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Franz und Ottla Kafka vor einem Eingang des Hofs in Zürau © Archiv Klaus Wagenbach/Hans-Gerd Koch

„Für die Familie fehlt mir jeder mitlebende Sinn“: Wie Franz Kafka nicht gern als Familienmensch gesehen werden mochte und es doch war.

Michael Hametner01.06.2024

Oft, wenn ich in Prag gewesen bin, habe ich das Kafka-Museum besucht. Es liegt auf der Kleinseite mit dem Rücken zur Moldau. Dort wird ein Foto ausgestellt, das seine Eltern bei der Beerdigung ihres Sohnes zeigt. Der Vater, vom Schmerz gebeugt, in einem bodenlangen Mantel, der ihm zu groß scheint. Als hätte der Schmerz am Vater gezehrt. Weit weg der Gedanke vom jähzornigen Patriarchen. In Kafkas berühmtem Brief an den Vater stellt der Sohn fest, dass bei ihm nicht der „Kafkasche Lebens-, Geschäfts-, Eroberungswillen in Bewegung gesetzt werde“ und der Vater deshalb „zu stark“ für ihn war. Darin bestand ihr Konflikt.

Pünktlich zu Kafkas 100. Todestag am 3. Juni 1924 ist im Wagenbach-Verlag ein Buch mit dem Titel Kafkas Familie. Ein Fotoalbum erschienen. Zusammengestellt hat es der Kafka-Kenner Hans-Gerd Koch. Bei ihm findet sich zwar nicht das Eltern-Bild von der Beerdigung, aber viele andere Aufnahmen, die nicht an das Bild vom despotischen Vater glauben lassen. Als Tyrann am Esstisch, der den Sohn, die drei Töchter und die das Essen auftragende Hausangestellte ständig mit bösen Blicken und giftigen Sätzen dirigiert hat, haben ihn gerade Daniel Kehlmann und David Schalko in ihrer sechsteiligen ARD-Serie gezeichnet. Im Fotoalbum wird er etwas anders gesehen.

Biografien von berühmten Schriftstellern werden nicht selten noch Bücher nachgeschickt, die das Leben des Berühmten oder der Berühmten anhand von überlieferten Fotos darstellen. Diese Persönlichkeiten sind zumeist bereits verstorben, und die Fotos zeigen die Schriftsteller im Idealfall in bedeutungsvollen Momenten ihres Lebens. Kafka ist in dieser Hinsicht ideal. Die ersten Bilder sind noch in professionellen Fotoateliers entstanden, die letzten dann bereits als Schnappschüsse von Kleinbildkameras. Das letzte Porträt Kafkas wurde in einem Fotoautomaten aufgenommen.

Ein tiefer Blick in die Familie

Zuerst muss ein mögliches Missverständnis ausgeräumt werden: Das Buch will nicht Kafkas Leben anhand von alten Aufnahmen illustrieren, sondern stellt seine Familie vor. Der 1883 geborene Franz Kafka bildet das Zentrum des Bildbands, und die Mehrzahl der Aufnahmen zeigt ihn. Beim frühesten ist er ein Jahr jung und räkelt sich auf einem Sessel, der Zweijährige steht dann im Sessel, und der Vierjährige schaut mit Hut und Matrosenanzug böse an der Kamera vorbei. Fotografiert zu werden, soll seine Sache nicht gewesen sein.

Die Kapitel ordnen sich um Kafkas Familie herum: zuerst die Vorfahren der Eltern, dann die Eltern selbst, danach kommen Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen ins Album und schließlich die Familien der drei Schwestern Elli, Valli und die Familie von Lieblingsschwester Ottla. Sie soll einigermaßen unglücklich verheiratet gewesen sein, was man bei den Abbildungen ihres Ehemann Josef David nicht ahnt. Übrigens sind alle Schwestern-Ehen – wie schon vorher die der Eltern – von einer Heiratsvermittlerin arrangiert worden. Das heutige Äquivalent sind Dating-Plattformen. Rührend der Brief des Vaters Hermann an seine spätere Frau Julie – zu diesem Zeitpunkt noch: „Hochgeschätztes Fräulein“ –, in dem er ihr, die er sein Ideal nennt, ewige Liebe verspricht und hofft, dass seine Liebe Gegenliebe erzeuge. Nichts lässt den späteren Despoten erkennen.

Das unfassbare Leid in der NS-Zeit

Man sieht nicht nur, man liest auch. Der bei Kafka bestens bewanderte Herausgeber hat den Fotos Ausschnitte aus Briefen, Tagebüchern und einzelnen literarischen Texten beigegeben, die mal das Foto erklären, mal die Situation seiner Entstehung. Eine Nichte Kafkas, Vera, die Tochter von Schwester Ottla, hat am längsten den Faden der Familie ausgerollt. Bis ins Jahr 2015, da war sie 94 Jahre alt. Sie wird mit dem Satz zitiert, den sie an ihrem 90. Geburtstag gesagt haben soll: „Adolf Hitler wollte die Familie Kafka auslöschen, heute sind wir mehr als je zuvor.“ Mag der Satz auch einen unverwüstlichen Optimismus bezeugen, so kann er doch all die Verbrechen an den Kafkas nicht vergessen machen, die ihnen als Juden in der Zeit des Nationalsozialismus angetan wurden. Kafkas Brüder sind im Kleinkindalter verstorben, seine drei geliebten Schwestern dagegen in Konzentrationslagern. Alle vier Kinder seines Onkels Richard, sechs Cousins und Cousinen aus der väterlichen Linie, zwei Kinder seiner Schwester Elli und der Mann von Valli erlitten dasselbe Schicksal. Die Todesdaten im Stammbaum all derer – 16 Menschen insgesamt –, von denen man eben noch einige auf den Fotos sympathisch lachen sah, machen beim Lesen das Herz schwer. Am meisten beschwert wohl das Schicksal von Felix, dem 1911 geborenen Neffen, der Onkel Franz wie aus dem Gesicht geschnitten war. Um seine Zuneigung buhlte selbst Großvater Hermann, also jener, der der Nachwelt als Tyrann überliefert ist. Franz schreibt in einem Brief an Felice Bauer, wie sein Vater an der Tür gehorcht hat, ob Felix ihn noch einmal ruft: „Tatsächlich ruft er noch Dje-Dje, was Großvater heißt, und nun öffnet der Vater zitternd vor Freude noch einigemal die Tür, steckt einige Mal noch schnell den Kopf ins Schlafzimmer und entlockt so dem Kind noch ein paar Dje-Dje-Rufe.“ – Der Tyrann?

Kafka hat von manchem gern das Gegenteil behauptet. Manchmal wird er seine Gründe gehabt haben, manchmal schwankten auch einfach die Gefühle. Er, der zeit seines Lebens und nur von kurzen Unterbrechungen abgesehen bei seinen Eltern gewohnt hat, hat sich nicht als Familienmensch bezeichnet, war es aber. Er wollte so gern noch einen Besuch der Eltern in Kierling bei Wien, wo er sich zur Heilung seiner Lungentuberkulose die letzten Monate aufhielt. Am 2. Juni 1924 schrieb er an die Eltern, dass ihr Besuch für ihn „eine wichtige Sache“ sei und „es schön wäre“, wenn sie kämen. Es war sein letzter Brief. Er ist im Kafka-Museum als Faksimile ausgestellt. Man sieht, wie die Schrift schwächer wird und schlecht lesbar. Am nächsten Tag starb Franz Kafka.

Zweifel an der Wahrheit des Vaterbilds

Ich werde übrigens nicht versuchen, die Meinungen der Literaturwissenschaftler und Leser über Kafkas Brief an den Vater, den er 1919 geschrieben, aber niemals abgeschickt hat, zu stürzen. Auch der Herausgeber des Fotoalbums von der Familie äußert Zweifel an der Wahrheit des gezeichneten Vaterbilds. Kann man nicht – bei gründlicher Betrachtung der hinterlassenen Fotos vom Vater – den Brief an den Vater für autofiktionale Prosa halten? Er besitzt einige Stilmerkmale, die dafür sprechen. Vielleicht gebührt dem Weltschriftsteller Franz Kafka in diesem Fall zusätzlich der Ruhm, mit seinem Brief an den Vater der Erste dieser neuen Richtung in der Literatur gewesen zu sein, die jetzt so en vogue ist. Sagen wir vorsichtig: vielleicht.


Infos

 

Hans-Gerd Koch

Kafkas Familie. Ein Fotoalbum

Verlag Klaus Wagenbach 2024,

210 Seiten, 38 Euro

 

 

 


2024, hametner, buch, kafka,
© Allitera Verlag 2024

 

 

Weiterlesen:

Ulrich Hohoff (Hg.) RC Augsburg

Franz Kafka: Die frühen Publikationen

Allitera Verlag 2024,

248 Seiten, 22 Euro