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Nach dem Erwachen

Aktuell - Nach dem Erwachen
Die Parteien agieren derzeit mit wenig Erfolg. Ein neues Programm muss her - hier wie da, meint Paul Kevenhörster. © Adobe Stock Photo

Im Spätsommer 2023 gibt die politische Führung Deutschlands ein jämmerliches Bild ab. Die Parteien sind auf der Suche nach einem neuen Programm – und nach sich selbst.

Paul Kevenhörster23.08.2023

Eine der bekanntesten Erzählungen des amerikanischen Schriftstellers Washington Irving handelt von dem Bauern Rip van Winkle, der zur Zeit der britischen Kolonialherrschaft in Nordamerika durch einen Zaubertrank in einen tiefen Schlaf verfällt und nach dem Erwachen in einer unbekannten Umgebung feststellen muss, dass er weltpolitische Ereignisse verpasst hat. Van Winkle, der als Untertan des britischen Königs eingeschlafen war, hatte die amerikanische Revolution und den Unabhängigkeitskrieg verschlafen und war als Bürger der Vereinigten Staaten wieder aufgewacht. Ähnlich wie Rip van Winkle könnte es bald den alten Volksparteien in Deutschland ergehen, wenn sie weiterhin davor zurückweichen, sich nach zwei schläfrigen Jahrzehnten den derzeitigen Anforderungen eines neuen Umfeldes zu stellen.

Im Durcheinander des Politikalltags sind neue Denkanstöße nötig. © Adobe Stock Photo

Inzwischen sind aber einige Politiker aufgewacht, haben sich die Augen gerieben und arbeiten an einer programmatischen Kurskorrektur. Dabei müssen sie sich, wie Reinhard Mohr in der Neuen Zürcher Zeitung angeregt hat, von Überzeugungen trennen wie etwa der wahnhaften Vorstellung, sie müssten ein Vorbild sein für die Welt. In der aktuellen politischen Debatte bieten die Parteien aber immer wieder ein Bild, das zum Spott herausfordert und erinnern so an einen Ausspruch des römischen Schriftstellers Decimus Junius Juvenalis (58 – 138): "Keine Satire zu schreiben, ist schwer – Difficile est saturam non scribere."   

Neue Denkanstöße

Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages Michael Roth hat jüngst von der deutschen Politik "mehr Selbstbewusstsein im Umgang mit Russland" gefordert: "Die größte und unmittelbarste Bedrohung für Frieden, Sicherheit und Stabilität in Europa und der Welt geht von Russland aus. Damit müssen wir alle umgehen lernen." Die SPD müsse es sich eingestehen, "dass wir es in den 80er Jahren versäumt haben, eine verlässliche Verbindung zu den Freiheitsbewegungen in der DDR, in Polen oder Tschechoslowakei zu knüpfen". Russland wolle die Ukraine vernichten. Welch "fatale Rolle" einige Politiker der SPD in der deutschen Außenpolitik in den vergangenen Jahrzehnten gespielt haben, hat noch jüngst der frühere Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Jürgen Sudhoff beklagt und in diesem Zusammenhang auch auf die Verknüpfung der Kanzlerschaft Gerhard Schröders mit den "Interessen des russischen Großkapitals" hingewiesen.

Kommentatoren sprechen sogar von einer "Politik der Naivität und Blindheit" (Kohler). Noch immer können aber die Naiven und Blinden unter dem Schutzschirm der Volksparteien, die sich nicht ganz von ihren alten Träumen zu trennen wagen, für Putin und seinen Machtapparat wirken. Aufgabe der Parteien ist es, die deutsche Außenpolitik aus dem Scherbenhaufen herauszuführen, den die Regierungsparteien und ihre Unterstützer in den vergangenen zwei Jahrzehnten angerichtet haben. Dass Putin den Anspruch erhob, die einstigen Sowjetrepubliken gehörten eigentlich zu Russland, wurde lange Zeit nicht einmal diskutiert: Die politische Klasse hat – so der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen in einer verheerenden Bilanz der Merkel-Jahre – die geostrategische Sicherheit Deutschlands in ihrer Wahrnehmung ausgeklammert und sich dabei außenpolitisch äußerst bequem eingerichtet.

Der CDU-Vorsitzende Merz täte daher gut daran, das politische Erbe der früheren Kanzlerin auszuschlagen: eine nicht funktionsfähige Bundeswehr, den schwachen Ausbau der regenerativen Energien, das Festhalten an der geopolitisch brandgefährlichen Pipeline Nord Stream 2 und den Verkauf deutscher Gasspeicher an Putin. Er hat das Ergebnis der deutschen Außenpolitik wiederholt einen "Scherbenhaufen" genannt. Auch im Verhältnis zu China steht die deutsche Außenpolitik vor einer herausfordernden Aufgabe neuer programmatischer Kursbestimmung, die etwa die China-Expertin und Publizistin Xifan Yang zu drei Schlaglichtern zusammenfasst: die Verringerung der Abhängigkeit Deutschlands von der chinesischen Volksrepublik sowohl im Konsumgüter- als auch im Investitionsgütersektor. Geboten ist eine stärkere Diversifizierung der Exporte und Importe. Zweitens muss die deutsche Außenpolitik gegenüber den expansionistischen, aggressiven Tendenzen der chinesischen Politik in der Taiwan-Frage künftig stärker auf eine glaubwürdige Abschreckung setzen, ergänzt durch anhaltende Bemühungen um eine diplomatische Deeskalation.

So bietet sich für die deutsche Außenpolitik die Chance einer zweiten Zeitenwende. Der Aufbruch zu einer neuen, langfristig tragbaren Außenpolitik könnte aufseiten der Christdemokraten etwa vom Partei- und Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz und dem Außenpolitiker Norbert Röttgen getragen werden, der eine aktuelle Stellungnahme zu dem "schwerwiegenden Versagen der deutschen Außenpolitik" in den vergangenen zwei Jahrzehnten ("Nie wieder hilflos! Ein Manifest in Zeiten des Krieges") veröffentlicht hat. Wie der Autor fordert, brauchen wir "eine grundlegend neue Außenpolitik, die darauf abzielt, Krisen frühzeitig zu erkennen und zu handeln, bevor es zu spät ist". Unterstützt werden Merz und Röttgen bei ihrer neuen außenpolitischen Kursbestimmung von ihrem Fraktionskollegen Thorsten Frei, der sich kürzlich für die Schaffung einer neuen Europäischen Verteidigungsgemeinschaft mit atomarer Bewaffnung ausgesprochen hat. Wenn es sich aber bei dieser Neuorientierung nicht nur um ein Lippenbekenntnis handelt, werden die Reformer in beiden Volksparteien eine kritische Distanz zu den Moskau- und Peking-treuen "Merkelianern", den verträumten Pazifisten und den wendigen kommerziellen "Handlungsreisenden" von Malchin über Dresden bis München wahren müssen.

Die CDU vor einer Kurskorrektur

Die Union wird auch künftig auf dem "C" als ihrem programmatischen Identifikationskern beharren. Sie muss in Friedens- und Kriegszeiten politische Rahmenbedingungen setzen, die Zuversicht schaffen und dadurch das Gute im Menschen fördern. Das "C" bewahrt sie dabei vor dem utopischen Ideal einer vollkommenen Welt und erinnert sie zugleich an die Endlichkeit und Fehlerhaftigkeit der menschlichen Natur. Es wäre "geschichtsvergessen, wenn die Union das Christliche gegen einen gutbürgerlichen Konservatismus austauschen würde" – wie der Politikwissenschaftler Andreas Püttmann zu Recht warnt. In der Ordnungspolitik sollte es der CDU darum gehen, das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft zu einer Ökologisch-Sozialen Marktwirtschaft weiterzuentwickeln. Auf die derzeitigen Krisen kann sie mit einer ökologisch gestaltenden Ordnungspolitik antworten, die Umweltschutz und Ressourcenschonung zum wirtschaftlichen Eigeninteresse der Bürger und Unternehmen werden lässt. Darüber hinaus wird sie weit mehr als in der Vergangenheit darauf dringen müssen, umweltschädliche Subventionen abzubauen.

Eine bleibende Erblast: die Lebenslügen der Energie- und Ostpolitik

Ohne an das Restrisiko zu denken und ohne einen Plan B zu entwickeln, hat die Bundesregierung über ein ganzes Jahrzehnt an dem energiepolitischen Jahrhundertfehler einer verfehlten Energiewende festgehalten, der jetzt zum GAU geworden ist. Dieses Versagen hat mehrere Gesichter: Der frühere Wirtschaftsminister Peter Altmeier, der "Gasjunkie" Jürgen Hambrecht an der Spitze der BASF und schließlich der ehemalige Stasi-Major Matthias Warnig, Chef der Pipeline-Gesellschaft Nord Stream als "dunkler Rasputin der deutschen Gaspolitik" (Spiegel). Die regierungsamtliche Rechtfertigung dieses Kurses, Geschäft und Politik seien zwei Welten, wurde zur Lebenslüge der deutschen Energie- und Ostpolitik. Die historischen Grundlagen dieser Politik reichen indessen bis in die Ära Kohl zurück. Der außenpolitische Berater des damaligen Kanzlers Horst Teltschik erinnert sich entsprechend: Es habe nie eine Androhung aus Moskau gegeben. Kanzlerin Merkel feierte sogar Nord Stream 1 als "größtes Infrastrukturprojekt unserer Zeit".    

Doch inzwischen sind die Preise der Energieversorgung wie der strategischen Sicherheit dramatisch gestiegen – für die Energie der Zukunft wie für die Irrtümer der Vergangenheit. Eine langfristig tragfähige Politik muss nun aber bereit sein, diese Preise zu zahlen und sie als Investition in Deutschlands Zukunft zu begreifen. Eine schnelle Verkehrs- und Wärmewende erfordert einen entschlossenen Abbau der Bürokratie und politische Entscheidungskraft – auch haushaltspolitische Entschlusskraft. Wird diese Herausforderung im Sinne der überkommenen, politisch bequemen Maxime "billig und bequem" verschlafen, werden die finanziellen und politischen Kosten in absehbarer Zukunft explodieren und die Politik noch mehr überfordern.    

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Immer ein Streitpunkt, bei dem eine Neuorientierung nötig wäre: Energiepolitik © Adobe Stock Photo

Die CDU tut jedoch in der Opposition zu wenig für ihr eigenes Profil. Bequemlichkeit und Überheblichkeit sind jedenfalls keine zuverlässigen Orientierungsmarken für den Umgang mit der AfD. Eine wirkliche Kurskorrektur aber setzt voraus, auch eigene Fehler einzugestehen. Nur so lässt sich verlorenes Vertrauen wiedergewinnen. Der neue Generalsekretär tut daher gut daran, eine neue Migrationspolitik zu entwerfen, die den Schutz der europäischen Grenzen sichert und Integrationsleistungen jener einfordert, die ihr Aufenthaltsrecht nutzen wollen. Für die Union kommt es in dieser herausfordernden Lage darauf an, sich stärker zur Mitte zu öffnen.

Untiefen des Parteienwettbewerbs

Der Parteienwettbewerb zeigt auch weiterhin bemerkenswerte Risse: Ansätze eines programmatischen Neubeginns in der Außenpolitik waren zunächst bei den Grünen zu erkennen. Die Perspektiven der neuen China-Strategie der Bundesregierung verweigern sich zwar der Abkehr vom Reich der Mitte ("Decoupling") mit Blick auf die deutschen Wirtschaftsinteressen zu Recht und stellen so einen ersten Baustein einer eigenständigen neuen Außen- und Außenwirtschaftspolitik dar. Doch ist der Handel mit China inzwischen immerhin "zum derzeit einträglichen Klumpenrisiko herangeschwollen" (Christoph Hein). Ein neues eigenständiges, kritisches Denken ist zuerst in der Außen- und Verteidigungspolitik gefragt. Dies gilt auch für die Wirtschaftspolitik. Ordnungspolitische Denkanstöße des Wirtschaftsministeriums sind aber in den letzten Jahren Mangelware geworden. An der Wirtschaftspolitik der "Ampel" bemängeln die Wirtschaftsweisen Lars Feld, Michael Hüther und Sebastian Dullien, es herrsche das Diktat des Inkrementalismus: "Es gibt einen Versuch, durch die Situation gut durchzukommen." (Michael Hüther) Eine Neuausrichtung der deutschen Chinapolitik steht auf der Tagesordnung: Wie soll die deutsche Politik mit der der Volksrepublik zugeschriebenen "Wolfskrieger-Diplomatie der wirtschaftlichen und politischen Nötigung" (Elmar Thevesen), die Anleihen bei den aggressiven Methoden Russlands macht, auf Dauer umgehen?

In der Verteidigungspolitik hinkt die Bundesregierung wie seit Jahrzehnten immer noch mehrere Schritte hinter ihren Partnern und ihren eigenen Versprechungen hinterher. Der Nachbesserungsbedarf bei der geplanten Modernisierung der Bundeswehr bleibt unübersehbar. Nach Expertenschätzung könnte der Luftwaffe in einem symmetrischen Krieg bereits am zweiten Tag die Munition ausgehen. Auch im Jahr 2023 werden voraussichtlich weniger als zehn Prozent des Gesamtvolumens des "Sondervermögens" Verteidigungspolitik abfließen. Die deutsche Außen- und Verteidigungspolitik muss daher deutlich machen, "dass Frieden und Stabilität wo nötig auch mit militärischer Härte verteidigt werden müssen" (Philipp Dienstbier).

Versuche einer Neuorientierung

Zu begrüßen ist zwar die Bereitschaft der deutschen Außenministerin, die bisher konturarme deutsche Außenpolitik auf ein neues Fundament zu stellen. Es ist aber auch zu bedenken, dass eine rein normative Ausrichtung der Außenpolitik das Verständnis für das Handeln Dritter erschwert und Bedrohungen ausblendet, die das Ergebnis einer machtorientierten Interessenpolitik sind (Stefan Mair). Deutschland benötigt eine neue Strategie seiner Außen- und Sicherheitspolitik, die auf klar definierten eigenen Interessen beruht, fordert die Verteidigungspolitikerin Agnes Strack-Zimmermann zu Recht. In der Tat galt die Außen- und Sicherheitspolitik lange Zeit als "vermintes Gelände". Strack-Zimmermann mahnt an, was die politische Klasse zu vergessen haben scheint: "Auch Nichtstun ist eine Handlung, die von unseren Partnern genau registriert wird."

Auch in der Migrationspolitik tun sich trotz vielfältiger Denkanstöße aus Publizistik, Nichtregierungsorganisationen und Think Tanks breite Orientierungslücken und ein großer Reformbedarf auf. Einerseits gibt es große Sympathien für eine großzügige Asyl- und Flüchtlingspolitik; andererseits aber auch das politische Ritual, "in regelmäßigen Abständen Staatstrauer verordnen zu müssen" (Jasper von Altenbockum). Es mangelt der deutschen Migrationspolitik weiterhin an einer klaren Zielorientierung und an einer politischen Perspektive.

Gegenwind der Traditionalisten und Phlegmatiker

Den Befürwortern eines politischen Kurswechsels schlägt aus verschiedenen Richtungen kräftiger Gegenwind ins Gesicht: von russophilen und pazifistischen Gruppierungen, den komfortverwöhnten Traditionalisten in den großen Parteien und der notorisch konfliktscheuen Schickeria in den Medien. Russland-Freunde und Putin-Versteher finden sich sogar tief in der Mitte der Evangelischen Kirche wieder: Diese hat ihre traditionelle Friedensethik in den letzten Jahren mit radikal-pazifistischen Formeln und zudem mit einem schöngefärbten Bild des Putin-treuen Moskauer Patriarchats angereichert.

Die Bundeskanzler der vergangenen Jahrzehnte haben Deutschlands Abhängigkeit von einem aggressiven und expansiven Russland nicht etwa korrigiert, sondern, im Gegenteil entschieden vorangetrieben. Beide großen Parteien sehen sich daher der Herausforderung eines programmatischen Neubeginns ihrer Außen- und Europapolitik gegenüber. Die SPD steht dabei vor der Bilanz politischen Versagens ihrer Russland- und Osteuropa-Politik und die CDU auch vor den Trümmern ihrer Europa-Politik. Das viel gepriesene Konzept "Wandel durch Annäherung" hat sich jedenfalls als ein Irrweg erwiesen. Der Versuch, ein zunehmend autoritäres und revisionistisches Russland durch wirtschaftliche Verflechtung einzuhegen, ist gescheitert. Nicht zuletzt, weil es in eine starke energiepolitische Abhängigkeit von Russland geführt und den Machtspielraum dieser autoritären Großmacht Schritt für Schritt erweitert hat – begleitet von aufmunternden Zurufen von Publizisten und Wissenschaftlern in West und Ost. Der frühere Außenminister und Vorsitzende der SPD Sigmar Gabriel hat jüngst zu Recht beklagt, dass "... sich das politische Führungspersonal des demokratischen Zentrums der Aufgabe verweigert, Prioritäten zu setzen und Zukunftsentwürfe zu entwickeln, die einen Hoffnungsschimmer in die Gesellschaft tragen."

Aus ihrer fehlgeschlagenen Russlandpolitik sollte die SPD die richtigen Folgerungen ziehen und insbesondere ihre Politik gegenüber autoritären Regimen überdenken. Ihr kurzatmiger, hilfloser Umgang mit dem chinesischen Projekt im Hamburger Hafen verrät einen grundlegenden "Mangel an Systemverständnis" (Wolfgang Seibel) im Verhältnis zu autoritären und totalitären Regimen. Er verrät zudem einen grundsätzlichen, interessegeleiteten Verzicht auf das Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft: vormals ein Eckpfeiler des sozialdemokratischen Politikverständnisses. Der Abschied von Nord Stream 2 ist den Sozialdemokraten offensichtlich immer noch nicht ganz gelungen, und der verklärende Blick auf das Erbe Willy Brandts und seiner Ostannäherung hilft hier auch nicht weiter.

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Parteienforscher sehen die Notwendgkeit einiger Kurskorrekturen. Doch umsetzen müssten diese die Parteien. © Adobe Stock Photo

Die notwendige Kurskorrektur findet somit im Gegenwind statt. Dieser weht den Volksparteien auch in der eigenen Mitgliedschaft entgegen. Besonders schwerwiegend, so stellt der Parteienforscher Karl-Heinz Naßmacher in einer Zwischenbilanz des Politikversagens der Parteien fest, sei das "Zerbrechen des innerparteilichen Konsenses": In beiden Volksparteien sei die Bereitschaft zur Kooperation zwischen "Modernisierern" und "Traditionalisten" geschwunden. In der Opposition zeugen vor allem die Eskapaden des bayrischen Ministerpräsidenten von einem Verzicht auf rationales Führungsverhalten.

Das Dilemma der CDU: der Ehrgeiz der Landesfürsten und das Schweigen der "Lamas"

Nach den letzten beiden Jahrzehnten, in denen sich die politische Führungsschicht der CDU eine Politik der geschmeidigen Anpassung an wechselnde Problemlagen der Innen- und Außenpolitik gegönnt hat und eine zielorientierte politische Führung weitgehend vermissen ließ, stehen weitreichende Kurskorrekturen ihrer Politik auf der Tagesordnung: in der Verkehrs- und Wohnungspolitik, der Ernährungs- und Agrarpolitik und schließlich in der Verteidigungs- und Außenpolitik. Noch ist die schläfrige politische Klasse indessen nicht aus ihrer "Illusion von Behäbigkeit und Unveränderlichkeit" erwacht, in die sie die Münchener Historikerin Hedwig Richter verstrickt sieht. Stattdessen träumen die Traditionalisten weiterhin von einer "störungsfreien Menschheitsrettung" (Richter). Dies gilt vor allem für die Landesfürsten der Union in Düsseldorf, Kiel, Berlin und München, die ihrem Partei- und Fraktionsvorsitzenden auf Bundesebene vor der drängenden Klärung der Kanzlerkandidatenfrage gern den Rang ablaufen oder gar ein Bein stellen – durch blumige Erklärungen, peinliche Ordensverleihungen an die Exkanzlerin und das Umwerben ihrer offensichtlich orientierungslosen Anhänger. Diese könnten aber durchaus durch einen kritisch-konstruktiven Beitrag zur neuen programmatischen Standortbestimmung der Union leisten – etwa durch Antworten auf folgende Fragen: Warum ist die alte, dilatorische Migrationspolitik der Union ein Werbegeschenk für die äußerste Rechte geworden? Warum sind die Russland- und Osteuropa-Politik so dramatisch gescheitert? Welche Aufgaben stellen sich nun der Europa- und Frankreich-Politik? Und warum sind die Herausforderungen der Klimapolitik so lange vernachlässigt worden?

Der frühere DDR-Bürgerrechtler und stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Unionsfraktion im Deutschen Bundestag Arnold Vaatz hat jüngst die Folgen der Politik der früheren Kanzlerin als "Katastrophe für Deutschland" bezeichnet. Die Neue Zürcher Zeitung stellt hierzu fest: Angela Merkel kontrollierte die CDU als Vorsitzende und Kanzlerin über 20 Jahre. "In dieser kleinen Ewigkeit verlor die Partei ihre Seele und die gesellschaftliche Mitte ihr politisches Zentrum." (Eric Gujer) Der Publizist Reinhard Müller spricht in diesem Zusammenhang sogar von der "wachsenden Untergangslust der 'Parteifreunde', ... die allenfalls biedere Lauch-Landesväter darstellen können." Wer es allen recht machen wolle, gewinne keine Mehrheit. 

Die drängenden Fragen nach einer programmatischen Neuorientierung werden von den Landesfürsten nicht einmal gestellt – geschweige denn beantwortet. Und die alten Lamas ("Letzte Angela-Merkel-Anhänger") schweigen verlegen oder suchen einstweilen Profilierungschancen auf entlegenen Schauplätzen. In der Zwischenzeit bleiben aber viele Chancen ungenutzt. Nicht Positionspapiere "für einen modernen bürgerlichen Konservatismus" oder schöne Bilder selbstgefälliger Öffentlichkeitsarbeit führen aus diesem programmatischen Profildilemma heraus, sondern nur konkrete Programmvorstöße in der Außen- und Verteidigungspolitik sowie der Wirtschafts- und Bildungspolitik: ein weites Profilierungsfeld – auch für ehrgeizige Landesfürsten.

Noch immer ist das Versagen der Union in der Flüchtlingspolitik der letzten zehn Jahre nicht aufgearbeitet worden. Ja, es wird von einer programmatisch weithin entkernten Partei nicht einmal erörtert. Gefangen im programmatischen Opportunismus der letzten beiden Jahrzehnte tut sich die Union schwer damit, die dritte – am meisten herausfordernde – Aufgabe parlamentarischer Opposition ernst zu nehmen: Kritik, Kontrolle und Alternative. Dies gilt mit ganz besonderem Vorrang für die Energie- und Umweltpolitik. Hierzu könnten auch Länder wie Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Bayern durchaus wichtige Denkanstöße und Programmvorschläge liefern.

Immerhin ist der Entwurf der Union für eine neue "Agenda für Deutschland" vom 30. Juni 2023 ein zaghaftes Hoffnungszeichen. Dies ist auch dringend erforderlich, denn viele Bürger wissen gar nicht, wofür die CDU eigentlich steht. In der Ära Merkel hat sie sich voreilig dem Druck der öffentlichen Meinung gebeugt. Nun aber schlägt der Generalsekretär in der Programmdiskussion neue Pflöcke ein und verlangt einen Neustart der Migrations- und der Asyldebatte. Damit werden die Weichen für einen Kurswechsel gestellt. Der alte Schlingerkurs soll einer Politik der "klaren Kante" weichen, die der Ampel-Koalition ein bürgernahes Kontrastprogramm entgegenstellt. Dies erscheint eigentlich ganz einfach; denn den "schlumpfigen" Politikstil des Kanzlers verspottet auch der Kabarettist Harald Schmidt: Olaf Scholz sei der "mit der Aktenmappe, der ruhig und sachlich die Sachen abarbeitet und immer so im ungefähren bleibt. Und es ist schon ein großer Shakespeare, wenn er dann die Nebenrollen aufeinander losgehen lässt, wie er sich das so anschaut."

Kommt vielleicht doch einiges in Bewegung?  Eine Warnung Albert Einsteins

In der SPD sind die Gräben zwischen den Parteilinken und den Gemäßigten des "Seeheimer Kreises" nach wie vor tief. Die Parteilinken waren in der Fraktion in den letzten Jahren sehr mächtig, doch scheinen die Mitglieder des Seeheimer Kreises, eine zuverlässige Stütze des Kanzlers, inzwischen mit der Parlamentarischen Linken gleichgezogen zu haben. Aber auch der Kurswechsel der Parteilinken im Zeitalter der "Zeitenwende" scheint beachtlich zu sein. Beide Flügel sollten sich stärker der von Nikolaus Blome geäußerten Kritik stellen, erst der "grün-rote Dünkel" habe die AfD "gemästet". 

Gelingt es der Fraktion, das politische Gewicht dieser beiden Flügel auszutarieren? Die Befürworter einer grundsätzlichen außenpolitischen Kurskorrektur können sich vielleicht dadurch bestätigt fühlen, dass Union und Sozialdemokraten nach den letzten Umfragen des Instituts für Demoskopie in Allensbach zusammen wieder das Vertrauen einer knappen Mehrheit der Wählerschaft gewonnen haben. Für sie gilt aber auch weiterhin eine Warnung des großen Physikers Albert Einstein: "Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und zu hoffen, dass sich etwas ändert."

Paul Kevenhörster

Paul Kevenhörster (RC Steinfurt) ist Professor emeritus für Politikwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Mit diesem Beitrag zieht er Folgerungen aus seiner neuen Studie "Politischer Kurswechsel im Gegenwind. Die Krise politischer Führung in Deutschland". (Baden-Baden 2023).

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