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Interview

„Eine echte Volkspartei“

Im Gespräch mit Sven Felix Kellerhoff, der in seinem neuesten Buch ein umfassendes Bild der NSDAP zeichnet

01.09.2017

Herr Kellerhoff, eine Geschichte der NSDAP über 70 Jahre nach dem Ende der NS-Diktatur – das klingt auf den ersten Blick nicht sonderlich originell. Warum dieses Thema?

Weil es erstaunlicherweise über die NSDAP bisher auf nationaler Ebene und in deutscher Sprache überhaupt kein Buch gab, bis auf eine einzige orthodox-marxistische Darstellung. Ansonsten gibt es zwar jede Menge Hitler-
Biographien – an die hundert seriöse zähle ich zurzeit –, aber keine Geschichte seiner Partei. Dabei war die NSDAP – leider – die einflussreichste Partei der deutschen Geschichte.

Hitler war zweifellos der Kern dieser Bewegung, aber ohne das Engagement ihrer Mitglieder, ohne deren Opferbereitschaft und Spenden an den Apparat wäre er niemals zu dem geworden, was er war.

 

Was sind die wichtigsten Erkenntnisse Ihrer Arbeit?

Zunächst einmal war es interessant festzustellen, wie die NSDAP innerlich getickt hat. Das war u.a. möglich, weil ich mehr als 500 im Sommer 1934 verfasste Berichte von überzeugten Nationalsozialisten auswerten konnte, die in der Stanford University in Kalifornien liegen, die sogenannte „Abel Collection“. Diese Menschen haben zu einem Zeitpunkt, als sie den Nationalsozialismus auf der Siegerstraße wähnten, für das amerikanische Publikum aufgeschrieben, warum sie Nazis geworden sind. Das ist ein spannendes Material, das durch weitere umfangreiche Forschungsprojekte erschlossen werden sollte.

Ein weiterer wesentlicher Punkt ist die Frage der Finanzierung der NSDAP. Eine weit verbreitete Annahme lautet, die Partei sei von der Wirtschaft bezahlt worden. Doch das ist falsch. Die NSDAP wurde zum größten Teil von ihren Mitgliedern getragen. Für das Rheinland gibt es zum Beispiel parallele Zahlen zur SPD und zur NSDAP. Dort können wir konstatieren, dass ein durchschnittliches NSDAP-Mitglied für das politische Engagement ungefähr sechsmal so viel ausgegeben hat wie ein Sozialdemokrat.

Diese Menschen haben tatsächlich ihre Ersparnisse in die Partei investiert, in Uniformen, in Reisen, in Eintrittsgelder für Auftritte von bekannten und weniger bekannten Rednern. Das ist eine Facette, die in der bisherigen Fachgeschichtsforschung unterbelichtet ist.

 

Was hat diese Menschen dazu angetrieben, sich so zu engagieren?

Vor allem Hass. Die NSDAP war eine Partei, die ihre destruktive Energie aus dem Hass enttäuschter Menschen zog; von jenen, die sich zurückgesetzt fühlten.

Aber Hass ist destruktiv. Wie konnte aus einer solchen Grundhaltung eine Kraft entstehen, die u.a. einen riesigen Parteiapparat schuf?

Das ist eine berechtigte Frage und ein Punkt, der auf ein weiteres wesentliches Element der NS-Weltanschauung zielt. In der Tat haben sehr viele Mitglieder der NSDAP nicht nur diesen negativen Blick auf ihre Feinde gehabt, sondern auch einen nach vorne gerichteten Ansatz; ich nenne das eine Verheißung: die Volksgemeinschaft, den nationalen Sozialismus. Im Gegensatz zu Hitler haben sehr, sehr viele NSDAP-Mitglieder tatsächlich an diesen nationalen Sozialismus geglaubt. Sie verstanden darunter den Aufbau einer neuen Gesellschaft, in der es gerechter zugehen sollte als in der bisherigen Welt. Sehr viele männliche Anhänger führten das zurück auf ihr Fronterlebnis, auf den „Sozialismus der Schützengräben“.

 

Aber wie konnte aus einem Haufen überwiegend schlichter radikaler Gestalten eine Partei werden, die zunächst eine Kulturnation wie die deutsche übernehmen und dann einen ganzen Kontinent in den Abgrund stürzen konnte?

Die Antwort ist komplex und hat viel zu tun mit der Situation der Jahre 1930 bis 1932, der Erfahrung der Weltwirtschaftskrise in Verbindung mit dem Gefühl des Niedergedrückt-Seins durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg. Viele Menschen hegten Revanche-Gedanken. In dieser Zeit bot sich mit Hitler und seiner Entourage eine politische Kraft, die einfache, radikale Lösungen versprach.
Solche angeblichen Lösungen können, wenn man sich in der Gegenwart umschaut, auch heute noch attraktiv wirken.

Hinzu kam eine eher instinktive Formulierung, die sehr wirkmächtig geworden ist: „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ aus dem Parteiprogramm der NSDAP von 1920, den berüchtigten 25 Punkten. „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ klingt zunächst einmal nach Selbstlosigkeit, doch steht dabei das vermeintlich höhere Ganze immer über den Rechten des Einzelnen. Dazu gehört auch eine politische Kraft, die definiert, was als Gemeinwohl gilt, und ein Staat, der es erzwingt. Und da sind wir schnell in der Diktatur.

 

Aus welchen Milieus hat sich die NSDAP gespeist?

Die NSDAP war – das ist keine Erkenntnis von mir, sondern von Jürgen W. Falter, aber ich teile sie – eine echte Volkspartei. Noch stärker in allen Milieus verankert war in der Weimarer Republik nur noch das Zentrum, das durch den Katholizismus zusammengehalten wurde. Die NSDAP hat durchweg Menschen aus allen Gesellschaftsschichten angesprochen – von den einfachen Tagelöhnern und Arbeitslosen über Facharbeiter und das Bürgertum bis in Unternehmer- und adelige Kreise. Für jede dieser Gruppen hat diese Partei eigene Angebote gemacht – instinktiv, nicht strategisch geplant.

 

Konnten Sie bei der Akzeptanz des Nationalsozialismus regionale Besonderheiten feststellen? Die gängige Annahme lautet ja, dass die Nazis vor allem in protestantischen Regionen besonders stark waren.

Der Nationalsozialismus war in protestantischen Regionen deutlich stärker als in stark katholisch geprägten Regionen. Aber auch hier sollte man vorsichtig sein. In Oberbayern war er zum Beispiel deutlich stärker als im Rheinland – beides sind katholisch geprägte Regionen. Ob die NSDAP Erfolg hatte oder nicht, hing vor allem von den jeweils vor Ort handelnden Personen ab. Ein Beispiel: Die NSDAP in Ostpreußen, einem sehr stark von den Folgen des Ersten Weltkriegs betroffenen Gebiet, war bis 1928 marginal. Und dann kam als neuer Gauleiter aus Elberfeld Erich Koch, ein ganz unangenehmer Typ, übrigens ein persönlicher Feind von Joseph Goebbels. Aber Erich Koch war jemand, der seinen Hass, seine Radikalität den Menschen nahezubringen verstand. Er schaffte es in anderthalb Jahren, die ostpreußische NSDAP vom letzten Platz im Vergleich des Reiches auf den zweiten Platz zu führen. Im Geheimen Staatsarchiv in Berlin fand ich zum Beispiel den Bericht einer Anhängerin aus Ostpreußen, die – begeistert durch den Gauleiter – ihre Söhne und ihren Mann dazu brachte, Nationalsozialisten zu werden. Und die manchmal Waffen in ihrem Rock versteckte, wenn die Polizei anrückte.

 

Damit sind wir noch einmal bei den Förderern der Partei: Sie haben eben gesagt, dass die NSDAP vor allem durch ihre Mitglieder getragen wurde. Welche Rolle spielten dann Unterstützer wie Fritz Thyssen oder Helene Bechstein?

Da muss man differenzieren. Helene Bechstein war äußerst wichtig, auch der Münchener Verleger Julius Friedrich Lehmann, vor allem für die persönlichen Lebensverhältnisse Hitlers. Der Parteichef war ja keineswegs so bescheiden, wie er nach außen gern behauptet hat. Das viele Geld für seinen teuren privaten Lebenswandel kam bis 1930 im Wesentlichen von solchen vermögenden privaten Spendern, während das Geld für die Arbeit der Partei in erster Linie von den Mitgliedern stammte.

Fritz Thyssen ist eine Sonderfigur. Er hat zwar einmal behauptet, er habe eine Million Mark an Hitler gegeben, und ein anderes Mal, er habe ein Sechstel seines Vermögens gespendet. Doch das ist sicherlich weit übertrieben, bei dem Vermögen, das dieser Mann hatte.

 

In den letzten Jahren sind vor allem die sogenannten Flakhelfer, die bei Kriegsende gerade erwachsen wurden, in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt: Viele namhafte Vertreter dieser Generation, die nach dem Kriege am Aufbau des demokratischen Deutschland mitwirkten, wurden nun als NSDAP-Mitglieder geoutet – und haben dies durch die Bank abgestritten. Konnte man ohne eigene Willenserklärung Parteigenosse werden?

Nein. Noch aus dem März 1945 haben wir klare Anweisungen überliefert, dass so etwas nicht möglich gewesen ist. Die Partei und ihr extrem bürokratischer Apparat haben ganz klar darauf bestanden, dass eigenhändig unterschriebene Aufnahmeanträge vorlagen. Nun kann es natürlich sein, dass Hitler-Jungen von 16 oder 17 Jahren von ihrem Vorgesetzten auf einer Liste ankreuzen sollten,
ob sie Mitglied werden wollten, und dann bekamen sie ein Papier zum Unterschreiben vorgelegt. Dass sich das möglicherweise in den Köpfen dieser Jungs 1944 nicht eingeprägt hat – so etwas war auch erst ab 1944 möglich – das mag man vielleicht noch glauben.

Aber wenn zum Beispiel der Kabarettist Dieter Hildebrandt behauptet, seine Mutter habe für ihn unterschrieben, dann kann man nur mit dem Kopf schütteln. So etwas hätte dieser bürokratische Apparat niemals zugelassen. Ein anderes Beispiel ist Walter Jens, der große linke Rhetoriker der Universität Tübingen, der 1942 in die NSDAP eingetreten ist und dies nach der Enthüllung vehement bestritten hat, obwohl jeden Monat Beiträge bezahlt werden mussten und durch gestempelte Marken im Mitgliedsbuch nachgewiesen wurden. Mehrfach ist bei ihm eine Änderung der Wohnadresse registriert: Woher sollte die NSDAP wissen, wohin der Student Walter Jens gezogen war, wenn nicht von ihm selbst?

Niemand wird dieser Generation vorwerfen, dass sie sich als Jugendliche dazu verführen ließ, der NSDAP beizutreten. Es ist vielleicht auch noch menschlich verständlich, dass sie dies jahrzehntelang lang verdrängt hat. Aber das durchgängige Leugnen nach der Enthüllung der Mitgliedschaft ist einfach unglaublich.

 

Es irritiert vor allem deshalb, weil gerade viele „Flakhelfer“ nach 1945 nicht nur Alt-Nazis attackiert haben, sondern auch viele Bürgerliche, die sie für belastet erklärten.

Günter Grass hat zum Beispiel 1985 Helmut Kohl dafür angegriffen, dass er mit Ronald Reagan auf den Soldatenfriedhof in Bitburg ging, weil dort einige gefallene Soldaten der Waffen-SS liegen. Das sagte jemand, der selber in der Waffen-SS gewesen war und dies jahrzehntelang verschwiegen hat. Rund 15 Jahre zuvor hatte Grass bereits den damaligen SPD-Wirtschaftsminister Karl Schiller wegen dessen NSDAP-Mitgliedschaft angegriffen. Derlei ist gelebte Heuchelei. Allerdings geht es mir in meinem Buch nicht um Einzelpersonen, sondern um die Masse der Parteimitglieder.

 

Und doch ist dieses Verhalten Ausdruck eines breiten Phänomens. Sie zitieren u.a. in Ihrem Buch aus diversen Reiseberichten von US-Reportern, die im Sommer 1945 nirgends auf Nazis trafen, sondern immer nur auf Menschen, die allenfalls im übernächsten Dorf welche kannten.

Es ist menschlich sogar verständlich, dass die meisten Deutschen angesichts der Niederlage versuchten, ihre Verstrickung zu verdrängen. Die Aufgabe nachgeborener Generationen ist es jedoch, für Aufklärung zu sorgen und sich nicht mit den Lügen der Eltern oder Großeltern abzufinden. Auf diese Art und Weise kehren wir vor der eigenen Haustür und haben dann auch die Berechtigung, bei anderen Fragen und Entwicklungen kritisch heranzugehen und vielleicht auch den einen oder anderen Hinweis zu geben, wie man damit umgehen könnte und sollte.

Das Gespräch führte René Nehring.

 


 

Die Nazis und ihre Partei

foto: Klett-Cotta Verlag

Mit seiner Arbeit über die NSDAP bietet Sven Felix Kellerhoff die erste Gesamtdarstellung der größten und einflussreichsten Partei, die es jemals in Deutschland gab. Mit zahlreichen neuen Erkenntnissen – zum Beispiel zur Finanzierung – beschreibt er die Karriere jener Bewegung, ohne die Hitler niemals zum mächtigsten Mann Deutschlands geworden wäre.

Sven Felix Kellerhoff: Die NSDAP. Eine Partei und ihre Mitglieder, 440 Seiten, Klett-Cotta, 25,00 Euro.

Das Buch erscheint am 9. September 2017.


 

Sven Felix Kellerhoff, RC Berlin-Süd, ist Leitender Redakteur für Zeit- und Kulturgeschichte der Tageszeitung „Die Welt“.
Mehr dazu: welt.de