Interview
"Die Schweizer Neutralität ist ein komfortabler Anachronismus"
Die Schweiz profitiere wirtschaftlich und sicherheitspolitisch von Europa und den USA. Da könne sie sich in der gegenwärtigen geopolitischen Großwetterlage nicht auf ihre Neutralität berufen. Ein Gespräch über die „helvetische Orientierungslosigkeit“ mit Roger de Weck.
Herr de Weck, wir stellen zu Beginn eine These in den Raum und bitten Sie um eine kurze Einordnung: Neutralität im geopolitischen Kontext wird zu einer Utopie.
Utopie ist zu freundlich formuliert. Neutralität ist schlicht eine Illusion, ein Betrug und Selbstbetrug.
Ihr Heimatland, die Schweiz, ist diesbezüglich das beste Beispiel.
Nicht nur – blicken Sie nach Norden! Sobald es gefährlich wird, flüchten Finnland und Schweden in die Nato. Das war eine Schönwetter-Neutralität.
Bevor wir auf die beiden Länder zu sprechen kommen, möchten wir zurück zur Schweiz, die einen anderen Weg geht. Der Bundesrat hat am 28. Februar 2022 die Sanktionen der Europäischen Union gegen Russland übernommen und somit deren Wirkung verstärkt. Ist das nicht schon eine klare Abkehr von der politischen Neutralität?
Wäre die Schweiz im Konflikt mit Russland ein Frontstaat, wäre sie bereits heute nicht mehr neutral. Die Eidgenossenschaft ist eine Trittbrettfahrerin der Nato, ihre Sicherheit hängt voll und ganz von diesem Militärbündnis ab. Der US-Botschafter in Bern hat es auf den Punkt gebracht: Die Nato ist der Donut und die Schweiz das Loch in der Mitte.
Stimmen Sie dem zu?
Ja.
Inwiefern?
Die Schweiz kann sich ihre Neutralität nur leisten, weil es die Nato gibt. Zur deren Leistungsfähigkeit tragen die Eidgenossen aber nicht bei. Die Schweizer Neutralität ist ein komfortabler Anachronismus.
Warum wäre die Schweiz nicht in der Lage, sich selbst zu verteidigen? Das Schweizer Bundesheer ist zwar klein, verfügt aber über hochmoderne Waffensysteme, und die topografischen Begebenheiten der Schweiz erschweren einen Einmarsch enorm.
Im Zweiten Weltkrieg hätte die Schweiz nur die Alpen verteidigt und den Rest des Lands, das heißt 90 Prozent der Bevölkerung, preisgegeben. Das wäre heute in einem Landkrieg nicht anders.
Schauen wir mal auf die Debatte in der Schweiz. Befürworter und Gegner der Neutralität gehen in ihrer Argumentation weit zurück. Die Regierung fühlt sich rechtlich noch immer an die Haager Konvention von 1907 gebunden, nach der ein neutraler Staat alle Kriegsparteien gleich behandeln muss. Das heißt, dass der Bundesrat auch Waffenlieferungen an Russland genehmigen müsste, wenn er sie an die Ukraine erlaubt. Wenn man sich auf jahrhundertealte Paragrafen stützt, in denen altertümlich selbst das "Fernmeldewesen" geregelt ist – wie soll die Schweiz je den Sprung in die Zukunft schaffen und sich zum Beispiel gegen Cyberangriffe wehren?
Gute Frage. Im Cyberkrieg gibt es überhaupt keine Neutralität. Es können Unternehmen, ganze Branchen und Infrastrukturen in einer Nation oder transnational angegriffen werden. Bei einem Cyberangriff lässt sich nicht eindeutig feststellen, was Krieg ist und was noch nicht Krieg ist. Und: Gegen größere Cyberangriffe kann man sich nur in Kooperation mit Partnern verteidigen. Neutralität läuft hier ins Leere.
In einem Interview warnten Sie jüngst vor einem möglichen russischen Atomschlag auf die Schweiz. War das ernst gemeint?
Meine Aussage lautete: In der Sicherheitspolitik ist immer auch der unwahrscheinlichste Ernstfall mitzudenken. Man darf ihn nie von vornherein ausschließen. Das ist eine elementare Regel der Sicherheitspolitik im atomaren Zeitalter. Sollte eines Tages der Extremfall eintreten, dass Russland dem Westen einen atomaren Warnschlag versetzen will, ohne gleich einen Direktangriff auf die Nato zu starten, ist denkbar, dass ein westliches Nicht-Nato-Land wie beispielsweise die Schweiz ins Visier gerät. Anders gesagt: Neutralität ist keine absolute Garantie für die Sicherheit der Schweiz.
Sind Sie der Erste, der das so offen ausgesprochen hat?
(Selbstironisch) Ich bin vielleicht sogar der Erste, der daran gedacht hat.
Vielleicht.
Nein, im Ernst: Vernünftige Gedanken werden meistens zeitgleich von mehreren gedacht.
In einem Artikel, den Sie für das Rotary Magazin 2020 schrieben, haben Sie Emmanuel Kant mit folgendem Satz zitiert: "Freiheit ist die Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür.“" Diese Freiheit hat die Schweiz nun verloren, weil sie unter dem Druck des Westens die Sanktionen gegen Russland mitträgt. Ist sie damit nicht zum willfährigen Gehilfen degradiert, der westliche Interessen im Ukraine-Krieg unterstützt?
Lassen Sie mich klar zwischen dem Neutralitätsrecht und der Neutralitätspolitik unterscheiden. Das erwähnte 5. Haager Abkommen von 1907 stellt rechtliche Mindestanforderungen an neutrale Staaten. Innerhalb dieses juristischen Rahmens kann ein Land seine Neutralität sehr strikt oder weniger strikt handhaben, das ist dann Neutralitätspolitik.
Das Neutralitätsrecht ist überholt. Es entstand zu einer Zeit, in der atomare Konflikte noch unvorstellbar waren und es kaum "Dual-Use"-Güter gab, die sowohl militärisch als auch zivil genutzt werden können. Das fünfte Haager Abkommen untersagt Waffenlieferungen nur an die eine Kriegspartei. Aber weit über diese Bestimmung hinaus verbietet die Schweiz den Nato-Ländern die Wiederausfuhr schweizerischer Waffen: Was sie vor Jahren in der Eidgenossenschaft gekauft hatten, dürfen sie nicht der Ukraine zur Verfügung stellen. Das ist Schweizer Neutralitätspolitik. Doch die hat sich über die Jahrzehnte enorm gewandelt. Es gab zu Zeiten des Völkerbunds die "differenzielle Neutralität", daraufhin die "integrale Neutralität", und seit 1993 sind Wirtschaftssanktionen zulässig, soweit die Vereinten Nationen sie verfügt haben. Zuletzt hatten wir eine Diskussion über die "kooperative Neutralität", doch die Regierung wollte davon nichts wissen. Die rigide, im Grunde überholte Neutralitätspolitik des heutigen Schweizer Bundesrats ist den Partnern im Westen schlicht und einfach nicht zu vermitteln.
Neutralität ist aus Schweizer Sicht ein bedeutendes Wort, aber wir können mit Blick auf die Schweiz heute nicht mehr wirklich davon sprechen. Wäre es jetzt nicht konsequent, die betreffenden Artikel 173 und 185 zu ändern?
Die Neutralität selbst ist in unserer Bundesverfassung nicht als Staatsziel verankert, weder in der Präambel noch in den außenpolitischen Grundsätzen. Nirgends. Das haben die Schweizer sehr bewusst unterlassen. Die Neutralität ist ja bloß ein Instrument oder sollte bloß eines sein. Dieses Instrument war zweckmäßig zu einer Zeit, als an der Schweizer Grenze europäische Krieg tobten, meistens Deutschland gegen Frankreich, aber auch Konflikte etwa mit Habsburg. Heute hat die Neutralität keine historische Rechtfertigung mehr. Sie ist ein überholtes Instrument. Anders gesagt: Neutralität ist eine identitätsstiftende Schweizer Lebenslüge, an der die Eidgenossen hängen wie an ihren Bergen.
In Artikel 173 der Bundesverfassung heißt es: "Die Bundesversammlung hat zudem folgende Aufgaben und Befugnisse: Sie trifft Maßnahmen zur Wahrung der äußeren Sicherheit, der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz." Somit ist die Neutralität doch verankert.
Die Bundesversammlung darf solche Maßnahmen treffen, muss aber nicht. Das ist eine politische Erwägung.
Eine wichtige Feinheit.
Wir leben in Zeiten, in denen die schweizerische Volkswirtschaft ähnlich wie die deutsche enorm globalisiert ist. Mit dem Westen wirtschaftlich vollends verflochten zu sein, aber die politische Solidarität zur EU und zu den USA zu verweigern, ist nicht länger haltbar. Die Schweiz wird hier über die Bücher gehen müssen. Aber wie so oft macht mein Land das Richtige zu spät.
Fällt es der Schweiz nicht auch deswegen schwer, weil das egalitäre Bewusstsein ihrer Bewohner, niemanden über sich zu dulden, Teil der Schweizer DNA ist? Auch, weil man weiß, dass man nur der Befehlsempfänger für die EU und die USA ist.
Das ist die Schweiz bereits heute in vieler Hinsicht. Bei der Credit-Suisse-Rettung war der Einfluss der USA maßgeblich, die angeschlagene Großbank auf die Schnelle mit der UBS zu fusionieren. Vernünftiger wäre es gewesen, die Credit Suisse vorübergehend zu verstaatlichen. Denn nach Übernahme der Credit Suisse ist die UBS viel zu groß für ein kleines Land wie die Schweiz – ihre Bilanzsumme beträgt das Doppelte unseres Bruttosozialprodukts. Auch bei der Preisgabe des Schweizer Bankgeheimnisses, das in Wahrheit ein Steuerhinterziehungsgeheimnis war, gab es keine Alternative, als dem Druck der USA und der EU nachzugeben. Die Schweiz verändert sich seit je erst unter ausländischem Druck.
Im Artikel, den Sie für uns schrieben, zitierten Sie den Rechtsphilosophen Ernst-Wolfgang Böckenförde: Das Gedeihen einer Demokratie hänge von der "moralischen Substanz" der Bürger ab, dem Wir-Gefühl, oder in den Worten des Staatsdenkers Montesquieu: vom "esprit général". Wie steht es also um den "esprit général" der Schweizer?
Die Schweizerinnen und Schweizer sind so sehr damit beschäftigt, untereinander Kompromisse zu schließen, dass es ihnen schwerfällt, zusätzlich mit ihren westlichen Partnern Kompromisse einzugehen. Das ist die Schwäche heterogener Gefüge wie der Schweiz im Kleinen, und im Großen der EU. Die langwierige Meinungsbildung in Sachen Außen- und Sicherheitspolitik ist extrem mühselig und behindert die Handlungsfähigkeit. Diese ersetzt man im Falle der Schweiz mit dem Dogma der Neutralität.
Aber kam nicht die Kraft der Schweiz auch immer gerade daher, in der Mitte zu stehen und mit allen einen Dialog zu führen? Vier Sprachen, zwei große christliche Religionsgemeinschaften und trotzdem alle zusammen.
Je größer der Außendruck, desto stärker der innere Zusammenhalt. Nie war die Schweiz so vereint wie im Zweiten Weltkrieg: umgeben von Nationalsozialisten im Norden, von Faschisten im Süden und von Pétainisten im Westen, also Anhängern des Kollaborateurs und Marschalls Philippe Pétain. Da war ein gewaltiger nationaler Zusammenhalt. Deshalb suggeriert heute der starke Mann der Schweizer Populisten, Christoph Blocher von der Schweizerischen Volkspartei, die Europäische Union sei das "Vierte Reich". Immerzu beschwört er den schlimmen Außendruck, unter dem die Schweiz stünde. Dabei ist die EU die beste Partnerin, die je die Schweiz in ihrer Geschichte hatte. Die EU hat zum Vorteil des Exportlands sowie seiner transnationalen Konzerne einen großen europäischen Markt und eine einheitliche Währung geschaffen. Sie hat die Personenfreizügigkeit eingeführt, von der die kleine Eidgenossenschaft massiv profitiert: Ein Schritt, und schon ist man im Ausland! Im Wechselspiel mit der Nato hat die EU zudem für etwas Ordnung auf dem Kontinent gesorgt. Noch nie hatte die Schweiz einen so erfreulichen Nachbarn. Er wird aber als Bösewicht hingestellt, der die Eidgenossen knechte oder übervorteile. Das ist der Schweizer Spagat, der das Land verspannt und seine Europapolitik blockiert. Der tiefere Grund für die helvetische Orientierungslosigkeit liegt darin, dass sich die Schweiz nie an der Neuordnung des eigenen Kontinents beteiligen wollte. Sie wollte bloß die Nische sein, in der man tut, was woanders verboten ist, etwa Steuerhinterziehung oder jetzt einen oft rücksichtslosen Rohstoffhandel. Doch im heutigen digitalen Zeitalter werden alle Nischen nacheinander ausgehebelt, weil alles bekannt wird im Zuge der "Paradise Papers" oder "Swiss Leaks". Die Neutralität als Geschäftsmodell ist ein Auslaufmodell.
Wenn die Neutralität ein Auslaufmodell ist, stellt sich unweigerlich die Frage, zu welchem Lager wird man künftig gehören: zum westlichen Lager der USA oder zu China? Der frühere US-Außenminister Henry Kissinger warnte jüngst davor, dass den USA und China weniger als zehn Jahre blieben, den dritten Weltkrieg zu verhindern und eine friedliche Ko-Existenz beider politischen Systeme zu regeln. Stimmen Sie ihm zu?
Es eröffnet sich eine Alternative, sofern die Europäer zusammenstehen und stark genug sind. Dann werden sie weder blindlings der amerikanischen Logik folgen, man könne China ausgrenzen, noch der chinesischen Logik der Arroganz nachgeben. Sie können eigene Interessen durchaus in Partnerschaft mit den USA und in Systemrivalität zu China vertreten. Dazu bedarf es der europäischen Einigung, sie ist im elementaren Interesse auch des Exportlands Schweiz.
Glauben Sie, dass dies der EU gelingen könnte?
Ich würde es nicht von vornherein ausschließen. Wir haben es zu tun mit einem überheblichen China, einem kriegerischen Russland und einem unwägbaren US-amerikanischen Partner: Wer weiß, welche transatlantischen Beziehungen wir haben werden, falls Donald Trump abermals US-Präsident wird. Wir haben zudem rund um unseren Alten Kontinent einen Chaos-Bogen, der sich von der Ukraine über den Kaukasus und die Türkei bis nach Nahost und Nordafrika zieht. Wenn solcher Außendruck nicht dazu führt, dass die Europäer ein paar Schritte mehr in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik tun, dann wäre es zum Verzweifeln. Ich bin aber ein Kulturoptimist.
Erste Ergebnisse dieses Außendrucks auf Europa zeigen sich. Zwei europäische Staaten geben in der Sicherheitspolitik ihre Neutralität auf: Finnland und Schweden. Während Schweden noch auf die Zustimmung der Türkei wartet, ist Finnland bereits Nato-Mitglied. Damit hat sich die Nato-Grenze zu Russland verdoppelt. Bedient dieser Beitritt nicht Putins Narrativ, Russland sei von der Nato bedroht und rücke noch weiter an ihn heran?
Das hat sich Putin selbst zuzuschreiben. In Finnland ist der Schritt riesig nach acht Jahrzehnten Neutralität: zunächst aufgezwungener und dann stark internalisierter Neutralität. Die Gefahr war einfach zu groß geworden. Finnland dient als Muster dafür, was sich im besten Fall in der Ukraine entwickeln könnte. Die Finnen hatten sich im Winterkrieg gegen die Sowjetunion heldenhaft verteidigt. Sie mussten enorme Verluste und am Schluss große territoriale Zugeständnisse hinnehmen. Aber im kollektiven Unterbewusstsein Russlands blieb die Erfahrung haften: Leg dich nicht noch einmal mit den Finnen an! Bei den Schweden war die Neutralität ähnlich wie im Fall der Schweiz Lebenslüge und Identitätsmerkmal. Es war bequem, sich herauszuhalten. Mit einer starken Armee im Rücken sah man die Bündnisfreiheit als moralischen Mehrwert. Es hieß, man ist blockfrei im Frieden und neutral im Krieg. Jetzt sind die Schweden weder blockfrei im Krieg noch neutral im Frieden. Sie wollen in die Nato. Das hat aber eine Vorgeschichte. Das schwedische Militär hat sich bereits in den 90er Jahren im Bosnien-Krieg einem Nato-Kommando unterstellt. Der technische und organisatorische Standard der Schweden wurde nach und nach dem der Nato angepasst. Es war ein diskreter, langer Weg. Sobald die Türkei zustimmt, ist sie ein wirksamer Teil des Bündnisses.
Ist das der Beginn einer großen internationalen Transformation zu einer Renaissance des alten Ost-West-Konfliktes?
Das glaube ich nicht. Dafür hat Russland viel zu wenig zu bieten. Das entscheidende Kräftemessen wird zwischen dem Westen und China stattfinden, gerade vor dem Hintergrund von ChatGPT. Die Künstliche Intelligenz lebt derzeit zu 95 Prozent von der Einspeisung westlicher Erkenntnisse. Es ist somit eine sehr westliche Intelligenz. Totalitäre Länder, die behindern, dass KI frei und umfassend gefüttert wird, ziehen früher oder später den Kürzeren.
Im Moment lenkt der Ukrainekrieg noch einmal unsere Aufmerksamkeit auf Russland. Aber in der Zukunft müssen wir uns China zuwenden.
Russland führt einen anachronistischen Krieg, auch in Strategie und Taktik übrigens.
Täuscht der Eindruck, dass es im Konflikt zwischen Russland und vor allem China auf der einen und den USA auf der anderen Seite schwieriger geworden ist, zu keiner Seite zu gehören?
Genauso ist es.
Neutralität kann ja nicht gleichgestellt werden mit Passivität oder Pazifismus.
Neutralität bleibt für die meisten Schweizer wichtig. Denn da ist eine lange Tradition. Sie stammt daher, dass es sowohl für den deutschen Kaiser als auch für den französischen König unerträglich gewesen wäre, wenn der andere die Alpenpässe beherrscht hätte. Deswegen brauchten sie ein Niemandsland, daraus wurde die Schweiz. Ich schematisiere extrem. Solche Neutralität wurde erst im Nachgang zum Wiener Kongress 1815 offiziell. Es ist also vornehmlich eine alte Tradition des politisch-militärischen Rückzugs zugunsten des weltweiten Ausgreifens in Handel und Industrie. Davon kommen die Schweizerinnen und Schweizer nicht so schnell weg. Aber als sicherheitspolitisches Element ist die Neutralität überholt. Doch wie immer werden die Schweizerinnen und Schweizer wohl keine Grundsatzdebatte führen, vielmehr werden sie wie ein Eichhörnchen die Neutralität hier und dort anknabbern, bis im Grunde wenig davon übrigbleibt. Im Nord-Süd-Konflikt gilt die Schweiz sowieso nicht als neutral. Die Länder des globalen Südens sehen die Schweiz wirklich nicht als ein neutrales Land.
Japan hat 2015 seine Verfassung geändert und darf fortan das Recht zur "kollektiven Selbstverteidigung" anwenden und sogar an der Seite von Verbündeten wie den USA kämpfen, auch wenn es selbst gar nicht angegriffen wurde. Die Gruppe der blockfreien Staaten scheint immer mehr zu schrumpfen – oder täuscht der Eindruck?
Solange die Volksrepublik eine aggressive Außenpolitik namentlich im südchinesischen Meer verfolgt und aggressive Töne anschlägt, wird Blockfreiheit dort schwer sein. Wir müssen aber auch erkennen, dass China keine imperialistische Tradition hat. Es ist ein Riesenland, das über Jahrhunderte in sich ruhte, auch wenn es etliche Grenzkonflikte gab. Das heutige weltweite Ausgreifen der Volksrepublik beunruhigt viele Nachbarn. Am ehesten ist Indien noch blockfrei. Ein Land, das sich dies leisten kann. Es läge im europäischen Interesse, die Beziehung zu Indien zu intensivieren. Wirtschaftlich war Indien in der jüngeren Vergangenheit das wesentlich schwierigere Land als China. Die totalitäre Volksrepublik wird aber zusehends unberechenbar und rechtsunsicher. So wie die Deutschen auf die chinesische Karte gesetzt haben, so investieren die Franzosen massiv in Indien. Das scheint mir zwar holpriger zu sein, aber nachhaltiger und klüger.
China ist für Deutschland der wichtigste Handelspartner. Zwischen den beiden Ländern wurden 2022 nach vorläufigen Ergebnissen Waren im Wert von 298,6 Milliarden Euro gehandelt. Wie lange kann dieser Balanceakt gutgehen?
Es ist eine verhängnisvolle Pfadabhängigkeit entstanden. Das zu korrigieren, dürfte schwierig werden. Die Pfadabhängigkeit reicht so weit, dass einzelne Konzerne nach wie vor massiv in China investieren. Andere ziehen sich sachte zurück und wechseln in andere fernöstliche Länder.
Ist es in einzelnen Branchen nicht schon zu spät?
Nein. Es geht ja nicht darum, sich komplett aus China zurückzuziehen. Aber kein Unternehmen darf regelrecht von China abhängig werden. Das ist das Wichtigste. Die große Illusion der frühen Globalisierer war, dass sie endlich einen Weltmarkt bekämen, der sich dem Zugriff der Staaten und der Politik entzöge. Das Ergebnis dieser Anarchie ist der politisierteste Weltmarkt seit langem. Solche Zügellosigkeit rächt sich jetzt.
Das Fazit lautet somit: Außen- und Sicherheitspolitik lassen sich nicht von Wirtschaftspolitik trennen.
Wandel durch Handel war die deutsche Lebenslüge. Man mag es auch so formulieren: Es gab sehr wohl Wandel durch Handel – indem sich Deutschland in seinen Mentalitäten und Abhängigkeiten viel stärker gewandelt hat als die Volksrepublik China oder Russland. Im Zweifel haben sich deutsche Wirtschaftsführer angepasst, nicht die chinesische Nomenklatura.
Kommen wir zum Abschluss unseres Gespräches zurück zur Schweiz. Wie muss die Schweizer Zeitenwende aussehen?
Bern wird den westlichen Partnern die Wiederausfuhr von schweizerischen Waffen und Munition erlauben. Das jetzige Verbot wird die erste Verteidigungslinie sein, die einbricht. Die nächste wird sein, dass die Eidgenossenschaft ihre Neutralität flexibilisiert. Die Verurteilung eines völkerrechtswidrigen Kriegs durch eine qualifizierte Mehrheit in der Uno-Generalversammlung taugt hier als Kriterium, um Waffenlieferungen zu ermöglichen. Die Schweiz ist selten für große Würfe zu haben. Viele Probleme diskutiert sie weniger, als dass sie diese allmählich verdaut. Am Schluss kommt oft was Vernünftiges heraus.
Ein schöner Schlusssatz mit positivem Grundton.
Es ist eine Konstante der Schweizer Geschichte, dass sie ihre großen Entwicklungsschritte unter ausländischem Druck tut. Bis die Schweizer sich untereinander verständigen, von der Appenzeller Bergbäuerin bis zum Genfer Bankier, dauert es. Die trennen Welten. Was sie eint, ist das Staatsverständnis und das gemeinsame Interesse – das sie dann erkennen, wenn der Außendruck groß wird. Es ist nicht edel, aber wirksam.
Roger de Weck ist Bestsellerautor und Gastprofessor am College of Europe in Brügge. Zuletzt erschien bei Suhrkamp „Die Kraft der Demokratie – Eine Antwort auf die autoritären Reaktionäre“.
De Weck war Generaldirektor der Schweizer Radios und Fernsehens in Bern, Stiftungsratspräsident des traditionsreichen Graduate Institute of International and Development Studies in Genf, Chefredakteur der „Zeit“ in Hamburg, Moderator von „Sternstunden Philosophie“ (3 Sat) und Kolumnist für französische Medien. Der zweisprachige Schweizer studierte Volkswirtschaft in St. Gallen.
Roger de Weck sitzt namentlich im Stiftungsrat des Internationalen Karlspreises Aachen, im Zukunftsrat für Reformen von ARD, ZDF und Deutschlandfunk und im Wissenschaftlichen Beirat der Zeitschrift „Critique Internationale“ (SciencesPo Paris). Er ist Ehrendoktor der Universitäten Freiburg und Luzern.
Roger de Weckist Bestsellerautor und Gastprofessor am College of Europe in Brügge. Zuletzt erschien bei Suhrkamp „Die Kraft der Demokratie. Eine Antwort auf die autoritären Reaktionäre“.
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