Rotary Aktuell
Ein bedrohliches Pulverfass
Der Herausgeber des Rotary Magazins für Großbritannien und Irland besuchte Anfang des Jahres zusammen mit Rotariern aus aller Welt Neu-Delhi, um bei den nationalen Impftagen des Landes im Kampf gegen Polio zu helfen.
Der Geruch der Elendsviertel ist einfach überwältigend. Ein starker, stechender, durchdringender Gestank von Chemie und abgestandenem Ammoniak liegt in der Luft. Ammoniak ist ein unsichtbares Salz, dessen Geruch einen wie der Schlag eines Boxers in die Magengrube trifft.
Die schmerzlichen Sinneseindrücke werden durch den Anblick des Elends und menschlichen Leids noch verstärkt. Sind die feuchten Augen, die wir auf unserem Weg durch die holprigen engen Gassen dieser Siedlung in Neu-Delhi bekommen, das Resultat chemischer Ausdünstungen oder Ausdruck unserer menschlichen Gefühle?
Durch warme Kleidung vor der frühmorgendlichen Januarkälte geschützt, den Magen gut gefüllt mit einem üppigen Hotelfrühstück und ein teures iPhone in der Hand, das diese seelenzerstörenden Momente festhalten soll, fühlt man sich als Mensch tief beschämt.
Gelegentlich hört man über den Köpfen das Dröhnen der Flugzeuge, die auf dem nahe gelegenen internationalen Flughafen Indira Ghandi landen, unsichtbar, da man sie wegen des tief liegenden Smogs nicht sehen kann.
Und kaum eine halbe Meile vom Slum Vasant Vihar entfernt liegt ein Skoda-Autohaus, das für teure, protzige Autos wirbt, die für die Bewohner dieses als „Frühlingssiedlung“ bekannten Ortes mehr kosten, als sie in ihrem ganzen Leben verdienen können.
Paradoxon der Armut
Bei einer Nation mit der am schnellsten wachsenden Billionen-Dollar-Wirtschaft der Welt und der fünftgrößten Wirtschaft im Jahr 2019 mit einem nominalen Bruttoinlandsprodukt von 2,94 Billionen Dollar ist das Paradoxon der Armut einfach ein abgründiges Phänomen.
Für ein Land wie Indien stellen Siedlungen wie Vasant Vihar ein bedrohliches medizinisches Pulverfass dar, das jederzeit explodieren und die seit sechs Jahren herrschende Poliofreiheit beenden kann.
In Vasant Vihar drängen sich etwa 13.000 kleine Hütten, viele davon nur mit einem einfachen Vorhang als Haustür ausgestattet. Die meisten Unterkünfte sind provisorische Behausungen, einige sind aus Ziegeln oder Blechen erbaut.
Die sanitäre Situation ist jämmerlich
Wasser muss herangetragen werden, die Menschen versuchen irgendwie ein normales Leben zu führen, während die Tiere, Schweine, Kühe und Hunde frei auf den vermüllten Freiflächen herumstreunen.
Angesichts dieser Zustände sind Siedlungen wie Vasant Vihar ein wichtiges Ziel für den nationalen Polio-Impftag der indischen Regierung – eine von Rotary International unterstützte Massenkampagne, die jedes Jahr an mehreren Tagen stattfindet. Dann werden zusätzliche Dosen des oralen Poliovirus-Impfstoffs an Kinder verabreicht, um die Übertragung von Polio-Wildviren zu stoppen.
Deepak Kapur, der Vorsitzende des PolioPlus-Komitees von Rotary International in Indien, kann berichten, wie anfällig dieses Land mit seinen 1,37 Milliarden Einwohnern ist und wie schnell es seinen poliofreien Status wieder verlieren kann. Die regionalen Nachbarn Pakistan und Afghanistan sind nach wie vor die letzten beiden Länder der Erde, in denen Polio endemisch ist.
Deepak sagt: „Wir sitzen buchstäblich auf einer Zeitbombe, solange Pakistan und Afghanistan nicht von dem Virus befreit sind. Polio braucht keinen Pass, es kennt keine Grenzen. Grenzen sind schließlich nur von Menschen gezogene Linien.“
Bedingungen im eigenen Land
Deepak räumt ein, dass Indien wegen seiner beklemmenden Bevölkerungsdichte, den unhygienischen Lebensbedingungen, dem unreinen Trinkwasser, der Mangelernährung und enterischen (Magen-) Krankheiten, die in einigen Gebieten noch immer existieren, in einen gähnenden Khud (Abgrund) blickt.
Der Rotarier aus Neu-Delhi weist aber auch auf den Bundesstaat Uttar Pradesh hin, der in der Nachbarschaft von Nepal in Nordindien liegt und stets das Sorgenkind der Kinderlähmung war. Einst warnte ein Beamter der Weltgesundheitsorganisation: „Die Welt wird nur dann poliofrei sein, wenn Indien poliofrei ist; und das wird nur geschehen, wenn Uttar Pradesh frei von Polio wird.“ Deepak erklärt: „Der Grund dafür, dass wir die Kinderlähmung in Uttar Pradesh und einigen anderen endemischen Gebieten besiegen konnten, liegt darin, dass wir diese Gebiete buchstäblich mit oralen Polioimpfstoffen überfluteten. Den Erfolg verdanken wir den Impfstoffen, aber nicht zuletzt auch dem Einsatz freiwilliger Rotarier, die eine Katalysatorrolle übernahmen und dafür sorgten, dass jedes Kind geimpft wurde.“
Und so versammelten sich auch Anfang des Jahres Rotarier aus aller Welt in Indien zum nationalen Impftag, dem Polio Ravivar, um sicherzustellen, dass 170 Millionen Kinder unter fünf Jahren vor dieser schrecklichen Krankheit geschützt werden.
Aus Großbritannien und Irland kamen zwei Teams; ein Team wurde in Delhi stationiert, das andere in Amritsar im Punjab, nur 15 Meilen von der pakistanischen Grenze entfernt. In der indischen Hauptstadt ansässige Rotarier aus den USA, Kanada, Belgien, Luxemburg, Japan und Barbados engagierten sich ebenfalls.
Ihre Aufgabe bestand darin, freiwillige Gesundheitshelfer zu unterstützen, die an diesem Sonntag in den Gesundheitszentren jedem Kleinkind ein paar Poliotropfen verabreichten. Gemeinsam mit den unermüdlichen Gesundheitshelfern gingen die Rotarier von Tür zu Tür, ausgerüstet mit den Daten aus der Volkszählung, um sicherzustellen, dass kein Kind vergessen wird.
„Wir arbeiten hart daran, dass das Poliovirus nie mehr zurückkehrt“, sagt Neelam Devi, eine seit 20 Jahren im Gesundheitswesen tätige Freiwillige, die in dem Marktstädtchen Najafgarh, etwa 15 Meilen südwestlich von Delhi, an die Türen klopfte.
Ihre Aufgabe war es, zusammen mit ihrem Kollegen Sudesh Kumani, der einem der 73 Teams in der Region angehörte, in der kommenden Woche rund 550 Haushalte zu besuchen.
„Einige Leute reagieren ablehnend, wenn wir ihnen sagen, dass sie ihr Kind impfen lassen müssen. Sie sind verängstigt. Aber wenn wir ihnen erklären, dass die Poliotropfen nicht schädlich sind, entschuldigen sie sich und lassen uns den Impfstoff verabreichen“, erzählt Neelam.
„Nur einer von tausend beharrte auf seiner Ablehnung, dort mussten wir die Familie dann an das Krankenhaus verweisen. Wir vergessen niemanden. Wir stellen sicher, dass jedes Haus besucht wird.“
Dr. Dinesh Chawla, der die Bemühungen in Najafgarh koordinierte, erklärt, dass sie Zeitungen, Radio, Lautsprecheransagen, Plakate und soziale Medien nutzen, um bei den Eltern für die Polio-Kampagne zu werben.
Die Helfer sind bekannt
Anders als in Pakistan, wo Besucher der Gesundheitszentren erschossen wurden, sei sein Team keiner Gefahr ausgesetzt gewesen, bemerkt Dr. Chawla. Die Besucher der Gesundheitszentren sind bekannt, und neben der Ausgabe von Poliotropfen werden viele Mütter auch zu Themen wie Stillen und psychische Gesundheit beraten.
„Die wahrscheinlich größte Herausforderung für uns ist, dass die Menschen gegenüber Polio sorglos geworden sind“, sagt er. „Sie wissen, dass es in Indien keine Kinderlähmung mehr gibt, und fragen, warum wir all dies noch immer tun. Wir müssen den Menschen also erklären, warum es so wichtig ist.“
Lajwanti, eine 25-jährige Mutter aus Najafgarh, bringt ihre 18 Monate alte Tochter Hitiksha in die Klinik der Ekta-Model-Schule in Najafgarh. Sie hat einen 34-jährigen von Kinderlähmung gezeichneten Freund und versteht daher die Gefahr sehr gut. „Es ist schrecklich, das mit anzusehen“, sagt sie. „Ich wünsche mir, dass meiner Tochter so etwas nicht passiert, deshalb musste ich kommen.
Wir alle wissen, was Polio bedeuten kann, meine ganze Familie ist sich dessen bewusst.“
Es ist eine große Erleichterung für Indien, dass das Land seit dem 13. Januar 2011 (als der letzte Polio-Wildvirus-Fall in Bengalen entdeckt wurde) frei von Polio ist, meint Deepak Kapur. Drei Jahre später wurde Indien von der Weltgesundheitsorganisation als poliofrei erklärt.
Poliofreier Status bedroht
Wie ist nun mit diesem abgründigen Paradoxon der Armut umzugehen, das Indiens poliofreien Status bedroht? Der Rotary-Chef räumt ein, dass die indische Regierung enorme Anstrengungen unternimmt, um das Pro-Kopf-Einkommen zu erhöhen. Dies kann aber nur auf langfristige Sicht gelingen.
„Es gibt keinen einfachen Ausweg“, gesteht Deepak ein. „Was macht ein Mann, wenn er deprimiert ist? Meist geht er in die Kneipe und kippt ein Bier. Die Geschichte des mittelalterlichen Englands zeigt uns, wie die Menschen zu Trinkern wurden. Sie haben ihren Kummer in Alkohol ertränkt. Wenn man das Poliovirus in Impfstoff tränkt, kann es nicht am Leben bleiben. Das ist wirklich der einzig sichere Weg.
Aufgeben ist keine Option
Wir müssen uns weiterhin um die Impfung von 170 Millionen Kindern in Indien kümmern, Tag für Tag, um das Virus fernzuhalten, bis Pakistan, Afghanistan und der Rest der Welt frei von Polio sind.
Ich erwarte, dass dies noch zu meinen Lebzeiten geschehen wird. Ich hatte die Hoffnung, dass es schon früher eintreten würde, aber wir wurden durch die ungeordneten Verhältnisse in unseren beiden Nachbarländern aufgehalten. Das Virus kann gestoppt werden, wenn jedes Kind den Impfstoff erhält, und es gibt keinen Grund, warum dies nicht bald geschehen sollte.“
Nationale Impftage
• Nationale Impftage (NID) wurden von der indischen Regierung und anderen Regierungen auf der ganzen Welt organisiert, nachdem Rotary und seine Partner sich dafür bei der Weltgesundheitsorganisation & UNICEF eingesetzt hatten.
• Tausende von Freiwilligen und Mitarbeiter des Gesundheitswesens werben gemeinsam mit Rotariern auf den Straßen des ganzen Landes für die Impfungen.
• Die Organisation eines NID in Indien ist eine komplexe Angelegenheit. Das Datum muss von den Bundesstaaten koordiniert werden, um Überschneidungen mit staatlichen Feiertagen oder Kommunalwahlen
zu vermeiden.
• Die NIDs begannen 1995, als Rotary Clubs in Indien während der Wintermonate alle sechs bis acht Wochen die Impfstände besetzten. Dies wurde zur erfolgreichsten Waffe gegen die Kinderlähmung und führte dazu, dass Indien seit 2014 poliofrei wurde.
• Im Jahr 2006 waren die Ressourcen der indischen Rotarier erschöpft, sodass sie um Unterstützung bei Rotariern aus Übersee bitten mussten. Rotary International finanzierte ein Rotary-Polio-Büro in Delhi, um die Einsätze zu koordinieren und Freiwillige in die besonders gefährdeten Orte zu dirigieren.
Dave King ist Journalist und Universitätsdozent in England. Er ist Herausgeber der Zeitschrift Rotary Magazine, die für Rotarier in for Great Britain & Ireland herausgegeben wird. 2019/20 ist er Präsident des Rotary Clubs Elthorne-Hillingdon mit Sitz in West-London.