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Demokratie

Von der ewigen Furcht vor autoritärer Bevormundung

Demokratie - Von der ewigen Furcht vor autoritärer Bevormundung
Die Körbe der Wiedertäufer am Turm der Lamberti-Kirche in Münster: Sind sie Symbol, dass sich Bevormundung und politischer Zwang wiederholen?

Wiederkehr der Wiedertäufer?, fragt angesichts aktueller Ereignisse Autor Paul Kevenhörster. Was in heutiger Zeit an die damalige Bewegung erinnert, welche Ängste und Ereignisse die Bürger umtreiben – und polarisieren. Eine Betrachtung

Paul Kevenhörster23.10.2024

Die Besucher Münsters, der Stadt des Westfälischen Friedens, werden beim Blick auf die Eisenkörbe am Turm der Kirche St. Lamberti am Prinzipalmarkt und auf das Täufer-Kopf-Kapitell am Rathaus an die Anführer der Wiedertäufer-Herrschaft erinnert: Jan van Leiden, Bernd Krechting und Bernd Knipperdolling. Diese wurden im Jahre 1535 von den Truppen des Bischofs Franz von Waldeck gefangengenommen und im folgenden Jahr hingerichtet. Ihre Leichname wurden in Eisenkörbe gelegt und an der Lambertikirche aufgehängt. Sie sollten eine eindringliche Warnung und eine bleibende Abschreckung sein: "Für alle unruhigen und aufrührerischen Geister der Gegenwart und Zukunft."

Nicht nur in Münster ist der Wiedertäufer-Mythos wirksam und tief im kollektiven Gedächtnis verankert. Die politische Wirkung der dreijährigen Wiedertäufer-Herrschaft reicht in der politischen Ideengeschichte weit über die Münsteraner Stadtgrenzen hinaus: Der Gründervater der politischen Philosophie Jean Bodin hat in seinem Werk Über den Staat schon im Jahre 1583 das Königtum Jan van Leidens als Beispiel für das Scheitern einer Staatsbildung bezeichnet.

Für die Gegenwart hat der Publizist Joachim Fest in einer Analyse der revolutionären Stoßrichtung der Neuen Linken festgehalten, dass der Chiliasmus der Wiedertäufer an der Wende zur Neuzeit und die revolutionären Sozialmythologien des 19. und 20. Jahrhunderts durchaus übereinstimmten. Unter Chiliasmus ist die Erwartung eines tausendjährigen Friedensreiches zu verstehen, das vor dem Ende der Welt auf Erden errichtet werden soll. Der Historiker Hans Galen hat schließlich entdeckt, dass die Protestbewegungen der Gegenwart mit ihrem schwärmerischen Missbehagen an Politik und Gesellschaft den utopischen Charakter politischen Denkens wiederentdeckt hätten, von dem die Wiedertäufer-Herrschaft geprägt gewesen sei. Gemeinsam haben die vorgenannten Bewegungen mit den Wiedertäufern ihre Bereitschaft, die eigenen Überzeugungen mit Zwang umzusetzen und den Bruch mit gegenwärtigen Verhaltensweisen mit Gewalt herbeizuführen.

Folgt man der gegenwärtigen politischen Debatte, könnte man durchaus den Eindruck gewinnen, die Geschichte der Wiedertäufer sei in Form einer "bevormundenden Regelungswut" zurückgekehrt. Allenthalben wird in Talkshows und Zeitungsüberschriften der Eindruck vermittelt, die gegenwärtige Ampel-Regierung wolle den Bürgern althergebrachte Lebensweisen von heute auf morgen verbieten, sei es der Fleischkonsum, das Heizen mit Öl und Gas oder die Fahrt mit dem Diesel-Pkw. Verbote scheinen von der interessierten Öffentlichkeit als neues Instrument auf der politischen Bühne entdeckt worden zu sein und am liebsten möchte man diese Verbote schnell wieder verjagen und mit ihnen die Partei politisch schwächen, die mit diesem Instrument assoziiert wird wie keine zweite.

Eine "Gemeinschaft der Gleichgesinnten"?

In Deutschland empfinden sich nach dem Ergebnis von Repräsentativumfragen der Institute Allensbach und Forsa nur noch 8,4 Prozent der Befragten als "ganz frei". Wer nach den Quellen dieses scheinbar wiederauflebenden Autoritarismus fragt, stellt schnell fest, dass die Warnung vor der drohenden Unfreiheit in bestimmten politischen Milieus beinahe schon zum guten Ton gehört. Allerorts begegnet uns die Warnung vor einer moralisch verbrämten Verbotskultur. Die Angst vor dieser prägt inzwischen auch die gesellschaftliche Mitte. Insbesondere im Zusammenhang mit den in manchen Milieus zu politischen Kampfbegriffen avancierten Stichworten wie Atomausstieg, Gaspreisbremse und Heizungsgesetz stehen die Kritiker auf dem Plan und warnen vor einer "grünen Überheblichkeit, die meint, alles besser zu wissen, der Wähler müsse das noch lernen" (Volker Resing).

Am rechten und linken Rand des politischen Spektrums, aber auch in der politischen Mitte, werden daher zunehmend Gesinnungsgemeinschaften beschworen – nicht aber ebenso nachdrücklich die Grundsätze einer "offenen Gesellschaft". Der Mannheimer Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmansegg hat in diesem Zusammenhang eine "beunruhigend starke Zeitströmung der Illiberalität" ausgemacht. Ideologische Bündnisse würden sich als "Gesinnungsgemeinschaften" ausgeben. Eine solche Einteilung befriedigt zwar auf der einen Seite das Bedürfnis der Bevölkerung nach Komplexitätsreduktion angesichts multipler Krisen, durch die Einteilung in strikt getrennte, antagonistische Lager werden aber gleichzeitig Ambivalenzen, Zwischenpositionen und Möglichkeiten für Revisionen verhindert und damit das erschwert, was einen Kern westlicher Demokratien ausmacht: Kompromisse. Durch die Einteilung in strikte Gesinnungsgemeinschaften, wird aus politischer Gegnerschaft politische Feindschaft: Imperialisten gegen Postkolonialisten, Transphobe gegen Gender-Gaga-Anhänger, Kriegstreiber gegen Putin-Freunde. Ideologische Irrlichter dieser Art flackern zurzeit in zunehmend beunruhigendem Maße in Talkshow-Runden, auf Parteitagen, in Universitäten und Redaktionsstuben auf.

Versteinerung der Demokratie?

Ein gutes Beispiel für den vorherrschenden Alarmismus im Diskurs liefern die Unkenrufe, die mit Blick auf die Energie- und Umweltpolitik der Bundesregierung und das Großprojekt der ökologischen Transformation vor einer "Klimaschutz-Diktatur" warnen. Industriepolitische Interventionen hat es aber in der deutschen Wirtschaftsgeschichte in Reaktion auf Transformationsanforderungen immer wieder gegeben – genannt seien hier das Stichwort der Strukturpolitik und Regionalförderung, das "Gesundschrumpfen" der Stahlindustrie in den 1980er Jahren oder der stark durch Subventionen begleitete Aufbau der Luft- und Raumfahrt- sowie Computerindustrie am Standort Deutschland.

Die politische Vision eines stärker steuernden und stützender Staates gab es zu unterschiedlichen Zeiten unter verschiedenen Bundesregierungen, ohne dass sich – auch liberale - Kritiker dazu veranlasst gesehen hätten, vom Weg in eine "Diktatur" zu sprechen. Das Ringen um widerstreitende wirtschaftspolitische Leitbilder ist vielmehr essenzieller Bestandteil demokratischer Aushandlungsprozesse. Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte und der aktuellen politischen Situation im Hinblick auf die Forcierung der Energieversorgung durch erneuerbare Energien von einer "drohenden Diktatur" zu sprechen, steht Demokraten nicht gut zu Gesicht, da es das Vertrauen der Bürger in die Institutionen beschädigt.

Die ewige Angst vor der Bevormundung

Eine große Sehnsucht nach autoritären Denk- und Sprachmustern kennzeichnet nicht nur heilsgewisse Vertreter der extremen Rechten und Linken, sondern auch meinungsbildende Mitglieder der bürgerlich-konservativen Eliten. Ein Dreh- und Angelpunkt der gegenseitigen Vorwürfe zur Bevormundung ist dabei exemplarisch die Debatte um den Gebrauch der Gender-Sprache.

Folgt man dem öffentlichen Diskurs zu diesem Thema, kann leicht der Eindruck entstehen, die deutsche Sprache werde vollständig "durchgegendert". Von den Kritikern der Gender-Sprache wird der Eindruck vermittelt, dass das Volk zum Gendern gedrängt werden solle, um den allgemeinen Sprachgebrauch durch Druck und Zwang "fortschrittlicher" zu machen: Die Vertreter "woker" Weltanschauungen verhängten gerne politisch korrekte Sprach- und Verhaltensdiktate und errichteten neue Zensurinstanzen, die letztlich eine Gemeinschaft der Gleichgesinnten anstreben.

Doch bei der Frage nach konkreten Beispielen für ordnungspolitische Maßnahmen, durch die dieser Zwang verwirklicht werde, müssen die Verfechter einer totalen Sprachfreiheit passen. Dies ist durchaus nachvollziehbar, denn die Fakten sprechen gegen einen Gender-Konformitätszwang. So zeigt eine linguistische Untersuchung, dass nur 3 der 20 größten Städte in Deutschland überhaupt Sonderzeichen für Gender-Sprache in ihren Internetauftritten nutzen. Gesetzliche Regelungen, die Institutionen oder gar Individuen in Deutschland zwingen könnten, Gender-Sprache zu nutzen gibt es bisher nicht.

Demgegenüber fällt auf, dass es vor allem die Gegner der Gender-Sprache sind, die ständig über das Gendern reden möchten und nun auch mit Verboten regulieren wollen, wie man sich im öffentlichen Raum auszudrücken hat. So hat die bayrische CSU-Landesregierung im April dieses Jahr das Gendern mit Sonderzeichen in Behörden sowie an Schulen und Universitäten verboten. Böse Zungen könnten es als Ausdruck einer kafkaesken Realitätsferne bezeichnen, einen vermeintlichen Gender-Zwang erst zu behaupten, um dann im Namen der Freiheit Verbote zu erlassen. Das ist es aber nicht, worum es Markus Söder und der CSU ging. Im Märchen "Alice im Wunderland" von Lewis Caroll sagt der Hutmacher treffend: "Die Frage ist nicht, was ein Wort wirklich bedeutet. Die Frage ist, wer Herr ist und wer nicht."

Das Glasperlenspiel der Gender-Kritiker hat daher nicht nur mit der Sorge um die deutsche Sprache zu tun. Vielmehr geht es ihnen eher um die Demonstration von Handlungsfähigkeit und ihre Inszenierung als Bollwerk gegen die strittige Bevormundung. Markus Söder inszeniert sich so als der Schutzpatron des Status quo. Dieser Gruppe, die von einer großen Angst vor Bevormundung geprägt ist, schließen sich in wachsendem Umfang auch Teile der neuen Mittelschicht an, der der Soziologe Andreas Reckwitz ein großes kulturelles Kapital von Bildungsabschlüssen zuschreibt. Diese Klasse bemüht sich um eine Kuratierung der Wertmaßstäbe und Verhaltensweisen auch der anderen sozialen Schichten: der alten, nichtakademischen Mittelschicht und der neuen, prekären Unterschicht.

Die Angst vor Verbotslisten wird zudem von "Polarisierungsunternehmern" geschürt, die den "Normalbürgern" den Eindruck vermitteln, es werde ein ideologischer Kampf gegen sie selbst geführt. Als "Polarisierungsunternehmer" werden dabei Akteure im Diskurs bezeichnet, die ihr Interesse darauf richten, Streit zu befeuern, um daraus politisches oder mediales Kapital zu schlagen. Auf politischer Ebene sind dies typischerweise populistische Parteien, aber auch etablierte Parteien lassen sich von dieser Taktik gelegentlich treiben und setzen sogar selbst verstärkt auf Affektpolitik. Die politischen Folgen dieser Polarisierungsstategie wiegen jedoch schwer: Der Dresdner Politikwissenschaftler Hans Vorländer hat bei aktuellen politischen Themen wie Migration und Klimaschutz eine "affektive Polarisierung" der Bevölkerung festgestellt. Die Grünen, die sich selbst als Anwältin des beschleunigten gesellschaftlichen Wandels verstehen, werden insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern als Inkarnation einer übergriffigen, urbanen Elite wahrgenommen und sind dort mittlerweile in der dritten Landtagswahl in Folge abgestraft worden.

Diese Elitenfeindlichkeit gilt im Übrigen auch der Europäischen Kommission und dem Europäischen Gerichtshof: Aufbauend auf dem bereits zu Zeiten der Eurokrise und der Corona-Pandemie erstarkten Euroskeptizismus haben "Polarisierungsunternehmer" in Bezug auf die Europäische Umwelt- und Klimapolitik gezielt den Mythos genährt, dass  dogmatische Umweltaktivisten in den letzten Jahren in die europäischen Gremien vorgedrungen seien und ihre  Blütenträume vom schadstofffreien Autoverkehr hier ohne Rücksicht auf Verluste und gegen den Willen der Bevölkerung vorantreiben würden. In der Debatte um das Ende der Neuzulassungen für Verbrenner-PKW im Jahr 2035, konnte man teils sogar den Eindruck gewinnen, dass dessen Befürworter den Verkehr mit Dieselautos mit sofortiger Wirkung ganz lahmlegen wollten. Ein Blick auf die europäische Rechtslage verdeutlicht schnell, dass dies mitnichten der Fall war: Vorher zugelassene Diesel und Benziner dürfen unbefristet weiterfahren. Die Taktik der "Polarisierungsunternehmer" war es auch hier, die strittigen Fragen so stark zu verkürzen und die entgegenstehenden Positionen zu verhärten, bis sich Akteure, die politisch ursprünglich woanders verortet waren auf ihre Seite schlugen. Diese Taktik ging bei den letzten Europawahlen auf: CDU/CSU und FDP machten die Rücknahme des europäischen Verbrennerverbots zu einer zentralen Forderung im Europawahlkampf 2024.

Die Auswirkungen dieser Entwicklung auf die politische Kommunikation und die demokratische Öffentlichkeit sind beachtlich: Der öffentliche Raum der Wahrnehmung politischer Aufgaben und gesellschaftlicher Probleme wird mehr und mehr auf die (Schein)frage "Für oder gegen die (vermeintliche) Freiheit des Volkes?" reduziert. Die Wortakrobatik der "Polarisierungsunternehmer" tut ein Übriges, um die Bevölkerung in Alarmbereitschaft zu versetzen und eine Einteilung in Freund-Feind-Lager zu perpetuieren, die politische Kompromisse geradezu unmöglich machen. Auf diesem Wege gefährdet die bleibende Lust an der Polarisierung schließlich den Minimalkonsens, auf den die Demokratie angewiesen ist: das Vertrauen in die Kraft von Kompromissen, die Schutzwirkung der staatlichen Institutionen und den Glauben daran, dass diese unsere Freiheit ermöglichen und schützen und sie nicht gefährden. Die Normen des Grundgesetzes sind auf gesamtgesellschaftliche Verbindlichkeit angewiesen und auf einen Wertekonsens, der einer fortschreitenden politischen Polarisierung entgegenwirkt. Dieser soll eine Gesellschaft fördern, "die spricht und diskutiert und nicht schreit und verunglimpft" (Florian Meinel).


Zwei weitere Texte zum Thema Demokratie und Bevormundung folgen auf rotary.de: www.rotaryde/a24429 und www.rotary.de/a24430.

Für wichtige Hinweise bei der Erarbeitung dieses Beitrages ist Paul Kevenhörster Dr. Benjamin Laag und cand. jur. Paul Schnase zu Dank verpflichtet.   

Paul Kevenhörster

Paul Kevenhörster (RC Steinfurt) ist Professor emeritus für Politikwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Mit diesem Beitrag zieht er Folgerungen aus seiner neuen Studie "Politischer Kurswechsel im Gegenwind. Die Krise politischer Führung in Deutschland". (Baden-Baden 2023).

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