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Hunderttausende Bücher stapeln sich in Weskotts Bücherburg. Wer ihn besucht, darf mitnehmen, was gefällt © Michael Hametner

Wie Pfarrer Martin Weskott aus Katlenburg DDR-Bücher vor ihrer Vernichtung rettete – und was ihn bis heute antreibt

Michael Hametner01.10.2024

Jetzt, im Spätsommer, die Sonne steht hoch, unterwegs nach Katlenburg im Harz-Vorland, fahre ich durch eine ausnehmend schöne Landschaft. Felder, kleine Höhenzüge, viel Wald, immer mal eine Kirchturmspitze, die in den Himmel spießt, zwei, drei Handvoll Häuser drum herum, mehr meistens nicht. Für den Großstädter sieht alles aus, als wäre es aus der Zeit gefallen. Für mein Reiseziel trifft genau das nicht zu. Ich fahre zur Katlenburg, die zu einem denkwürdigen Ort der Geschichte geworden ist. Der gedruckten Geschichte, in Büchern gespeichert.

Seit Mai 1991 sammelt Martin Weskott in einer Scheune, genannt Bücherburg, die rechts vom Hauptportal der St.-Johannes-Kirche steht, Bücher. Weskott, Jahrgang 1951, ist in Bückeburg in Niedersachsen aufgewachsen, studierte Theologie und kam nach einem Jahr als Vikar in Göttingen hierher nach Katlenburg bei Northeim. Westliches Harzvorland. Westliches Deutschland.

Zum Büchersammler wurde er, als er im Mai 1991 in der Süddeutschen Zeitung ein Foto sah, das eine Müllkippe voll von Büchern zeigte. Hier noch mit Folie verschweißt, dort schon nach Regenschauern in Auflösung. Teile der Buchproduktion der DDR aus ihrem letzten Jahr oder aus Lagern mit alten Beständen. Das Foto war in Plottendorf, 40 Kilometer von Leipzig entfernt, im Altenburger Land aufgenommen worden: Paletten mit Büchern, die der Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel LKG zur Verteilung an Buchhandlungen und Bibliotheken übernommen hatte, die ihm aber jetzt den Lagerplatz für neue Geschäfte verstopften. Aber wollte sie noch jemand, jetzt, da es das Land, in dem sie geschrieben wurden, nicht mehr gab?

Wie kamen all die Bücher zu Tausenden auf die Müllkippe, nicht nur auf eine, sondern auch auf die von Oelzschau und Kömmlitz? Der Bürgermeister von Oelzschau soll damals mit dem Argument zugestimmt haben: lieber Bücher als Giftmüll. Im übertragenen Sinn wurden die Bücher aus der Produktion des verschwundenen Landes wie Gift behandelt. Die Pressesprecherin des Leipziger Reclam-Verlags verteidigte damals die Umwandlung der Bücher in Altpapier mit den Worten: „Alles, was vor der Wende gedruckt wurde, ist heute nicht mehr zu verkaufen. Egal, um was es sich handelt.“

Wertschätzung, nicht Verharmlosung

Mit dem eilig vollzogenen Beitritt der DDR am 3. Oktober 1990 zur Bundesrepublik Deutschland stürzten viele der Werte, die in den 40 Jahren DDR gelebt worden waren, einstweilen in den Orkus der Geschichte. Manche zu Recht, andere zu Unrecht. Der Westpastor sagt: viele zu Unrecht. Er führt mich an den Regalen vorbei, in denen bis unter die geschätzt fünf Meter hohe Decke kein Fingerbreit mehr Platz ist, führt mich zu den auf dem riesigen Tisch gestapelten Büchern und weiß sofort, wo Schätze zu finden sind. Er führt mich nicht zu den Schriften von Marx und Engels – die kritisch gelesen sicher auch ihren Wert haben –, nicht zu den Memoiren von Opa Honecker oder zu anderen Verteidigungsschriften über Themen, die nicht zu verteidigen sind, sondern zeigt mir Bücher, die literarische Auskünfte über den Alltag des untergegangenen Landes geben. Hier erlaubt sich Martin Weskott, vieles aus der DDR-Literatur in Schutz zu nehmen, weil darin eine andere Geschichte erzählt wird: die Geschichte des Alltags in der DDR. Er weist mich auf einen Band mit Dorfgeschichten hin, die 1982 unter dem Titel Erntefest beim Verlag Tribüne erschienen sind und worin namhafte DDR-Autoren (Erwin Strittmatter, Anna Seghers, Jurij Brězan) das sozialistische Landleben durchaus nicht widerspruchsfrei beschrieben haben. Wer der DDR diese Offenheit nicht zugetraut hat, hätte manches – so er das Buch gelesen hätte – besser wissen können.

Für den Herrn der geretteten Bücher führen viele Spuren in der DDR-Literatur zu Leuten, die ihre Köpfe oben behalten haben. Sie werden in der Literaturgeschichte leider nicht erwähnt. Weskott ist überzeugt, dass sich aus diesen vergessenen Büchern ein „ganz anderes Bild der DDR-Literatur“ ergeben hätte. Man tut heute so, als ob ökologische Themen in Büchern aus der DDR gar nicht vorgekommen seien. Die Geschichte der verhinderten Veröffentlichung von Monika Marons Roman Flugasche deckt andere Bücher zu, die in der DDR durchaus gedruckt wurden. Sicher fanden sie erst nach langem Kampf mit Verlag und Zensur ihren Weg in die Öffentlichkeit. Weskott nennt mir den schon vor dem Zweiten Weltkrieg aus dem Westen Deutschlands nach Dresden übergesiedelten Umweltaktivisten Reimar Gilsenbach, Freund von Robert Havemann und Wolf Biermann. Er hat unter anderem im Kinderbuchverlag Naturführer für junge Leser verfasst. Er nennt mir die DDR-Autorin Lia Pirskawetz und die Bücher von Hanns Cibulka, des nach Gilsenbach „zweiten Grünen“ in der DDR-Literatur. Ich stimme ihm zu. Swantow und das von Cibulka schon 1971 erschienene Hiddensee-Tagebuch Sanddornzeit sind mir vertraut.

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Martin Weskott mit seinen Büchern © Michael Hametner

Ich verstehe Martin Weskott, wenn er sagt, dass der, der etwas jenseits der stereotypen Sätze über die DDR wissen will, zu ihren Büchern greifen sollte. Natürlich sollte er wählerisch sein, denn ein Teil der Autoren der DDR-Literatur hatte sich in den Dienst der Propaganda gestellt. Aber daraus darf kein allgemeines Urteil abgeleitet werden. In einem Artikel über den Bücherpastor lese ich den Satz: „Die Welt ist Zeuge, dass der Ruhm und die Ehre der deutschen Sprache durch die Literatur aus der DDR bereichert wurde.“ Seinem Autor liegt jede Verharmlosung der DDR-Verhältnisse fern – der Satz stammt vom früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Jetzt schreibt Weskott selbst ein Buch Ich erlebe Martin Weskott, den gebürtigen Niedersachsen, als jemanden, der mit der Literatur aus der DDR vertraut ist. Er hat 1996 auch verwaiste westdeutsche Bücher in seinen Bestand aufgenommen, wollte nicht nur auf der „Ostschiene“ fahren. Sein langer Bart ist, während er unermüdlich Bücher rettete, in 33 Jahren um einiges grauer geworden. 33 Jahre sind fast ein halbes Leben. In dieser Zeit hat er viele Autoren der Bücher, die er vor der Müllkippe gerettet hat, in Katlenburg zu Gast gehabt. 180 Mal hat er eingeladen zu Lesung und Gespräch in der Reihe „Müll-Literaten lesen“. Seine Gäste waren Christa und Gerhard Wolf, Christoph Hein, Ingo Schulze und andere aus der ersten Reihe der deutschen Gegenwartsliteratur. Aus der Bekanntschaft mit den Autoren, aber vor allem aus der Lektüre der Bücher ist bei ihm ein Projekt entstanden. Weskott will ein Buch schreiben, dessen Arbeitstitel heißt: „Das unentdeckte Potenzial der DDR-Literatur“. Sein Vertrauen, dass in den Büchern aus der DDR, die er vor ihrem Ende auf der Deponie gerettet hat, ein Riesenpotenzial steckt, das helfen kann, dass Ost und West mehr voneinander wissen, reicht für drei Bände.

Eine wichtige Frage ist noch zu beantworten: Was wird mit den Büchern, die er in seiner Bücherburg sammelt? Einmal im Monat öffnet er sonntags ab 11 Uhr die Schatzkammer und lässt Besucher ein, die bei ihm Bücher suchen. Von den weit mehr als einer Million geretteten Büchern hat er mindestens einer halben Million Leser vermittelt. Für mich als Literaturkritiker war natürlich der Bereich am spannendsten, in dem er Romane, Lyrik und Erzählungen präsentiert. Danach kommt ein genauso großer Teil mit Sach- und Fachbüchern. Vom Handbuch zur Reparatur des Trabant oder zum Brandschutz bis zu Enzyklopädien in den Fächern Physik, Chemie, Geologie. Selbst Schulbücher aus der DDR haben den Weg auf die Kippe genommen. Wer sich für Kunst-Bildbände interessiert, kann fündig werden, ebenso gibt es für Reisefreaks Bildbände über schöne Orte dieser Erde. Nach dieser Abteilung kommt in der Bücherburg gleich noch eine dritte: mit Kinderund Jugendbüchern und selbstverständlich mit in der DDR liebevoll edierten Märchen aus aller Welt.

Wer „seine“ Bücher bei ihm findet, muss diese nicht bezahlen. Aber eine Spende für „Brot für die Welt“ ist obligatorisch. Ich habe sechs Bücher unterm Arm, mit denen ich mich zur Rückfahrt zum Auto begebe. Es hätten nach einem Blick auf Verfasser und Titel in den Regalen gut und gern 60 sein können.

Ich habe einen Mann kennengelernt, der weiß, dass Bücher Geschichte transportieren, indem sie Geschichten erzählen und selbst eine Geschichte haben.