Aktuell
Neuer Autoritarismus im grünen Gewande?
Die grassierende Angst vor staatlicher Bevormundung
Wer den neuen Wiedertäufern in Politik und Gesellschaft der Gegenwart nachspürt, wird schnell im Umfeld des grünen Autoritarismus fündig. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtet von einem Mitarbeiter des Grünen-Bundestagsabgeordneten Helge Limburg, einem früheren Sprecher der Grünen Jugend, der den amtierenden Finanzminister und auch einen früheren "Parteifreund", den Tübinger Oberbürgermeister als "Kotzbrocken", verunglimpft habe und vom Amtsgericht Hannover zu einer Geldstrafe verurteilt worden sei. So beginne eine politkriminelle Karriere nicht nur in diesem Fall in einem Landesvorstand der Grünen Jugend und breite sich so "über die gesamte Partei aus" (Reinhard Bingener). Der Verurteilte soll im Übrigen gute Chancen haben, über die Landesliste der Grünen in den nächsten Bundestag aufzurücken. Der neue Parteivorstand der Grünen täte daher gut daran, dieser politischen Desorientierung und kulturellen Verwahrlosung in den Reihen des eigenen Nachwuchses entschlossener entgegenzuwirken.
Auf starken Widerstand in der Wählerschaft stoßen immer wieder dogmatische Züge des grünen Politikverständnisses. Dieses schlägt sich beispielsweise nieder in der Neigung zur Dämonisierung der zivilen Nutzung der Atomenergie, einer zunehmenden gesellschaftlichen Ermüdung beim Thema Klimaschutz und in der Tendenz, dem Täterschutz Vorrang vor dem Opferschutz zu geben: "Die brachiale Gewalt, mit der die Grünen ihre Steckenpferde ritten, haben Klimaschutz und Familienpolitik zu Reizwörtern werden lassen, bei deren Erwähnung mittlerweile oft mehr Emotionen im Spiel sind als Sachverstand." (Daniel Deckers) Immerhin prägen die Grünen aus der linken Mitte heraus inzwischen so sehr den Regierungsstil der Ampel-Koalition, dass die Neue Zürcher Zeitung von der "Erziehungsrepublik Deutschland" spricht: "Olaf Scholz und seine Regierung reden zu den Wählern, als ob sie Kinder wären."
Der Denkstil dieser Politik, der den Grünen inzwischen das Image einer "Verbotspartei" eingetragen hat, ist in dieser früheren "Antiparteien-Partei" tief verankert. Er gründet sich zumindest in Teilen darauf, dass die Grünen in ihrer Frühphase auch völkisch-nationalistische Kräfte wie Baldur Springmann in ihren Reihen gehabt haben. Ihre Protesthaltung stützt sich vor allem darauf, dass sie "Sozial- und Systemkritik mit individuellen demokratischen Ansprüchen" verbinden (Amlinger/Nachtwey). Dieser grüne Denkstil hat jedoch durchaus traditionelle Züge: Er liebäugelt in der Wirtschaftspolitik mit dem Dirigismus, der zentralen Lenkung der Marktwirtschaft, die auch nicht systemkonforme Maßnahmen wie Preisstopps und Investitionslenkung vorsieht. Hierfür ließen sich im Ressort von Wirtschaftsminister Habeck und seinen nachgeordneten Behörden zahlreiche Beispiele aufführen.
In gesellschaftspolitischer Hinsicht neigen die Grünen zu einem ebenfalls traditionellen Paternalismus, das heißt: zu dem Bestreben des Staates, seine Bürger zu bevormunden. Damit sind aber immer staatliche Handlungen verbunden, die die Freiheit der Bürger beschränken, um vorgeblich deren Wohlergehen zu fördern.
Auch der aktuelle Regierungsstil in Deutschland atmet zumindest in der Wirtschafts- und Sozialpolitik immer wieder den erhabenen Geist "paternalistischer Gouvernementalität" im Stile eines "autoritären Etatismus" (Poulantzas): Der Staat greift mit guter Gesinnung in die Wirtschaft ein und beschneidet so mehr und mehr individuelle Freiheitsrechte. Der Paternalismus der regierenden "Fortschrittskoalition" gibt sich jedoch libertär: In der Form des Nudging (Anstoßen, Drängen) sollen die Bürger in ihrer Lebenswelt "angestupst" werden, damit sie die richtigen Entscheidungen treffen. Er schränkt so zwar formal die individuelle Freiheit nicht ein, zweifelt aber umso nachhaltiger an der Vernunft der Bürger. Dies ist zugleich die vorherrschende Perspektive des Milieus der liberal-intellektuellen Bildungs- und Medienelite. Damit wächst zugleich die Deutungsmacht gesellschaftlicher Außenseiter mit weitreichendem politischem Gestaltungsanspruch – soweit sie die Zustimmung dieser Elite finden oder ihnen diese Elite durch die Entdeckung beziehungsweise Konstruktion immer kleinteiligerer gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten eine neue Opferrolle zuweist. So wird schließlich der Staat von den Akteuren paternalistischer Gouvernementalität wie etwa den "Lifestyle-Linken" im Namen der Identitätspolitik gekapert.
Die Grünen vertreten ihre politischen Vorstellungen seit jeher mit einem hohen moralischen Gestaltungsanspruch. Ihr früheres Mitglied Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen, hat sie sogar als die "moralischste aller Parteien in Deutschland" bezeichnet. Sie betrachten sich selbst als Verkörperung des postmaterialistischen und postindustriellen Zeitgeistes – mit erheblicher Ausstrahlung auf Studenten, Publizisten und vor allem alle Anhänger der "intellektuellen Schickeria". In ihrer Darstellung der klimapolitischen Herausforderungen der Erderwärmung verfolgen sie in weiten Teilen emphatisch eine Skandalisierungs- und Emotionalisierungsstrategie – und neigen dabei dazu, andere Ziele einer pluralistischen Gesellschaft sowie potentielle Unsicherheiten der Klimadiagnose vor dem eindrucksvollen Hintergrund hehrer Klimaschutzmotive zu verschweigen. Dabei werden die Klimaziele politisch-strategisch verabsolutiert und so zugleich Angst und Panik geschürt.
Dieser Autoritarismus hat jedoch in jüngster Zeit nachdrückliche Kritik auf sich gezogen. So hat der frühere Bundeverfassungsrichter Hans-Jürgen Papier entschieden vor dem damit verbundenen Machtanspruch gewarnt: "Eine solche Haltung ist von einem hohen Maße an Arroganz und Selbstüberschätzung gekennzeichnet." Und der Staatsrechtler Rupert Scholz weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass "keine sogenannte Moral sich über das Gesetz hinwegsetzen darf." Auch bei der Diskussion um den Ausbau erneuerbarer Energien führt der Denkstil der Selbstinszenierung und gesinnungsethischen Selbstbestätigung in den Teufelskreis unentrinnbaren Verbotsdenkens autoritärer Bevormundung. Die Verbotsliste grüner Politik ist inzwischen lang geworden: Fossile Energieträger, Diesel- und Atomtechnologie, Flugreisen, Kreuzfahrten, Fleischkonsum etc. etc...
Die Grünen täten gut daran, die Warnung des Bundesrechnungshofes ernster zu nehmen, die geplante Energiewende sei eine Gefahr für den Wirtschaftsstandort Deutschland und bedrohe zudem den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Worin besteht die Alternative? Die Grünen sollten – auch unter dem Eindruck mehrfacher Wahlniederlagen – das Ziel ins Auge fassen, sich von der "kleinteiligen, teuren und ineffizienten deutschen Klimapolitik" – so der Sachverständigenrat – zu verabschieden und stattdessen mehr auf ergebnisoffene Forschung und Entwicklung neuer Technologien setzen. Vor allem aber sollten sie sich von ihrem habituellen Autoritarismus verabschieden und eine Mahnung einer ihrer prominenten Freundinnen, der Schriftstellerin Elke Heidenreich, beherzigen: "Unsere Gesellschaft ist offen genug, um mir keinen Verhaltenskodex mehr vorzuschreiben, wie er die Alten früherer Jahrzehnte, Jahrhunderte ins Abseits befördert hat." Der Wechsel an der Parteispitze bietet den Grünen zudem eine gute Gelegenheit, sich politisch neu aufzustellen und neue Impulse in die breite Mitte der Gesellschaft zu senden.
Die Grünen sehen sich daher vor der Herausforderung, um Akzeptanz in der politischen Mitte der Gesellschaft zu ringen. Dazu werden sie in der Migrationspolitik auf einen neuen, realistischen und mehrheitsfähigen Kurs setzen und zum anderen in der Wirtschaftspolitik die Konturen einer sozialen und ökologischen Marktwirtschaft wiederentdecken müssen. Ihr gegenwärtiges Ordnungsdenken bewegt sich dagegen in den traditionellen Bahnen des wirtschaftspolitischen Dirigismus und des gesellschaftspolitischen Paternalismus, die die Väter der Sozialen Marktwirtschaft – Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack – schon vor mehr als sieben Jahrzehnten überwunden haben.
Auch in der Migrationspolitik werden sie ihre "kritischen Flanken" schließen müssen (Winfried Kretschmann). In ihrer gegenwärtigen Orientierungskrise benötigen die Grünen vor allem strategische Bausteine für einen programmatischen Neustart und müssen daher zuerst die Kosten-Nutzen-Rechnungen der eigenen Politik auf den Prüfstand der Kritik stellen. Dazu benötigen sie vor allem eine mehrheitsfähige Ökologiepolitik, eine realistische Migrationspolitik und eine Politik der Zurückdrängung des bürokratischen Wildwuchses.
Zwei weitere Texte zum Thema Demokratie und Bevormundung finden Sie auf rotary.de: www.rotary.de/a24337 und www.rotary.de/a24430.
Für wichtige Hinweise bei der Erarbeitung dieses Beitrages ist Paul Kevenhörster Dr. Benjamin Laag und cand. jur. Paul Schnase zu Dank verpflichtet.
Paul Kevenhörster (RC Steinfurt) ist Professor emeritus für Politikwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Mit diesem Beitrag zieht er Folgerungen aus seiner neuen Studie "Politischer Kurswechsel im Gegenwind. Die Krise politischer Führung in Deutschland". (Baden-Baden 2023).
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