedicht "Deutschland. Ein Wintermärchen" können wir eine bleibende Warnung vor utopischen Träumereien und politischem Kleinmut entnehmen: "Franzosen und Russen gehört das Land, das Meer gehört den Briten, wir aber besitzen im Luftraum der Träume – die Herrschaft unbestritten."

Der Verfasser Paul Kevenhörster ist Emeritus für Politikwissenschaft der Universität Münster und stützt sich bei diesem Beitrag auf seine Studie "Politischer Kurswechsel im Gegenwind. Die Krise politischer Führung in Deutschland", Nomos-Verlag, Baden-Baden 2023. Er ist für wichtige Hinweise Johannes Joha zu Dank verpflichtet.

Paul Kevenhörster

Paul Kevenhörster (RC Steinfurt) ist Professor emeritus für Politikwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Verfasser der Bücher "Strategie und Taktik. Ein Leitfaden für das politische Überleben", Baden-Baden 2024 (mit Benjamin Laag); "Politischer Kurswechsel im Gegenwind. Die Krise politischer Führung in Deutschland", Baden-Baden 2023.  
 
Copyright: Universität Münster