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„Ich bin diese Person“

 - „Ich bin diese Person“
© Wolfgang Paterno/Picture Alliance

Ein Gespräch mit der Schriftstellerin Marlene Streeruwitz über ihre Handbücher gegen den Krieg und für die Liebe

Michael Hametner01.07.2024

Kürzlich hat die österreichische Schriftstellerin Marlene Streeruwitz im S. Fischer-Verlag zwei "Handbücher" veröffentlicht, in denen Denkansätze entwickelt werden, mit denen sie Grundrechte des Menschen verteidigt. Sie unternimmt diesen Versuch in einer Zeit – und es ist unsere Zeit –, die das Selbstverständliche bedroht und sie unternimmt ihn als Frau. Eindringlich schreibt sie von feministischer Position gegen den Krieg und für die Liebe.

Die 1950 in Baden bei Wien geborene Autorin hat sich seit den 90er Jahren mit Romanen und Theaterstücken einen Namen gemacht. Im Vorjahr erschien ihr Roman "Tage im Mai". Die Leser kennen ihre sehr konzentrierte, manchmal fast karge Sprache, mit der sie die Grenzen des Erzählens aufbricht. Ihre Figuren sind nicht unmündige Objekte des Erzählens, über die geschrieben wird, sondern sie schreibt aus ihnen heraus über die Welt. Schon ihrer Prosa liegt der Gedanke zugrunde: Es geht darum zu sagen, ICH bin diese Person. Damit polemisiert sie gegen patriarchale Herrschaftsformen, die sich auch im Erzählen abbilden können. Im Sinne ihrer Grundüberzeugung, nach der Literatur die Wissenschaft vom Leben ist, betrachtet sie patriarchale Herrschaftsformen als Boden aller Kriege auf dieser Welt. Im gerade erschienenen Handbuch für die Liebe, das Gegenbuch zu dem vor zwei Jahren publizierten Handbuch gegen den Krieg, verteidigt sie als Feministin das Grundrecht auf Liebe. Für Marlene Streeruwitz muss dies ein Grundrecht sein, das nicht vom Geschlecht eingeschränkt ist.

Entstanden sind zwei Bücher mit Notaten intensiver Denkbewegungen, die trotz der wachsenden Verkommenheit des Weltzustands überraschend den Möglichkeiten der Literatur vertrauen. Nur die Poesie kann gegen die anwachsende Gewalt Gegenformulierungen setzen. Auch wenn sie beide Textsammlungen Handbücher nennt, will sie keine Gebrauchsanweisung für einen Zukunftsentwurf vorlegen. Das – sagt sie – wäre vollkommen scheußlich. 

Was hat Sie dazu gebracht, ein Handbuch gegen den Krieg und ein Handbuch für die Liebe zu verfassen. Haben Sie etwa doch Vertrauen in die Wirkungen der Literatur?

Erstaunlicherweise ja. Das Handbuch gegen den Krieg ist die Reaktion auf die Metamorphose des Ukraine-Konflikts zu einem verlustreichen Krieg und kommt aus der Wut über solche Entwicklungen, die die Logik der Kriege in Gang setzen, die unserer Kultur zugrunde liegt.

Von welcher Metamorphose sprechen Sie?

Weil es einen ewigen Konflikt bereits gab, der sich vor zwei Jahren in Russlands Überfall auf die Ukraine entladen hat, aber bisher auf keiner Seite das Verlangen entstanden ist, den Krieg ernsthaft zu deeskalieren. Weder bei denen, die ihn führen, noch bei ihren Waffengebern.

Wenn wir die Hegemonie der Kräfte mitdenken, die am Krieg verdienen, dann sind moralische Appelle für Frieden von vorn herein aussichtlos. Da sind ganz andere Kräfte am Werk.

Nun, es geht auch um einen ethischen Zugang, der die Grundstrukturen betrifft. Kleinere Hilferufe sind sicher naiv und müssen trotzdem gemacht werden. Es geht um die Wiederherstellung einer Grundstruktur, die das Leben in den Mittelpunkt stellt. Nicht den Tod.

Was mich bei der Lektüre des Handbuchs besonders überraschte, ist dass Sie das Thema Krieg auf das Feld der Sprache und der Literatur ausweiten. Als Umkehrung der Schöpfungsgeschichte hebt der Krieg die Geordnetheit der Welt auf. Sie sehen darin das Ende des allwissenden Erzählers. Wie prägt dieser Gedanke Ihre Literatur?

Ich bin katholisch sozialisiert, deshalb bin ich eine Fachperson in spirituell-metaphysischen Zurichtungen. So habe ich gelernt, dass in der Form, in der die Genesis erzählt wird, die Grundformel allwissenden Erzählens liegt. Nach dieser Formel ist unser Leben bekannt, bevor wir es gelebt haben. Für die Freiheit eigenen Lebens gibt es keinen Platz. Im Lauf der Geschichte ist diese von der Kirche angemaßte Auktorialität langsam säkularisiert worden. Das 18. Jahrhundert hat an diese Stelle die Empfindsamkeit gesetzt. Später hat sich die erste Moderne am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert in harscher, brutaler Form die Säkularisierung des allwissenden Erzählens genommen. Für uns geht es jetzt darum, mit dem allwissenden Erzählen endgültig zu brechen mit etwas, was demokratisch erzählt wird und damit die Durchlässigkeit für Freiheiten herstellt.

Heißt das für Sie, dass ein Text nur noch geöffnet zu denken ist?

Ein Text muss bedingungslos offen sein, ja.

Der Krieg hat sich ja schon in der Sprache eingenistet. Wir erleben eine immer größere Aufladung der Sprache mit Gewalt. Was kann Literatur dagegen ausrichten?  

Es ist wichtig, andere, gewaltferne Texte vorzulegen, um zumindest eine Gegenformulierung zu schaffen. Die Literatur ist am Ende die einzige Möglichkeit, Einspruch für das Leben gegen die Vernutzung der Person durch ihren Tod zu erheben. Heute ist es ganz offenkundig kein Problem für eine Person zu sagen, dann muss eben Krieg sein, womit sie die Körper von Abertausenden von jungen Männern preisgeben.

Sie haben dem Handbuch gegen den Krieg jetzt das Handbuch für die Liebe angeschlossen. Ich kenne ihren Einsatz innerhalb und außerhalb der Literatur als Feministin. Wie sehr denken Sie die Liebe aus feministischer Perspektive oder würden sie die Bezeichnung Feministin für sich gar nicht in Anspruch nehmen?

(Lacht laut.) Doch. In dem Handbuch versuche ich eine grundfeministische Anordnung. Mir geht es darum, den Kosmos der Pflege da, wo wir alle freundlich funktionieren und die Welt am Laufen halten, gegen den Kosmos des Öffentlichen in einem subversiven Vorgang in Stellung zu bringen. Jedes Zimmer, in dem Personen friedlich und freundlich beieinandersitzen und die Tür hinter sich zumachen, ist wie eine Zelle gegen die Kriegstreiberei im Kosmos des Öffentlichen. Wir müssen das nur deutlicher wahrnehmen. Liebe ist nämlich nicht das, was uns die katholische romantische Liebe vorgibt, die genitale Irgendwas-Verschmelzung in Machtverhältnissen, die nach dem Prinzip beschaffen sind: Er atmet, sie atmet in ihm. Liebe ist Tee kochen, das Kind sicher halten und für andere Leute sorgen. Für das Überleben der Welt und eine friedliche Bewältigung von Klimakrisen und sonstigen Ereignissen brauchen wir etwas, was ich eine Megapathie nenne. Das ist eine Sympathie, die zuerst die Nächsten erfasst und dann auch alle anderen Personen. Solidarität reicht da nicht.  

Megapathie als gesteigerte Sympathie?

Mehr. Eine Einfühlung in die Existenz all der Personen, die eine Zuwendung brauchen.

Sie sprechen in beiden Handbüchern wiederholt vom Kosmos der Pflege und vom Kosmos des Öffentlichen. Warum verwenden Sie für das Öffentliche und das Private dieses Begriffspaar und wie stehen beide in der Sache zueinander?

Für mich als Feministin der 60er und 70er Jahre war die Einteilung eindeutig in Mann/Frau. Es waren eindeutige Zuordnungen möglich und auch die Personen waren so gemacht, so konstruiert. Mittlerweile sind wir alle andere. Die Gesetzgebungen haben aus den Frauen und den Männern etwas anderes gemacht. Wir leben in einer Welt, in der der Kosmos der Pflege und der Kosmos des Öffentlichen in den Personen verhandelt wird. Work-Life-Balance ist ein Beispiel dafür. Die Geschlechtertrennung ist sinnlos geworden, sondern es geht darum, wie steht eine Person zu den Aufgaben der Pflege und der Liebe und wie steht eine Person zu den Anforderungen des Öffentlichen…

…ein und dieselbe Person?

Ein und dieselbe Person, weil es mitten durch die Personen geht. Es geht nicht mehr nach Geschlecht, sondern den Lebensentscheidungen, die Personen mittlerweile treffen.

Die Entscheidungen richten sich nach den Welten, in denen sie agieren?

Wenn eine Person nicht genügend Zeit hat für die Kinder, weil die Arbeit ihr das abverlangt, dann ist dieser Grad der Ausbeutung zu überlegen und nicht das Rollenbild Mann/Frau. Wir sind als Person neoliberal zu einem kleinen Staat gemacht worden, der sich als Stellvertreter des großen selber erhalten muss. Es ist nicht mehr die Familie die kleine Zelle des Staates, sondern jede Person ist das und steht in einer Staatserhaltungspflicht. Ich glaube nicht, dass wir darauf so toll vorbereitet sind. Wir sind durch gesellschaftliche Normen angehalten, beständig den Staat in uns zu reproduzieren, indem wir den Geboten von Arbeitszwang und Triebverzicht folgen, während wir eigentlich Anforderungen in Liebe und Fürsorge zu erfüllen hätten. 

Der erste Vorgang von Entfremdung im Lieben findet statt, wenn die zu liebende Person in Besitz verwandelt wird. Wie sehr sind das fortbestehende Prägungen, die man schon für überwunden geglaubt hatte?

Die deutsche Wiedervereinigung hat uns hier wieder in bürgerliches Raunen zurückgeworfen. Wir haben es seitdem mit einem Backlash zu tun, der ungeheuer ist. Es kommen rechtsradikal-fundamentalistische Vorstellungen zum Vorschein, von denen wir geglaubt hatten, sie wären nicht mehr möglich.

Mich überrascht, dass Sie die Wiedervereinigung in ihre Polemik gegen undemokratische Rollenbilder einbeziehen. Auf jeden Fall entnehme ich daraus, dass für Sie die deutsche Einheit eine vom Westen verspielte Gelegenheit zur Reform war?

Ich gehe sogar noch weiter. Statt eine Reform anzugehen, wurden  dem Osten überholte gesellschaftliche Modelle aufoktroyiert.

Die Stigmatisierung und eindeutige Benachteiligung der alleinerziehenden Person – schreiben Sie im Handbuch für die Liebe – hat das Wort von der Schande ersetzt, meint aber in der Sache genau dasselbe…

…das ist ja genau der Nachweis, dass dieser Rückfall stattgefunden hat, sonst gäbe es dieses Problem nicht. Sonst würden Frauen lustig ihre Kinder allein erziehen, weil sie genügend Raum haben, für sich zu sorgen, und von der Gesellschaft unterstützt werden. Dabei geht es nicht nur um Geld, sondern auch um Unterstützung bei der Selbstverständlichkeit, wenn eine Person irgendwo hinkommt und nicht immer nur Vater-Mutter-Kind gespielt wird. Vater-Mutter-Kind ist für mich dieses westliche Modell, dass jetzt wieder die Werte bestimmt.

Sie verweisen im letzten Text des Handbuchs für die Liebe darauf, dass Glück nicht nur die Abwesenheit von Unglück bedeuten darf und plädieren für ein Leben, das in Schönheit vor sich gehen könnte. Wenn ich das Handbuch gegen den Krieg danebenlege, dann ist an Schönheit nicht zu denken. Ist diese Hoffnung nicht irreal?

Nein, weil wir wissen, dass es geht. Im Kosmos der Pflege haben wir Augenblicke, in denen wir wissen, was Schönheit ist. Wenn das erste Wort gesprochen wird, wenn der erste Schritt gemacht wird, wenn wir zusammensitzen und nichts sagen müssen, weil wir alles voneinander verstehen, erleben wir Augenblicke der Schönheit. Sie sind klein, aber wir wissen dadurch, dass es mehr davon gibt. Uns mehr zu nehmen, wäre der erste Schritt.

Nun haben Sie zwei Handbücher geschrieben: eines gegen den Krieg, das andere für die Liebe. Der Zusammenhang liegt auf der Hand, denn eines ist das Antidot des anderen. Wie hat sich für Sie der Zusammenhang hergestellt?

Worauf ich den Blick eigentlich lenken will, ist dies: Krieg ist ein System, Frieden ist ein anderes. Sie haben miteinander nichts zu tun. Es handelt sich nicht um eine Dichotomie, die vor uns liegt, sondern es sind zwei Modelle, denen wir in unserem Leben nachlaufen müssen, was uns wahrscheinlich alle krank macht. Wir kämpfen mit den Kosmen in uns, weil wir entscheiden müssen, wie viel vom Kosmos der Pflege behaupten wir gegen den Kosmos des Öffentlichen. Dieses Ringen verwirrt uns und lässt uns hilflos sein. Es geht darum zu sagen, ich bin diese Person, ich habe diese Grundrechte. Ich habe das Grundrecht, geliebt zu werden und das Grundrecht darauf, dass es schön ist und dass ich trauern kann in Ruhe und ungehindert. Dieses Richtig-Machen wäre ein wunderbarer Vorgang, wenn wir ihn auf die Gesellschaft ausweiten könnten. Das hieße aber, dass das Patriarchat vollkommen ausgesetzt wird.


2024, marlene streeruwitz, handbuch für die liebe
© S. Fischer Verlag

Marlene Streeruwitz
Handbuch gegen den Krieg
Fischer Verlag, 2024
80 Seiten, 16 Euro

Marlene Streeruwitz
Handbuch für die Liebe
Fischer Verlag, 2024
95 Seiten, 16 Euro