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Aktuell

Die Selbstzerstörung der politischen Mitte

Aktuell - Die Selbstzerstörung der politischen Mitte
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Statt dezisionistischer Unbedingtheit im Stile Donald Trumps ist Offenheit für bisher nicht entdeckte Alternativen und neue parlamentarische Mehrheiten das Gebot der Stunde – damit Deutschland nicht unregierbar wird.

Paul Kevenhörster11.02.2025

Die Politik gleicht immer wieder einem Theaterstück, inszeniert sich gerne auch dramatisch und stellt sich insbesondere in einem Wahljahr – als Kampf um die Macht dar. Dieses Bild erinnert viele Beobachter auch an sportliche Wettkämpfe: Die angreifende Fußballmannschaft bedrängt das gegnerische Tor mit allen Mitteln. Mit allen? Der Kanzlerkandidat der Union, Friedrich Merz, will die Migration eindämmen und hat dafür auch die parlamentarische Unterstützung der zumindest teilweise rechtsextremen AfD in Kauf genommen und mit ihrer Hilfe ein fulminantes Tor geschossen. Handelt es sich vielleicht um ein Eigentor, das kritische Beobachter erkannt haben wollen?

Der scheinbar erfolgreiche Torschuss wird jedenfalls von vielen angezweifelt und löst zudem breite Demonstrationen aus. Die Kritiker sehen große Glaubwürdigkeitsprobleme und beschreiben die ganze Szene als "geradezu kafkaesk". So wurde der scheinbar erfolgreiche Torlauf für den durchsetzungswilligen Kanzlerkandidaten nach der Aussage eines publizistischen Kritikers nur zu einem "bitteren Sieg" – als Folge eines politischen Tabubruchs gegenüber Rechtsaußen. Die dramatische Wirkung: Die Gefahr einer Selbstzerstörung der politischen Mitte ist noch größer geworden. Ein Weiteres kommt hinzu: Die beiden christlichen Kirchen zeigen sich "sehr befremdet" und äußern skeptisch, die Erklärung des Bundestages trage nicht zur Lösung der drängenden Migrationsprobleme bei.

Doch Historikern erschien die Bundestagsdebatte andererseits wie "eine Rückkehr ins klassische Zeitalter des Parlamentarismus". In der Tat hängt die Stabilität der vom Extremismus bedrohten parlamentarischen Demokratie wieder von der Stärke der Volksparteien und ihrem programmatischen Gestaltungsspielraum in der politischen Mitte ab. Dies erfordert eine entschlossene Führung gegenüber dem Machtanspruch der autoritären und totalitären Alternativen.  

Die Verteidiger des Vorstoßes von Friedrich Merz weisen indessen darauf hin, dieser habe sich als Sprecher der wählerstärksten Partei in Deutschland nicht mehr von der rot-grünen Minderheit erpressen lassen wollen. Zudem nutzte die frühere Kanzlerin Angela Merkel als "Mutter der deutschen Migrationskrise" (Cicero) das Eigentor des Mittelstürmers Merz in ihrer eigenen Art für ein Revanchefoul und suchte ihrem Nachfolger von der Zuschauertribüne aus als "Stimme aus dem Off" Verhaltensregeln für den Umgang mit der AfD zuzurufen.  

In einer politischen Abseitsfalle stecken derzeit Politiker beider Seiten: Die SPD-Führung scheint nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen, dass auch eine Mehrheit ihrer eigenen Anhänger den Vorstoß des CDU-Vorsitzenden für richtig hält. Die Reaktion in den Wahlkreisen der Abgeordneten ist anders, als die Demonstrationen und viele Kommentare in den Medien verheißen: Endlich, endlich packe mal jemand das Problem wirklich an, berichtet Der Spiegel. Das rot-grüne Deutungsmonopol wird jedenfalls von der Mehrheit der Wähler nicht mehr akzeptiert.    

Die eigentliche Herausforderung wird von der Wochenzeitung Die Zeit klar benannt: Wer auf eine konstruktive, integrierende Migrationspolitik setze, müsse den Zustrom besser kontrollieren und die Migration noch stärker begrenzen. Immerhin scheint es Friedrich Merz gelungen zu sein, sich und seine Partei von den migrationspolitischen Hypotheken der Merkel-Jahre zu befreien und die Brandmauer-Abhängigkeit ihrer Migrationspolitik von der Billigung durch Sozialdemokraten und Grüne zu lösen. Mit dem umstrittenen Tabubruch, der im Übrigen auch auf das wenig kooperative parlamentarische Verhalten der rot-grünen Restregierung zurückgeführt werden kann, verbindet sich so für den Herausforderer eher ein möglicher Glaubwürdigkeitsgewinn.

Die journalistischen Kritiker des Vorstoßes von Friedrich Merz äußern sich einstweilen zwiespältig: Einerseits wird dieser als "nur konsequent" bewertet. Andererseits sei der Parteivorsitzende bei der Mehrheitsbeschaffung "falsch abgebogen", um Wähler an sich zu ziehen, die zwischen der Union und der AfD stehen. Anzumerken ist, dass Merz mit seiner Entscheidung Mut zum Risiko gezeigt und zudem eine Blockade aufgebrochen hat, "die viele Bürger an der Demokratie hat zweifeln lassen, und sich dafür ins öffentliche Feuer gestellt hat" (Jochen Buchsteiner). Wie wenig sich Rot-Grün zur Lösung der anstehenden migrationspolitischen Grundsatzfragen imstande sieht, hat noch der letzte Grünen-Parteitag unterstrichen: Der Familiennachzug solle ausgebaut und die Schlepper-Kriminalität im Mittelmeer mit öffentlichen Geldern unterstützt werden. "Im Scheitern der Grünen", so folgert das Magazin Cicero, "liegt der Schlüssel, um ihren verzweifelten Hochmut und ihren belehrenden Kleinmut zu verstehen."

Die neue Diskussion gilt es nutzen, wenn die politische Mitte nach dem migrationspolitischen Führungsversagen in den letzten beiden Jahrzehnten und nach der desaströsen Bundestagsdebatte der letzten Januarwoche wieder gefestigt werden soll. Doch derzeit zeigt sich diese Mitte zerklüftet und handlungsunfähig: Kooperieren will die Union nicht mit der AfD, Rot und Grün nicht mit der Union sowie der FDP, die CSU wiederum nicht mit den Grünen. Der Publizist Jürgen Kaube folgert: "Die Parteien reden sich geradezu theatralisch in eine Lage hinein, deren Konsequenzen die Nichtregierbarkeit des Landes nach der anstehenden Bundestagswahl wäre."

Zu Recht äußert die Kieler Bildungsministerin und Stellvertretende Vorsitzende der Union Karin Pries grundsätzliche Kritik am Diskussionsstil, wie der sich einstweilen auch in der aktuellen Debatte niederschlägt: "Die politische Debatte leidet heute an einer persönlich diffamierenden und moralisierenden Polarisierung, die sachliche Differenz nicht zulässt". Und der Publizist Ferdinand Knauß fasst seine Bewertung der Bundestagsdebatte zur Migrationspolitik pointiert zusammen: "Die Panik der Rest-Ampel offenbart nur, welchen zynischen Zweck SPD und Grüne mit der Brandmauer verfolgen."

Dieses grundsätzliche Dilemma ließe sich nur auflösen, wenn Union, SPD, Grüne und FDP ihre Forderungen mäßigen und zu Kompromissen bereit sind. Die eingeschränkte Kompromiss-Fähigkeit der politischen Mitte bleibt aber eine entscheidende Wahlhilfe für Rechtsaußen. Die Abstimmungen im Bundestag haben jedenfalls gezeigt, dass die rot-grüne Minderheit ihre frühere Deutungs- und Entscheidungshoheit in der Asyl- und Einwanderungspolitik eingebüßt hat und die amtierende Restregierung für das Staatsversagen in der Sicherheits- und Migrationspolitik verantwortlich ist. Entrüstungsrituale der Regierung und ihrer parlamentarischen und publizistischen Helfer sind in dieser Lage zwar bequem, wirken aber angesichts der drängenden Migrationsprobleme und der eindeutigen Befunde von Repräsentativumfragen wenig überzeugend. Friedrich Merz muss daher zurückfinden zur harten Auseinandersetzung mit den anderen Fraktionen der demokratischen Mitte und in diesem Dialog darauf verzichten, die "Drohkeule" einer Öffnung gegenüber Rechtsaußen zu schwingen. Dies kann nur durch einen nachhaltigen Kurswechsel und eine handlungsfähige Regierung geschehen.

Die Bundestagsdebatte in der letzten Januarwoche scheint jedoch eine Wende der deutschen Migrationspolitik befördert zu haben. Die Zeitschrift Cicero fügt allerdings einschränkend hinzu: "Was sich vielleicht nie ändert, ist allerdings der rot-grüne Reflex. Sobald eine schärfere Migrationspolitik gefordert wird, heißt es: Das geht rechtlich nicht. Dies aber ist ein Mythos. Das Recht lässt durchaus eine härtere Politik zu."  Der Publizist Ahmad Mansour sieht zwei Ursachen des parlamentarischen Desasters: das Versagen der Migrationspolitik und die politische Korrektheit im linksgrünen Milieu. In ihrer politischen Wirkung ist die Brandmauer so zur Staumauer geworden. Und das rot-grüne Milieu kämpft auch weiterhin um seine "Luxusberzeugungen" (Cicero).

Die Fraktionsvorsitzenden von SPD und Grünen haben nach den Abstimmungen im Bundestag das "Tor zur Hölle" beschworen. Doch haben sie dieses Tor selbst geöffnet, wie der Kabarettist Dieter Nuhr ironisch anmerkt: SPD und Grüne brauchen die AfD für ihre eigene Macht und haben folglich kein echtes Interesse daran, die AfD loszuwerden. Das unterstreicht auch die völlig unzureichende Zustimmung zum Antrag des CDU-Abgeordneten Wanderwitz in der letzten Sitzungswoche des Bundestages, die AfD durch das Bundesverfassungsgericht verbieten zu lassen. Die politische Mitte kann es sich aber auf Dauer nicht leisten, eine große Wählermehrheit zu ignorieren.

"Tor zur Hölle"? Zu diesem Schlachtruf merkt der Mannheimer Historiker Tim B. Müller an: "Die sich teilweise bis ins Hysterische steigernde Rhetorik offenbarte, dass die Erwähnung der Verbrechen des Nationalsozialismus nicht zu einer Verteidigung des zivilisatorischen Minimums der liberalen Demokratie führt, von Menschenrechten und Pluralismus, sondern je nach Belieben für politische Parolen in Stellung gebracht wird." Sozialdemokraten und Grüne hätten sich auf diese Weise vom klassischen Bild der Demokratie verabschiedet und den Demokratiebegriff ideologisch eingeschränkt.

Der Münchener Soziologe Armin Nassehi hat eindrucksvoll beklagt, die AfD präge mit ihrem Politikstil eine politische Debatte, die immer mehr zum "Hasardspiel" verkomme. In einer unseligen Tradition dogmatischen Denkens gingen Politiker zunehmend mit einer "Wahrheit" in den Bundestag, die sie für nicht verhandelbar hielten. Doch statt dezisionistischer Unbedingtheit im Stile Donald Trumps ist Offenheit für bisher nicht entdeckte Alternativen und neue parlamentarische Mehrheiten das Gebot der Stunde.

Diejenigen Abgeordneten des Deutschen Bundestages, die sich zudem christlichen und freiheitlichen Werten verpflichtet fühlen, sollten Gespräche über Fraktionsgrenzen hinaus suchen, um neue Lösungen zu finden, damit Deutschland nicht unregierbar wird. Trost bei dieser schwierigen, aber nicht aussichtslosen Suche spendet ihnen vielleicht die Warnung des Kirchenlehrers Augustinus vor der Unbelehrbarkeit der Menschen: "Irren ist menschlich, durch Arroganz im Irrtum zu verharren, jedoch teuflisch." 

Paul Kevenhörster

Paul Kevenhörster (RC Steinfurt) ist Professor emeritus für Politikwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Verfasser der Bücher "Strategie und Taktik. Ein Leitfaden für das politische Überleben", Baden-Baden 2024 (mit Benjamin Laag); "Politischer Kurswechsel im Gegenwind. Die Krise politischer Führung in Deutschland", Baden-Baden 2023.  
 
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