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Der verlegene Vizekanzler: Habeck und seine Hausaufgaben
Immer noch suchen Scholz, Habeck und Lindner nach einem Fahrplan – und die Parteien nach einem überzeugenden Programm. Politik aber beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit – dies gilt für Regierung wie Opposition.
Die Ampel-Regierung taumelt von Krise zu Krise. Doch der Bundeskanzler taucht immer wieder ab. Er verharrt im Umfragetief – und mit ihm seine Partei und andere Spitzenpolitiker. Denn niemand weiß, was sie wirklich wollen. Dies wäre eigentlich die Stunde des Vizekanzlers, der zugleich Aushängeschild der zweiten Regierungspartei ist. Doch was will der Vizekanzler eigentlich in der andauernden Krise? Ist er in der Lage, die vom Kanzler hinterlassene Lücke politischer Führung auszufüllen?
Robert Habeck ist vielfach wegen seiner politischen Übersicht und richtungsweisender Aussagen gelobt worden. Noch jüngst hat er mit seiner eindringlichen Warnung vor den Gefahren des Antisemitismus breite Anerkennung erfahren. Doch was ist seine Antwort auf die vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts ausgelöste Krise der Haushalts- und Wirtschaftspolitik? Der Vizekanzler und Wirtschaftsminister kann offensichtlich den Traumata grüner Politik nicht ganz entrinnen. Das misslungene Heizungsgesetz und die energiepolitischen Sorgen breiter Bevölkerungsschichten wirken stark nach. Doch die Grünen haben die politische Logik des Regierungshandelns in der Wettbewerbsdemokratie nicht rechtzeitig erkannt und durchschreiten derzeit in ihrer Ratlosigkeit ein "Tal der Tränen".
Und welchen Rat erteilt der wortgewandte Vizekanzler? In einem Fernsehinterview distanziert er sich von "seinem" Kanzler. In einer Talkshow polemisiert er zudem gegen den Vorsitzenden der größten Oppositionsfraktion und voraussichtlichen Kanzlerkandidaten der wählerstärksten Partei. Nach diesen Aussetzern sollte der Vizekanzler vielleicht Trost und Zuspruch bei dem Philosophen und Politiker Boethius aus dem 5. Jahrhundert nach Christus suchen: "Si tacuisses, philosophus mansisses" – "Wenn Du geschwiegen hättest, wärest Du ein Philosoph geblieben!"
Die Grünen halten derzeit jedenfalls mehr Fragen als Antworten bereit. Sie stellen sich zudem im politischen Wettbewerb als wenig lernfähige Verlierer dar, die alle Projekte der "Fortschrittskoalition" selbstverliebt fortsetzen und die Schuldenbremse am liebsten nochmals aussetzen würden. Der Frage nach einer grundsätzlichen wirtschafts- und haushaltspolitischen Kurskorrektur weichen sie dabei beflissen aus und reden so die drohende Rezession, die sie eigentlich bekämpfen wollen, selbst herbei.
"Im Schatten der Apokalypse lässt sich keine Politik betreiben" hat Wolfgang Merkel von der Humboldt-Universität in Berlin zu Recht angemerkt. Offenbar hat sich der grüne Zeitgeist "zu Tode gesiegt". Die Zeiten sind für Träumer links und rechts anscheinend zu hart geworden, wie die Neue Zürcher Zeitung vermutet. Aus diesem Dilemma führt auch nicht die Empfehlung des griechischem Philosophen Platon heraus, ein Staat sei dann gut regiert, wenn seine Lenkung in der Hand von Philosophen liege. Die derzeitige Lage der Politik in Deutschland legt vielmehr eine andere Sicht nahe: Philosophische Träumer neigen dazu, die Wirklichkeit nicht zur Kenntnis zu nehmen oder hinter der Sprachwolke vermeintlicher politischer Visionen verschwinden zu lassen. So erweckt die Optik des Regierungshandelns vielmehr den Eindruck einer fahrlässigen Täuschung der Wählerschaft. Kanzler und Minister aber stehen nicht über der Verfassung.
Habecks Hausaufgaben
Die politischen Vordenker der "Fortschrittskoalition" könnten stattdessen zumindest den Versuch unternehmen, den "Grundsatzkonflikt zwischen liberaler Politik und grüner Staatsbeglückung" (Antje Höning) durch erste konstruktive Schritte zu überwinden. Herr Habeck könnte sich dabei mit seinen Weggefährten im Ministerium und in der Bundestagsfraktion etwa auf folgenden, dornigen Weg begeben:
- Politik und Gesellschaft sollten aus dem Rausch der Subventionen erwachen und umwelt- und klimaschädliche Subventionen abbauen – auch solche staatlichen Hilfsgelder, die in der Einkommenspyramide nur von unten nach oben umverteilen. Die Subventionsberichte und die Empfehlungen des Normenkontrollrates der Bundesregierung wären hierbei eine wertvolle Orientierungshilfe.
- Eine verantwortungsbewusst handelnde Regierung könnte so neue Optionen entdecken: vom Bürgergeld über den Atomstrom, das Heizungsgesetz bis hin zu den Milliardenzuschüssen für die Rentenversicherung. Die Haushaltskrise zeigt jedoch warnend die Umrisse eines rot-grünen Luftschlosses und ist zudem selbstverschuldet. Dies ist eine bleibende Aufforderung an eine nachhaltige Haushaltspolitik und ein verantwortliches Schuldenmanagement in der Zukunft.
- Der frühere Wirtschaftsweise und Regierungsberater Lars Feld von der Universität Freiburg hat den Koalitionspartnern Abstriche an ihren Lieblingsprojekten empfohlen: der SPD in der Sozialpolitik, den Grünen bei klima- und industriepolitisch begründeten Subventionen und der FDP bei Steuerbegünstigungen.
- Zu erwägen ist auch der – zumindest partielle – Verzicht auf die Milliardensubventionen für die Ansiedlung von Chipfabriken in Magdeburg und Dresden. Beide Städte stellen schließlich keine strukturschwachen Gegenden dar.
- Die Regierung sollte schließlich mehr auf ihren Normenkontrollrat hören: Schlechte Gesetze sowie eine übergriffige und überforderte Verwaltung weisen darauf hin, dass die Ampelkoalition wie auch ihre Vorgängerregierung mit der Modernisierung der Verwaltung nicht recht vorankommt. Nur mit einer schlanken Verwaltung und innovativen Lösungen lässt sich jedoch die derzeitige politische Selbstblockade überwinden.
Der Vizekanzler könnte sich bei diesen Schritten von Wirtschaftsweisen der Universitäten Freiburg, Bonn und Köln beraten lassen. Damit könnte er auch wirtschaftspolitisch desorientierte Führungskräfte und Mitglieder seiner eigenen Partei mitnehmen und zugleich ein programmatisches Defizit der Grünen zu beseitigen helfen.
Noch erweckt die Regierung aber den Eindruck, sie könne einfach so weitermachen wie bisher. In früheren Jahrzehnten – die der Vizekanzler so gerne bemüht – wären ein geschlossener Rücktritt des Kabinetts und Neuwahlen naheliegend, wenn nicht unvermeidlich gewesen. Die Partner der "Fortschrittskoalition" scheint jedoch die Devise zu verbinden, die in Anlehnung an einen Ausspruch des amtierenden Finanzministers bei früheren Koalitionsverhandlungen so abgewandelt werden könnte: "Besser schlecht regieren als gar nicht!".
Der Parteitag der Grünen in Karlsruhe hat jedenfalls gezeigt: Die Partei benötigt eine Strukturreform, die eine handlungsfähige Führung garantiert. Ihre Amtsträger leiden offensichtlich darunter, dass sie sich ständig mit Fünfer- und Sechserrunden wachsamer innerparteilicher Aktivisten und Kontrolleure kurzschließen müssen. Die Parteimitglieder haben noch nicht verstanden, dass das Grundgesetz das freie Mandat garantiert: Eine lohnende pädagogische Aufgabe für den Vizekanzler wäre es daher, die Mitglieder der Grünen vor den Untiefen des imperativen Mandats in der Parteiendemokratie zu warnen. Sonst laufen alle Gefahr, sich zwischen überhöhten Selbstansprüchen und enttäuschten Erwartungen ihrer Wähler zu zerreiben. Wenn die Grünen indessen ihre Macht einbüßen, sollten sie sich an einen Ausspruch eines ihrer Veteranen erinnern: "Wenn die Grünen ihre Macht verlieren, dann immer aufgrund eigener Fehler – sie sind sich selbst die besten Gegendemonstranten."
Einstweilen halten sich der Kanzler und seine beiden Koalitionspartner bedeckt oder weisen die politische Verantwortung der Opposition zu. So verwenden sie das Arsenal ihrer haushaltspolitischen Tricks zugleich im Grabenkampf des politischen Wettbewerbs. Aber es gibt doch Lichtblicke im Halbdunkel dieses Kampfes: Die Vorsitzende der Grünen Ricarda Lang findet ihre Partei "nicht ganz unschuldig" an weitverbreiteten Vorbehalten gegenüber der grünen Fach- und Führungskompetenz, und der Generalsekretär der Union Carsten Linnemann arbeitet an einem neuen Programm seiner Partei, mit dem diese die Fehler bequemer Träume der Vergangenheit überwinden kann.
Die Quadratur des Kreises
Immer noch suchen Scholz, Habeck und Lindner nach einem Fahrplan – und die Parteien nach einem überzeugenden Programm. Politik aber beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit – dies gilt für Regierung wie Opposition. Die Regierung jedoch versucht sich an der Quadratur des Kreises. In dieser Krisenlage kommt es für den Vizekanzler darauf an, den in seiner eigenen Partei seit langem schwelenden Grundsatzkonflikt zwischen verantwortungsbewussten Politikgestaltern und verspielten Träumern zu überwinden. Studenten der Rechts- und Politikwissenschaft stellen einstweilen sogar die Frage, ob die Schuldenbremse überhaupt im Grundgesetz festgeschrieben werden muss. Experten für Fiskalregeln in der Verfassung wie der Münchener Ökonom Potrafke weisen jedoch darauf hin, dass diese Regeln dem Selbstbindungsproblem der Politik wirksam entgegenwirken: Sie stemmen sich der Neigung der Politik entgegen, heute zu viel zu Lasten der Zukunft zu konsumieren, und setzen so Haushaltsdefiziten, Verschuldungsquoten und Staatsausgaben wirksame Grenzen.
Paul Kevenhörster (RC Steinfurt) ist Professor emeritus für Politikwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Mit diesem Beitrag zieht er Folgerungen aus seiner neuen Studie "Politischer Kurswechsel im Gegenwind. Die Krise politischer Führung in Deutschland". (Baden-Baden 2023).
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