Rotary Aktuell
Der Sport des Homo Ludens

Was ist Sport, und was ist er nicht? Die einen sagen: „Sport prägt den Menschen“, die anderen: „Sport ist Mord“. Überlegungen zu Bedeutung und Wert des Sports
Diskussionen über Sport in der Öffentlichkeit können zu extrem kontroversen Aussagen führen; sie reichen von einer verabsolutierenden Parteiname für den Sport hin bis zu einer strikten Ablehnung. Dies zeigt sich heute nicht mehr so deutlich wie in den im Titel genannten extremen Positionen, verstummt ist sie aber nicht. Die Zeit der strikten Ablehnung, wie sie von der 68er-Generation unter Inanspruchnahme der „Kritischen Theorie“ mit ihrer fundamentalen Kritik an der Leistung erhoben worden ist, ist überwunden. In der (Sport-)Pädagogik allerdings sind der Leistungsgedanke und vor allem der Leistungsvergleich im Sport noch vorwiegend negativ belegt, wie etwa die ideologisch geprägte Diskussion um die Bundesjugendspiele zeigt.
Sport hat „Bedeutungen“
Voraussetzung für eine argumentative Bewertung des Sports ist die Beantwortung der Frage „Was ist Sport“ oder richtiger „Welche Bedeutungen hat Sport?“ Als Grundlage für eine begriffliche Klärung dieser Alternative und eine Abschätzung der Werte und Gefahren von Sport lohnt sich ein Ausflug in die Philosophie der „Normalen Sprache“ („Ordinary Language“) von Wittgenstein. Sie greift auf die Alltagssprache zurück, also auf die Sprache, wie der Begriff Sport von Menschen im Alltag verwendet wird. Wie nützlich der Rückgriff auf die Philosophie der „Ordinary Language“ ist, erkennt man bei einem Rückblick auf eine Definition von Sport, wie sie in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts noch allgemein anerkannt gewesen ist. Bei Carl Diem (Gründer der Deutschen Sporthochschule Köln) heißt es 1960 zum „Wesen des Sports“: „Sport als Leibesübung ist im Lebensbereich zweckfreien Tuns ein von Wertgefühl und Festlichkeit erfülltes, natur- und kampffrohes, verfeinert und typisiert geregeltes Vervollkommnungsstreben“.
Eine solche Definition von Sport wird als ontologisch eingeordnet, weil sie gleichbedeutend mit der Frage nach seinen Wesensmerkmalen ist. Zum Ausdruck gebracht wird dies oft in einer hypothetischen Frage, was Sport eigentlich sei. Adorno hat dies ablehnend als „Jargon des Eigentlichen“ charakterisiert. Wer vorgibt zu wissen, wie die Welt „wirklich“ beziehungsweise „eigentlich“ ist, tendiert zu Verabsolutierungen mit einem Alleinvertretungsanspruch.
Ausgangspunkt von Ludwig Wittgenstein ist sein Konzept der Familienähnlichkeiten, das er an einer Bedeutungsanalyse von „Spiele“ erläutert hat: Obwohl es ganz unterschiedliche Spiele gibt („Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiele, Kampfspiele usw.“) und obwohl diese Spiele nicht dieselben verbindlichen Gemeinsamkeiten („unterhaltend“, „Gewinnen und Verlieren“, „Konkurrenz“, „Geschick und Glück“) haben, werden sie alle als Spiele bezeichnet; bei ihnen „bleibt manches Gemeinsame erhalten, aber vieles geht verloren“.
„Ich kann (die Bedeutungen von ‚Spiele‘) nicht besser charakterisieren als durch das Wort ‚Familienähnlichkeiten‘, denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. – Und ich werde sagen: die ‚Spiele‘ bilden eine Familie“.
Wittgensteins Analyse des Spiels auf der Basis der „Philosophie der normalen Sprache“ gilt als allgemein anerkannt. Die Analyse bietet sich sowohl aus inhaltlichen wie auch aus strukturellen Gründen für einen Transfer auf den Sportbegriff zur Bestimmung seines Gegenstandsbereichs an. Auch Sport kann als Begriff der Familienähnlichkeiten angesehen werden. Dies schließt ein, dass Erscheinungsformen des Sports, also Sportaktivitäten (etwa Fußball, Schach oder Fitness) nicht notwendigerweise und hinreichend dieselben Merkmale, also Bedeutungen (Wettbewerb, Motorische Aktivität,Grundwerte und mehr), aufzuweisen brauchen.
Im Sinne von Wittgenstein ist auch von einer „Ambivalenz und Heterogenität des modernen Sports“ (Rittner) auszugehen: Wie bei „Spielgruppen“ kann (empirisch belegt) von „Sportmodellen“ ausgegangen werden:

Die Übertragbarkeit von Wittgensteins Spielanalyse auf den Sport schließt ein, dass für die unterschiedlichen Sportmodelle unterschiedliche Bedeutungen („gemeinsame Züge“) als relevant angesehen werden und dass diese Zuschreibung von unterschiedlichen Menschen sehr unterschiedlich gesehen werden kann. Das zeigt sich besonders darin, dass diejenigen Menschen, die innerhalb eines bestimmten Models aktiv sind, für „ihren“ Sport ganz andere Bedeutungen sehen, als dies in der breiten Öffentlichkeit geschieht.
- Besonders ausgeprägt zeigt sich das für den professionellen (Hoch-)Leistungssport. Ihn bringen die Aktiven zentral mit körperlicher Leistungsfähigkeit, Anstrengung, Disziplin und Herausforderung in Verbindung, während in der allgemeinen Bevölkerung vor allem die Bedeutungen Aggressivität, Gesundheitsschädigung, Verletzungsgefahr und Stress genannt werden. Damit wechselt eine mögliche Einordnung vom Homo Ludens zum Homo Faber/Laborans.
- Teilnehmer am traditionellen Sport erleben vor allem Wettkampf, Leistung und Teamgeist. Sie sehen auch keinerlei Leistungsdruck, wie dies in der allgemeinen Bevölkerung der Fall ist.
Die Bedeutungen von Sport können sich über die Zeit stark ändern (Dynamische Vagheit). Dies zeigt sich darin, dass die zuvor gegebene Definition von Diem heute nicht mehr aktuell ist. Das lässt erwarten, dass sich die Bedeutungen von Sport auch in Zukunft ändern werden. Und schließlich beinhaltet der Sportbegriff in unterschiedlichen Kulturen (Ländern) jeweils etwas anderes (Statische Vagheit): In Asien wird er fast ausschließlich mit Wettkampf in Verbindung gebracht, und in Nordamerika ist er an eine notwendigerweise hohe körperliche Anstrengung gebunden.
Der DOSB braucht eine eindeutige Definition
Im Unterschied zum Alltag kann und darf der DOSB nicht auf die „Philosophie der normalen Sprache“ und damit auf den „Familien-Sport-Begriff“ im Sinne Wittgensteins zurückgreifen. Er hat somit nicht die Möglichkeit eines Rückzugs auf einen vieldeutigen Sportbegriff, er hat das Recht und die Pflicht, Sport eindeutig zu definieren. Dazu dient ihm die „Philosophie der idealen Sprache“ (Frege). Diese Notwendigkeit ergibt sich für den DOSB, um entscheiden zu können, wer Mitglied in seiner Organisation werden kann und wer nicht. Von diesem Recht hat der Deutsche Sportbund (DSB) als Vorläufer auch früher schon Gebrauch gemacht. Im Jahre 1999 hat er die Aufnahme von Paintball und Gotcha in den DSB mit der Begründung abgelehnt, dass beide kriegsverherrlichend und damit kein Sport sind.
Nach der jetzt gültigen Aufnahmeordnung von 2018 für „Spitzenverbände und Sportverbände ohne internationale Anbindung“ muss Sport erfüllen: „1. Die Ausübung der Sportart muss eine eigene, sportartbestimmende motorische Aktivität eines jeden zum Ziel haben, der sie betreibt. (...) 2. Die Ausübung der eigenmotorischen Aktivität muss Selbstzweck der Betätigung sein. (…) 3. Die Sportart muss die Einhaltung ethischer Werte wie z. B. Fair Play, Chancengleichheit, Unverletzlichkeit der Person und Partnerschaft durch Regeln und/oder ein System von Wettkampf- und Klasseneinteilungen gewährleisten“.
Sport – ein vielseitiges Vehikel
Dass Sport einen wesentlichen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung leisten kann und sollte, kann als Alltagswissen angesehen werden. Dafür hat die (Sport-)Wissenschaft aber auch hinreichend Belege vorgelegt:
- Als Grundlage für Sport gilt, dass konditionelle (Kraft und Ausdauer) und koordinative Fähigkeiten (z. B. Geschicklichkeit) gefordert sind und durch Sport gefördert werden können.
- Der Trainingsprozess gibt eindeutige Rückmeldungen über die Effektivität des eigenen Handelns. Er ermöglicht das Erkennen der sogenannten Selbstwirksamkeit
- Zur Aufnahme und Weiterführung bedarf es einer ausgeprägten Leistungsmotivation und Anstrengungsbereitschaft.
- Der Sport zwingt zur Verarbeitung von Erfolg und Misserfolg.
- Sport findet vorwiegend in einem sozialen Umfeld statt. „In Sportvereinen ist Sport am schönsten“; sie bilden ein soziales Netz.
- Die geschriebenen und vor allem die ungeschriebenen Gesetze des Sports fordern und fördern Fairness.
- Sport fördert die Persönlichkeitsentwicklung Heranwachsender motorisch, psychisch, kognitiv und sozial.
- Die motorische Leistungsfähigkeit muss keineswegs bereits nach der Pubertät abfallen; vielmehr kann sie - bei systematischem Training - bis ins hohe Alter weitgehend erhalten werden.
- Bei einer sorgfältigen Selektion der körperlichen Aktivität (S), bei einer Optimierung (O) des Trainings und bei der Nutzung von Kompensationsmöglichkeiten (K) gibt es nach der SOK-Theorie von Baltes keinerlei Einschränkungen für Sport im Alter.
Die genannten Effekte wirken zunächst sportimmanent, sie sind für Handlungen im Sportbereich nachgewiesen. Für den motorischen Persönlichkeitsbereich haben sie natürlich auch einen Wert in den Lebensbereichen der Arbeit und der Freizeit. Ob auch die erworbenen psychischen, kognitiven und sozialen Effekte in weitere Lebensbereiche transferiert werden, kann nicht verallgemeinernd gesagt werden. Es gibt dafür durchaus Hinweise, scheint aber individuell sehr unterschiedlich zu sein.
Sport fordert Verantwortung von Organisationen und von jedem Einzelnen
Sport ist ambivalent; er weist positive und negative Effekte auf. Vorhandene Gefahren gelten aber nicht für den Sport allgemein, sondern differenziert für die aufgeführten Sportmodelle und auch in unterschiedlicher Gewichtung: So kann es im Gesundheitssport zu Überforderungen kommen, der traditionelle Sport kann in bestimmten Altersgruppen einen unangemessenen Raum im Leben einnehmen oder er wird in der Kindheit oder im Alter nicht (mehr) altersgemäß ausgeführt. Als besonders schwerwiegend anzusehen sind Gefahren im (Hoch-)Leistungssport, und sie umfassen dort alle Bereiche der Persönlichkeit und schließen gesundheitliche Überforderungen und Schäden nicht aus.
Aus der Ambivalenz des Sports entsteht notwendigerweise eine Verantwortung für den Sporttreibenden (und Tiere) und für alle in diesem Feld Tätigen. Ihre Wahrnehmung wird von Pädagogen, Trainern und Sportorganisationen genauso gefordert wie von Eltern. Als Richtschnur zum Erkennen und zur Beurteilung der Verantwortung – auch für den Sport – gilt die sogenannte Verantwortungsethik nach Max Weber. Sie besteht aus den beiden Pfeilern Gesinnungs- und Folgen-Ethik. Erstere betrifft den Zeitraum der Handlung direkt, die zu berücksichtigen Folgen können weit in die Zukunft reichen.

Prof. Dr. Dr. Klaus Willimczik (RC Erbach-Michelstadt) ist ehemaliger Deutscher Meister über 110 Meter Hürden und Sportwissenschaftler. Neben umfangreicher erfahrungswissenschaftlicher Forschung hat er sich vor allem der wissenschaftstheoretischen Begründung der interdisziplinären Sportwissenschaft (fünf Bände) gewidmet.