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DER ERSCHÜTTERND-ERNÜCHTERNDE BERICHT EINES POLITISCH VERFOLGTEN

Erlebte Willkür

25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer diskutiert die gesamtdeutsche Öffentlichkeit über die Frage, ob die Deutsche Demokratische Republik ein Unrechtsstaat war oder nicht. Während die einen für ihre Bewertung die Struktur des Staates zugrundelegen, betonen andere, dass auch die totalitäre Gesellschaft private Nischen hatte. Die Beiträge dieses November-Titelthemas widmen sich wichtigen Aspekten der Debatte.

14.11.2014

Manchmal schlägt die Stunde eines Buches erst Jahre nach seinem Erscheinen. Ein Beispiel dafür ist der im Jahre 2007 erschienene Bericht „Prozesskosten“ des Leipziger Schriftstellers Erich Loest, der mit seinen Romanen „Nikolaikirche“ und „Sommergewitter“ Schlüsselereignisse der DDR-Geschichte – die Friedliche Revolution von 1989 und den Volksaufstand am 17. Juni 1953 – beschrieben hat. „Prozesskosten“ erzählt, wie der junge, durchaus systemtreue Schriftsteller L. ein halbes Jahrhundert zuvor zum „Staatsfeind“ gestempelt und zu siebeneinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt wird.

Die Geschichte beginnt an Loests 30. Geburtstag, dem 24. Februar 1956. Der Zufall will es, dass just zur gleichen Zeit in Moskau der XX. Parteitag der KPdSU tagt, und Nikita Chruschtschow einen Tag später seine legendäre Geheimrede hält, in der er mit den Verbrechen der Stalinzeit abrechnet. Als deren Inhalt allmählich im Ostblock kursiert, diskutiert L. – wie viele Andere – mit Freunden, Kollegen und Genossen über die Konsequenzen der Enthüllungen für den SED-Staat. Ende Oktober 1956 ist während einer solchen Diskussionsrunde in seiner Wohnung auch ein junger polnischer Genosse dabei, der von der Stimmung im Nachbarland unter dem neuen Parteichef Gomulka erzählt.

Neben Polen kommt es vor allem in Ungarn zu Tumulten. Als die dortige Reformregierung unter Imre Nagy den Austritt aus dem Warschauer Pakt beschließt, schlägt Chruschtschow zu. Eine kurze Tauwetter-Periode ist zu Ende. Und in Ost-Berlin räumt der stalinistische Parteichef Walter Ulbricht mit all jenen auf, die es zuvor gewagt hatten, seinen Kurs zu kritisieren. Hauptziel des Rachefeldzugs sind der Leiter des Aufbau-Verlags, Walter Janka, und Wolfgang Harich, Cheflektor des Verlags und Star der Ost-Berliner Intellektuellen-Zeitung Der Sonntag. In Schauprozessen werden die Angeklagten 1957 zu hohen Haftstrafen verurteilt.

Der Gegenschlag des Systems zieht zunehmend größere Kreise. Im ganzen Land wird nun nach staatsfeindlichen Umtrieben gefahndet. In diesem Zusammenhang gerät auch L. ins Visier der Staatssicherheit. Die harmlose Feier im Jahr zuvor wird ihm nun als geheimes Treffen vorgeworfen, bei dem konterrevolutionäre Umtriebe geplant worden sein sollen. Die von L. geäußerte Idee, einen „Klub der jungen Künstler“ zu gründen, wird als Versuch gewertet, eine antisozialistische Zelle zu bilden.

Sachlich schildert Loest seinen Weg in die Haft: die anfänglichen Versuche, ihn – noch in Freiheit – zu falschen Schuldgeständnissen und Widerrufen zu bewegen; die Verhöre der Stasi in der U-Haft (während der seine Frau Annelies ihr drittes Kind zur Welt bringt); die Verhaftung der Ehefrau; und nicht zuletzt auch die eigenen Bemühungen, sich selbst zu behaupten, die mit der Zeit immer weiter nachlassen. Es folgt ein kurzer Prozess mit dem brüllenden Richter Kaulfersch, dem geifernden Staatsanwalt Mach – und dem Rechtsanwalt Oskar Kolbe, der ihn falsch über das drohende Strafmaß informiert und während des Verfahrens kein einziges Mal für seinen Mandanten Partei ergreift – und dafür am Ende eine Rechnung über 2.500 Ost-Mark ausstellt. Prozesskosten eben. Aus dem Schriftsteller L. wird der Häftling 23/59 im „Kosmos Bautzen“. Loest beschreibt das ganze Ausgeliefert-Sein eines politischen Häftlings. Und er schildert, wie die Stasi den späteren Leiter der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn Michael Kohl – erfolglos – als Gigolo auf seine wieder entlassene Frau ansetzt, um auch noch die Ehe der L.s zu zerstören.

Zur aktuellen Unrechtsstaats-Debatte kann sich Erich Loest, der vor einem Jahr aus dem Leben schied, nicht mehr äußern. Um so wichtiger, dass er sein Schicksal in dem Bericht „Prozesskosten“ beizeiten festgehalten hat. Ein erschütterndes und zugleich erhellendes Buch über die Willkür im (Un-)Rechtssystem der DDR.