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Farbe, Linie, Rhythmus
Wahrlich ein Genie und Rebell: Das Emil-Schumacher-Museum in Hagen präsentiert den französischen Maler und Plastiker Jean Fautrier.
Ich wusste bei Betreten des Museums in Hagen nicht, wer Jean Fautrier war. Im Gespräch mit dem Direktor, Rouven Lotz, verrutschte mir bei Nachfragen hin und wieder die französische Aussprache seines Namens. Als ich das Museum verließ, fühlte ich mich beglückt, ihn kennengelernt zu haben, diesen Fautrier.
Jean Fautrier, 1898 in Paris geboren, bereits 1964 gestorben, dem deutschen Kunstpublikum als „Genie und Rebell“ vorzuführen, hat eine lange Vorgeschichte. Sie beginnt bei Theo Bergenthal, dessen Leidenschaft für Fautrier den Plan geboren hat. Ausgesprochen hat er ihn bereits 2011. Zu Bergenthal traten noch zwei andere Sammler hinzu, schon bald Martin Roder und 2021 auch Dirk Volmer, und als dann die Begeisterung auf den jungen Museumsdirektor Rouven Lotz übersprang, begannen vier Herren – nach ihren Berufen ein Dermatologe (Bergenthal), ein Banker (Roder), ein Volljurist (Vollmer) und ein Kunsthistoriker (Lotz) –, den Plan Wirklichkeit werden zu lassen. Ich darf mein Geständnis wiederholen: Ich wusste bei Betreten des Emil-Schumacher-Museums in Hagen nicht, wer Jean Fautrier war. Und es stimmt, ich fuhr beglückt davon, weil ich in der Art der Bilder und Plastiken eine Ausstellung erlebt hatte wie selten zuvor. Und ein Künstlerleben wie selten eines.
Entdeckung 1: Die „Originaux multiples“
Dabei spielt eine Frau eine wichtige Rolle: Jeannine Aeply. Fautrier lernt sie 1943 im Alter von 22 Jahren kennen. Mit ihr entwickelt er eine neuartige Methode. Was entsteht, nennen sie „Originaux multiples“. Dabei handelt es sich um ein Reproduktionsverfahren, das es ihm ermöglicht, mehrere nahezu identische Versionen eines Originalwerks herzustellen. Seine Idee dahinter: Kunst für alle. Gehilfen sollten die Originalgrafiken durch Auftrag von Gipspaste und zusätzlicher Farbe zu Unikaten machen, die der Maler anschließend nur noch signiert. Das hat übrigens manchen Galeristen dazu verführt, sie als Originale zu verkaufen. Fautrier ist daran nicht schuld. Er gibt an, um die wievielte Version eines Originals es sich handelt – wie bei der Nummerierung von Druckgrafiken bis heute üblich. Ursprünglich geplant sind 300 Stück als Gesamtauflage – in Wirklichkeit ist aufgrund der Zurückhaltung der Käuferschaft wohl keine Serie über 30 Exemplare hinausgekommen. Die Ausstellung zeigt die „Originaux multiples“ als Fautriers Erfindung und stellt diese Methode anhand sämtlicher Exemplare, teils in mehreren Versionen, als einen ihrer Schwerpunkte vor. Mit Jeannine Aeply, seiner unentbehrlichen Helferin dabei, hat er zwei Kinder. Sie trennt sich 1961 von Fautrier. Danach begegnet er seiner letzten Lebensgefährtin Jacqueline Cousin. Als er sie später heiraten will, stirbt er am Hochzeitstag.
Entdeckung 2: Die Politik in seiner Kunst
1943 wird Fautrier von der Gestapo verhaftet. Es war herausgekommen, dass er sich der Résistance, dem Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht, angeschlossen hatte. Wie stark Fautriers Empathiekraft für das Leiden anderer war, zeigt die Entwicklung von der 1942 entstandenen Kopfplastik Grande tête tragique hin zu Otages (Geiseln) von 1943. Er hatte dabei noch im feuchten Ton eine Gesichtshälfte wieder ausgelöscht. In Reaktion auf die Erschießung von Geiseln durch deutsche Soldaten tilgt er radikal alle menschlichen Züge. Seine in dieser Zeit auch in der Malerei entstandenen Otages lassen sich als Verarbeitung der Gräuel, die Menschen Menschen antun, lesen. Der Protest des Künstlers blieb kein einmaliger Akt. Mehr als zehn Jahre später führten die Berichte über die gewaltsame Niederschlagung des ungarischen Volksaufstands durch sowjetische Panzer zu einer Wiederaufnahme dieser Thematik. Mit dem Werkkomplex Tête de partisans entstehen noch einmal Gemälde, die sich auf den Gewaltexzess 1956 in Budapest beziehen. Erstaunlich, dass alle Arbeiten Fautriers, die politisches Geschehen zum Anlass haben, nicht aus der Bildsprache seines Werks heraustreten.
Entdeckung 3: Von gegenständlich zu abstrakt
An der akademischen Ausbildung an der Londoner Royal Academy, die er ohne Abschluss verließ, lag es, dass Fautrier im eher akademischen Stil zu malen begann. Doch dieser Weg interessierte ihn nicht lange. Die frühen Blumenstillleben, Landschaften, Porträts und Akte, die nach seinem akademischen Beginn ab Mitte der 1920er Jahre entstanden, waren erste Schritte zu einem eigenen Stil. Die Ausstellung belegt lückenlos, wie er bis zu den 50er Jahren immer abstrakter wird. Alles wird Farbe, Linie, Rhythmus. Fautrier – wie viele, die von der Kunstkritik zu den Abstrakten gezählt werden – widersprach dieser Zuordnung. Jedes Bild habe für ihn einen gegenständlichen Ursprung. Ein Argument, mit dem er auch das Etikett, Pionier der Kunstrichtung des Informel zu sein, verweigerte. Bei der Auswahl der Leihgaben erhielt Museumsdirektor Lotz auch eine Papierarbeit, deren Besitzer unten und oben vertauscht hatte. Dabei „hing“ am abgebildeten Körper ein Strich, der getrost als Drehkurbel einer Handmühle zu lesen war. Künstler wie Fautrier malen die Dinge, wie sie sie denken, nicht wie sie sie sehen.
Letzte Entdeckung: Wie bedeutend er ist, dessen Namen ich nicht kannte
Ja, es stimmt: Deutsche Museen haben Fautrier kaum gesammelt. Das Städel in Frankfurt besitzt fünf Werke. Allen voran die Stiftung Insel Hombroich, die Stiftung Grässlin und das Von-der-Heydt-Museum haben etwas von ihm. Aber vor allem sind es private Liebhaber, die ihn mit prophetischem Blick gesammelt haben: Sammler wie Bergenthal, Roder, Vollmer. Heute – sagt mir Rouven Lotz, der Direktor des SchumacherMuseums in Hagen – behält sich der französische Staat bei Ausleihen von Werken Fautriers sein Einverständnis vor, und Leihgeber aus anderen Ländern verlangen vom deutschen Staat eine schriftliche Rückgabegarantie. So steht es um Fautriers Werk!
Noch bis zum 5. Januar sind die Bilder und Plastiken des „Genies und Rebellen“ Jean Fautrier im EmilSchumacher-Museum in Hagen zu erleben. Verlängert wird die Ausstellung gewiss nicht noch einmal, denn der 5. Januar ist bereits der Verlängerungstermin. Im Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König ist ein umfangreicher Katalog erschienen, dem ich manche meiner Entdeckungen verdanke (416 Seiten, 45 Euro).
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