Meinung
Ein neues "Berliner Bündnis"
Plädoyer für einen parlamentarischen Schutzwall gegen Rechtsaußen
Wird das Jahr 2024 "Europas Schicksalsjahr", wie Kommentatoren in ihren Jahresausblicken beschwörend gefragt haben? Heftige Proteste von Bauern und kleinen Gewerbetreibenden, die Furcht weiter Bevölkerungsschichten vor Inflation, wirtschaftlicher Verschlechterung und neuen Migrationswellen sowie die aggressive, zerstörerische Rolle Russlands schüren tief verwurzelte Ängste. Experten des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) sehen zudem die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ernsthaft bedroht. Eine teils lähmende Bürokratie und die grassierenden Ängste von Landwirten und Selbständigen vor den Auswirkungen von Freihandelsabkommen der Europäischen Union sowie den finanziellen Lasten steigender Umweltstandards festigen alte und schüren zudem neue Ängste – auch vor den Sparzwängen aufgrund eines verfassungswidrigen Bundeshaushalts, auf die Politiker bisher keine befriedigenden Antworten gefunden haben. Ganz im Gegenteil: Hektisch und unüberlegt strauchelt die Ampel-Regierung von einem Polit-Debakel ins nächste. Sie setzt den Rotstift bei entscheidenden Zukunftsprojekten an und zeigt keine Wege aus den multiplen Krisen auf. Angesichts der Wählerwanderung nach Rechtsaußen rückt daher die Sorge um unsere Demokratie selbst zunehmend in den Vordergrund.
Nach einem Treffen von AfD-Politikern mit rechtsextremen Deportationsträumern in Potsdam protestiert derzeit die "schweigende Mehrheit" gegen den Rechtsextremismus und wird endlich laut und vernehmbar. Sie erinnert alle Bürger so an eine Warnung des Schriftstellers Erich Kästner aus dem Jahre 1958: Im Rückblick hätte die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahre 1933 schon in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre bekämpft werden müssen. Er mahnte: "Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird." Zu Recht hat der Bundeskanzler vor dem Hintergrund des "Potsdamer Treffens" vor der völkischen Rassenideologie der Nationalsozialisten gewarnt, die in den "abstoßenden Umsiedlungsplänen" der Rechtsradikalen zum Ausdruck kommen.
Diese Pläne sind dabei keine neue Spielart der rechtsextremen Bestrebungen der AfD, genauso wenig, wie die Teilnahme der AfD-Vertreter am Potsdamer Treffen einen Einzelfall darstellt, der mit der Parteilinie der AfD nichts zu tun hätte, auch wenn hochrangige Vertreter der AfD angesichts der öffentlichen Wirkung des Treffens nun auf diese Kommunikationsstrategie umschwenken. Vielmehr sind sowohl das Treffen, als auch die dort besprochenen Pläne die logische Konsequenz einer Diskursverschiebung und -verrohung von rechts, die die AfD seit ihrer Gründung betrieben hat. Mit ihrer Strategie "Zwei Schritte vor, einer zurück" hat die AfD in ihrer Öffentlichkeitsarbeit die Grenzen des Sagbaren kontinuierlich über den verfassungsrechtlich tolerierbaren Rahmen hinauszuschieben versucht, um die Wähler an Grenzüberschreitungen zu gewöhnen. Erinnert sei hier beispielsweise an die Bezeichnung der nationalsozialistischen Verbrechen als "Vogelschiss", die der damalige AfD-Vorsitzende Gauland bereits vor sechs Jahren tätigte. Folge dieses Kalküls war eine schrittweise Annäherung an rechtsextreme Vereinigungen und Gruppierungen, wie die "identitäre Bewegung" sowie die Meinungsführerschaft derjenigen Parteivertreter, die völkische und rechtsextreme Töne anschlugen.
Im "Bericht aus Berlin" des Ersten Deutschen Fernsehens hat ein Sprecher der AfD erklärt, die Parole "Deutschland den Deutschen" beziehe sich auf "Pass-Deutsche". Dies lässt eine Weltsicht erkennen, die nicht von den Grundwerten unserer Verfassung ausgeht, sondern vom Vorrang einer ethnisch definierten Volksgemeinschaft, der Migranten in Deutschland eine Pflicht zur Rückkehr in ihre Heimat aufzuzwingen versucht. So kehrt die AfD zu den ideologischen Wurzeln des deutschen Rechtsextremismus zurück: einem biologisch-historischen Nation- und Volksbegriff im Sinne des Ethnozentrismus, einem nationalistischen Geschichtsbild und einem nationalistischen Dogmatismus, der Grundlagen der Rassenideologie bewahrt. Diese schillernde blau-braune Parteirhetorik der AfD verrät erneut die "Rosstäuschung, Irreführung und Camouflage" der Neonazis, die ein "anderes, ein schreckliches Deutschtum" verkünden (Christian Geyer). Auf der Grundlage langjähriger Recherchen spricht der Rechtsexperte Hendrik Cremer vom Deutschen Institut für Menschenrechte eine eindringliche Warnung an Gesellschaft und Politik aus: Komme die AfD an die Macht, sei "niemand mehr in diesem Lande sicher". Sie strebe nach absoluter Macht und danach, "die Gültigkeit der Menschenrechte und den Rechtsstaat in Deutschland abzuschaffen".
Das Geheimtreffen in Potsdam und die Berichterstattung dazu hat die Brisanz verfassungsfeindlicher Ideen erneut unter Beweis gestellt und vielen Bürgern klar gemacht, wie radikal die völkischen Reinheitsphantasien der Rechtsextremisten sind. Die Spiegel-Redakteurin Ann-Kathrin Müller kommt daher zu der Folgerung: "Die AfD würde die Demokratie zerstören und die Menschenwürde missachten." Nach ihrer Untersuchung der AfD-Programmatik ist das Gesamtziel der Rechtsextremisten unübersehbar: "die Institutionen zu unterwandern und eine andere Gesellschaft zu schaffen". Die von ihrem Rechtsaußen Björn Höcke vertretenen Forderungen wären im Falle ihrer Verwirklichung nichts anderes als ein "Alptraum für Deutschland".
In Kürze stehen Europa- und Landtagswahlen bevor: Die AfD könnte daraus in zwei Bundesländern durchaus als stärkste Partei hervorgehen.
Großer Langmut und klare Sprache
Was ist zu tun? Eine immer wieder geforderte "Entzauberung" durch inhaltliche Auseinandersetzung mit den Forderungen der Rechtspopulisten oder deren Einbindung in Zweckbündnisse ist kaum möglich, wie auch der Fraktionsvorsitzende der Union im Deutschen Bundestag Friedrich Merz feststellen musste.
In der Auseinandersetzung mit den Anhängern extremistischer Ideologien braucht es vor allem sachliche Argumente für die eigenen Positionen und großen Langmut im Bemühen um eine nachhaltige Aufklärung der Wählerschaft, ganz besonders aber die klare Benennung von Tabubrüchen. Nur so lassen sich im Gespräch mit Populisten neue gesellschaftliche Horizonte und auch neue Wege der Politik aufzeigen. Und was kann die Politik tun, um den Rechtsradikalismus einzugrenzen? Zunächst einmal eine klare, unmissverständliche Sprache! Einige Ministerpräsidenten – wie Hendrik Wüst in Nordrhein-Westfalen – haben die AfD als "Nazi-Partei" bezeichnet und ihre Landes- und Kommunalpolitiker damit eindrücklich vor kommunalen Zweckbündnissen gewarnt. Erforderlich ist ein gemeinsames Verständnis für die Einhaltung von Regeln, die klare Benennung von Problemen durch die Entscheidungsträger und eine konstruktive Debattenkultur.
Ein neues "Berliner Bündnis"
In dieser Situation fallen den Parteien der Mitte die politischen Unterlassungen der letzten beiden Jahrzehnte auf die Füße: Sie können aber die politische Verantwortung für diese Fehler und den Verlust der eigenen Glaubwürdigkeit nicht auf die Extremisten abschieben. "Die im Bundestag vertretenen Parteien haben bisher kein Konzept gefunden, wie erfolgreich mit der AfD umgegangen werden könnte. Schmähungen und moralische Überheblichkeit kennzeichnen die Auseinandersetzungen", klagt der Publizist Stefan Luft. Sie sind Symptome einer Krise politischer Führung von Merkel bis Scholz, die ich in meinem Buch "Politischer Kurswechsel im Gegenwind" beschrieben habe (Baden-Baden 2023). Es dominiert auf Seiten der politischen Klasse eine wenig glaubwürdige Ankündigungspolitik – von der Migrationspolitik bis zur Unterstützung der Ukraine, von der Bildungs- bis zur Wirtschafts- und Energiepolitik.
Die demokratischen Parteien stehen somit neben den Bedrohungen von rechts auch vor der Herkules-Aufgabe der Rückgewinnung einer politikverdrossenen Protestbewegung. Dabei werden sie nur Erfolg haben, wenn sie eine Allianz der Mitte formen und die Auseinandersetzung mit den Demagogen von rechts nicht scheuen.
Ein Rückblick auf stabile Phasen der Bonner und Berliner Republik weist vier Parteien einen besonderen Gestaltungsauftrag zu: Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen. Nur gemeinsam werden sie die Herausforderung meistern können, die aus der Resonanz der Rechtsextremisten insbesondere in den neuen Bundesländern erwächst. Zu Recht fordert der Bundespräsident ein "Bündnis aller Demokraten". Aber anordnen lässt sich eine solche Allianz gewiss nicht: Ein politischer Aufstand müsste in der Mitte des Parlaments durch führungsstarke und kooperationswillige Abgeordnete aus den vier demokratischen Fraktionen getragen werden. Diese werden ihre Kraft aber nur entfalten können, wenn sie nicht unter dem vermeintlichen Zwang zu parteipolitischer Profilierung alle Brücken zwischenparteilicher Kommunikation abbrechen und sich Kanäle der Verständigung mit politischen Mitbewerbern offenhalten.
Wird Berlin etwa doch noch Weimar?
"Bonn ist nicht Weimar" lautet der Titel eines Bestsellers aus den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts (F.R. Allemann). "Wird Berlin etwa doch noch Weimar?" könnten sich besorgte Bürger vielleicht spätestens nach den nächsten Wahlen fragen.
Zu Recht hat der Chef des Meinungsforschungsinstituts Forsa, Manfred Güllner, jüngst davor gewarnt, dass spätestens mit der Gründung der Werteunion als einer eigenständigen Partei im rechten Spektrum eine Zersplitterung des Parteiensystem und "Weimarer Verhältnisse"heraufbeschworen werden können. Es geht dabei etwa auch um Personen im rechtsextremen Spektrum wie den Neofaschisten Björn Höcke als möglichen künftigen Ministerpräsidenten Thüringens – ein Horrorbild. An den Demonstrationen gegen den Rechtsextremismus haben in den vergangenen Wochen aber immerhin mehr als zwei Millionen Menschen teilgenommen. Doch Regierung und Parlament zögern und prüfen.
Doch Melancholie ist in dieser Lage nicht angebracht: Es gilt stattdessen, die Bedeutung des Parlaments zu steigern. Die juristische Debatte darf nicht die politische Auseinandersetzung verdrängen (Manow). "Mit raffinierten Gesetzesänderungen und Absprachen versuchen Politiker in den Landesparlamenten zu verhindern, dass die AfD sensible Gremien besetzt und Schlüsselpositionen erlangt", meldet der Spiegel. Und Michaela Heilbronner, Staatsrechtlerin der Universität Münster, warnt: "Je mehr Unterstützung aus der Bevölkerung die AfD erhält, desto weniger können wir uns auf das Recht verlassen." Es gilt daher, die Demokratie sturmfest zu machen und die Anforderungen wehrhafter Demokratie umzusetzen.
Schritte einer Gegenattacke
Die Verteidigung des demokratischen Rechtsstaates ist dringend geboten. Unser Grundgesetz hält dafür mit den Artikeln 21 und 18 die entsprechenden Instrumente bereit. Die dortigen Regelungen stehen weder zur Zierde im Grundgesetz, noch haben sie rein symbolischen Charakter, wie man angesichts der Vorbehalte einiger beflissener Bedenkenträger in Verwaltung und Justiz annehmen könnte. Vielmehr sind sie Ausdruck unserer wehrhaften Demokratie und sollen bei Bedarf zur Anwendung kommen, um eben diese zu verteidigen. Ihre Anwendung ist geboten, wenn es eine klare Kante gegen jene zu behaupten gilt, die den Boden des Grundgesetzes verlassen haben. Dass es sich bei der AfD um eben solche Feinde der Demokratie handelt, ist durch zahlreiche Verfassungsschutzberichte und Äußerungen hochrangiger AfD-Funktionäre hinreichend belegt.
Es steht in der Macht und der Verantwortung des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung, die notwendigen Schritte einzuleiten – etwa durch das Streichen der staatlichen Parteifinanzierung für Rechtsextreme und die Beantragung eines Parteiverbotszumindest für die Teile der AfD, die nach der Einstufung der Ämter für Verfassungsschutz als "gesichert rechtsextremistisch" gelten.
Der Bremer Innensenator Ulrich Mäurer hat angeregt, über ein mögliches Parteiverbot der AfD zunächst auf Landesebene nachzudenken. In Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt wäre dies in der Tat ein "erster, wichtiger Schritt" auf dem Weg zu einem länderübergreifenden Verbotsverfahren auf Bundesebene. Eine parlamentarische Initiative für ein Verbot der AfD als verfassungsfeindlicher Partei ist dabei keineswegs ein "allzu deutscher Reflex", wie die Zeitschrift Cicero überaus besorgt klagt – sondern für viele ein Gebot der Stunde "fünf Minuten nach Zwölf". Es mag ja zutreffen, dass ein Verbotsverfahren viele Jahre dauern würde. Aber die Eröffnung eines solchen Verfahrens wäre zumindest ein unübersehbares Signal für die Sympathisanten der neuen Nazi-Partei, dass ihre maßlose Propaganda die Grundlagen des Verfassungskonsensus zerstört. Hierin bestünde zumindest die Chance eines weitreichenden Ankündigungseffektes für eine Umgestaltung des Meinungsbildes im rechten Meinungs- und Stimmenreservoir. Auch der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse plädiert für die Prüfung eines Verbotsverfahrens der AfD mit den Worten: "Wenn der Verfassungsschutz in drei Bundesländern die AfD als gesichert rechtsextremistisch einstuft, dann hat der Staat die Pflicht, ein Verbot der AfD zu prüfen." Die Verbotsidee ist im Falle der AfD "keineswegs abwegig", wie die Süddeutsche Zeitung anmerkt – vielleicht sogar naheliegend. Bei dieser Idee handelt es sich immerhin um das wirkmächtigste Instrument wehrhafter Demokratie.
Ein Verbot der "jungen Alternative" – der Nachwuchsorganisation der AfD – wäre ein weiterer mächtiger Schritt und ein wirksamer Schlag des Rechtsstaates gegen extremistische Strukturen. Die "Junge Alternative" ist vom Bundesamt für Verfassungsschutz schon seit langem als Verdachtsfall eingestuft und im April 2023 als "gesichert extremistischer" Verein bezeichnet worden. Inzwischen hat das Verwaltungsgericht Köln entschieden, dass die "Junge Alternative" eine "gesichert rechtsextremistische Bestrebung" aufweise und das Bundesamt für Verfassungsschutz die AfD-Nachwuchsorganisation entsprechend einstufen und behandeln dürfe. Zusätzlich zum Verbot der "Jungen Alternative" sollte das Bundesinnenministerium aber auch die der AfD nahestehende Desiderius-Erasmus-Stiftung von der staatlichen Förderung ausschließen und ihr die Anerkennung als gemeinnützige Organisation entziehen. Denn diese Stiftung verbreitet nach einem Bericht des Deutschen Instituts für Menschenrechte rassistisches und rechtsextremes Gedankengut.
Unterhalb der Schwelle des Parteiverbots besteht ein weiteres Mittel in der Parteienfinanzierung. Der demokratische Verfassungsstaat muss seine Feinde nicht tolerieren, erst recht jedoch nicht finanzieren: Seit 2017 sichert das Grundgesetz durch die Neuregelung des Art. 21 Abs. 3 GG den Ausweg, extremistische Parteien von der staatlichen Parteienfinanzierung auszuschließen. Aus Karlsruhe gibt es immerhin ein richtungsweisendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Dieses hat vor kurzem im Falle der verfassungsfeindlichen Partei "Die Heimat" (ehemals NPD) entschieden, dass diese von der staatlichen Parteienfinanzierung ausgeschlossen werden darf und dabei Maßstäbe für einen solchen Ausschluss formuliert, die sich als Signal in Richtung der AfD verstehen lassen. Der Entzug staatlicher Parteienfinanzierung für eine rechtsextreme Partei wäre schließlich nichts anderes als ein Akt der demokratischen Selbstverteidigung.
Eine nachhaltige Verteidigung unserer Demokratie gegen die Bedrohung durch die AfD kann die Politik allein jedoch nicht leisten. Sowohl die Gewählten als auch die Wähler sind zur Gegenwehr aufgerufen. Gefordert ist somit auch die Zivilgesellschaft: Ihre Aufgabe bleibt es, wo immer auch möglich gegen Rechtsextremismus Stellung zu beziehen. Die vormals müde Mittelschicht und die "schweigende Mehrheit" sind inzwischen aufgewacht. Im Rahmen der Demonstrationen Hunderttausender in den letzten Tagen haben viele Mitglieder der mittleren und höheren Altersgruppen zum ersten Mal in ihrem Leben gegen Rechtsaußen demonstriert. Auch abseits der Versammlungen scheint die Gesellschaft in Bewegung zu geraten: Mehrere Parteien der Mitte verzeichnen unerwartete Mitgliedergewinne – aber auch die Rechtsaußen-Partei. Der Bundespräsident hat sich mit einem Zwischenruf zu Wort gemeldet: "Die demokratische Mitte unserer Gesellschaft ist erwacht und spürt ihre Verantwortung." Von einer "Dämonisierung der AfD" und einer "moralischen Panik", vor dem rechtskonservative Journalisten in diesem Zusammenhang meinen, warnen zu müssen, kann angesichts der Breite des rechtsextremen Wählerpotentials wohl nicht die Rede sein.
Die gemeinsame Verantwortung für den Schutz der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie vor der Unterwanderung durch den Rechtsextremismus gilt auch für die Kirchen, die solche Bündnisse gelegentlich überaus behutsam bewertet haben. Auch trifft sie die Unternehmer und Führungskräfte der Wirtschaft, die derzeit zu oft noch "hilflos gegen rechts" wirken, wie die Wochenzeitung Die Zeit bemerkt. Lassen etwa ausgerechnet die Unternehmer die Demokratie im Stich? Es reicht jedenfalls nicht, "wenn Chefs und Unternehmer sich hinter Verbänden verstecken. Der Aufstand gegen die Unanständigkeit ist ein Charaktertest für die deutsche Wirtschaft." (Roman Pletter) Werteorientiertes Handeln ist das Gebot der Stunde, denn große Verteilungskonflikte stehen bevor, und zugleich ist der maßlosen Rhetorik des Hasses und der Verleumdung mit demokratischen Waffen zu begegnen.
Die Bundesrepublik ist derzeit so bedroht wie nie zuvor in ihrer Geschichte – durch den Rechtsextremismus und durch politisches Führungsversagen. Beide Bedrohungen geben der grassierenden Politikverachtung immer neue Nahrung. Die Münchener Historikerin Hedwig Richter kommt daher bei ihrer Betrachtung der Zukunftschancen der deutschen Demokratie zu einem klaren Urteil: "Ein Verbotsverfahren gegen die AfD wäre ein deutliches Zeichen gegen extremistisches Chaos und für demokratische Disziplin: Wer die Verfassung mit Füßen tritt, wer auf die Würde des Menschen spuckt, der hat in der Politik nichts zu suchen."
"Nie wieder ist jetzt!"
Die Rechtsextremen stehen bereits breitbeinig vor der Haustür des Staates. Vom Sommer dieses Jahres an wollen sie den politischen Kurs mehrerer Bundesländer bestimmen. Nach den letzten Umfragewerten in Sachsen und Thüringen ist dieses Verlangen nachvollziehbar – und sehr bedrohlich. Doch die verantwortlichen Politiker wirken in dieser dramatischen Situation seltsam unentschlossen. Sie werden zudem durch die stets zögerlichen Bedenkenträger in der Verwaltung, der Justiz und in den Medien weiter entmutigt. Diese beherrschen vor allem die "Logik des aparten Kommentars" (Kumkar). Doch können die wohlfeilen Defensivargumente der Zauderer und Zögerer nicht überzeugen. Hierbei handelt es sich vorwiegend um zwei Vorgehensweisen:
- Erstens: Problem aussitzen! Diese phlegmatische Taktik kann schon angesichts der Größe der Herausforderung einer zunehmenden Zersplitterung des Parteiensystems und der Gefahr völliger politischer Handlungsunfähigkeit von Regierungen und Parlamenten insbesondere in den neuen Bundesländern nicht überzeugen.
- Zweitens: Die Bundesinnenministerin will die Demokratie gegen ihre Feinde schützen und dazu die Netzwerke der Rechtsextremen stärker ausleuchten. Dies ist sicherlich ein richtiger Schritt, er reicht aber nicht aus. Denn der blau-braune Sumpf kann nicht durch Verwaltungsberichte und Seminararbeiten trockengelegt werden. Vor den entscheidenden Schritten weichen die Entscheidungsträger in Regierung und Parlament aber zurück: dem Verbot der Jugendorganisation "Junge Alternative", der Kappung aller öffentlicher Finanzhilfen für die AfD und schließlich vor der Einleitung eines Verbotsverfahrens für die gesamte Partei.
Worauf warten eigentlich Bundesregierung und Bundestag? Etwa auf eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Münster im März? Vielleicht mit der Aussicht, danach wieder langwierige Prüfaufträge zu erteilen und anschließend die Hände in den Schoß zu legen? Einstweilen scheinen die höchsten Staatsorgane ihre Entscheidungen von der Willensbildung eines Oberlandesgerichtes abhängig zu machen. In der Tradition des Vertagens, Verschiebens und Verschwurbelns, die die Berliner Politik der beiden letzten Jahrzehnte geprägt hat, weichen die Verantwortlichen der Herausforderung durch den Rechtsextremismus letztlich aus, regieren nicht einmal unter Druck und erklären ihr Nichtstun wortreich.
Der rechtspolitische Sprecher der Unionsfraktion Krings glaubt sogar, ein "voreilig gestellter Antrag auf ein Verbot der AfD" würde dieser Partei einen Vorteil durch die Mobilisierung von Protestwählern verschaffen und empfiehlt einstweilen eine weitere "sorgfältige Prüfung". Auch der Obmann der Grünen im Innenausschuss des Deutschen Bundestages zögert einen konsequenten Schritt mit der skrupulösen Frage hinaus, ob die AfD-Jugendorganisation eine eigenständige Organisation sei. Dieser Allianz der verfassungspolitischen Prokrastination drohen die Grundsätze der wehrhaften Demokratie vollends aus dem Blick zu geraten: Auch der frühere Verfassungsrichter di Fabio rät einstweilen zum Abwarten. Vielleicht hätte er sich stattdessen etwas eingehender mit den Berichten und Quellen der Nachrichtendienste – vor der Abgabe seiner dilatorischen Erklärung – vertraut machen sollen, statt über einen Verbotsantrag gegen eine "ernsthaft verfassungsfeindliche AfD" im Jahre 2027 (!) nachzusinnen.
Die "ernsthaft verfassungsfeindliche" Partei aber gibt es schon jetzt – gründlich untersucht von den Ämtern für Verfassungsschutz auf Bundes- und Landesebene sowie vom Deutschen Institut für Menschenrechte. Dessen Referent Hendrik Cremer hat den Angriff der AfD auf die freiheitlich-rechtsstaatliche Demokratie durch langjährige Recherchen untersucht und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass "ihre Programmatik klar erkennbare Parallelen zur nationalsozialistischen Ideologie" aufweise. Im öffentlichen Diskurs werde ihre fortgeschrittene Radikalisierung allerdings "nicht abgebildet". Sie kaschiere vielmehr ihre rechtsextremen Positionen. Für ihn bestehe "keinerlei Zweifel, dass die im öffentlichen Diskurs beharrlich verharmloste AfD so gefährlich ist, dass sie im Rahmen einer Prüfung vom Bundesverfassungsgericht verboten werden könnte." Die AfD strebe nach absoluter Macht und vertrete eine menschenverachtende Ideologie. Der Titel seines neuen Buches ist zugleich eine Mahnung an Regierung und Parteien:
"Je länger wir schweigen, desto mehr Mut werden wir brauchen."
Paul Kevenhörster (RC Steinfurt) ist Professor emeritus für Politikwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Mit diesem Beitrag zieht er Folgerungen aus seiner neuen Studie "Politischer Kurswechsel im Gegenwind. Die Krise politischer Führung in Deutschland". (Baden-Baden 2023).
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