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Länger, lauter, Meyer
Clemens Meyer ist ein Künstler auf dem hohen Seil der Literatur. Sein neuer Roman hat 1056 Seiten, aber langweilig wird er nicht. Ein Porträt des Schriftstellers
Ich möchte Ihnen den in Deutschland vermutlich angesagtesten Autor aus Ostdeutschland seiner Generation vorstellen. Kandidaten wären Uwe Tellkamp und Ingolf Schulze. Zum Dritten in der Runde (oder zum Ersten) wähle ich Clemens Meyer, geboren 1977 in Halle/Saale. Über Nacht wurde er berühmt mit dem Roman Als wir träumten (2006 als Buch, 2015 verfilmt). Darüber hinaus konnte ich mich der magischen Wirkung seines neuen Romans Die Projektoren, der am 28. August in die Buchhandlungen kommt, nicht entziehen – trotz mehr als 1000 Seiten. Erschöpft, aber glücklich, war ich nach diesem Lesemarathon.
Krieg und Frieden in unserer Zeit
Ich halte mich an das Verspechen zur Verschwiegenheit, schon aus Respekt vor der Leistung von Autor und Verlag, und schweige. Und doch möchte ich für Sie, lieber Leser, eine kleine Spur zum Inhalt legen und hoffe, dass es für mich keine Folgen hat: Der in der Anfangspassage genannte Doktor ist Karl May. Über seine Figur kommen die Karl-May-Filme mit Pierre Brice und Lex Barker aus den 60er Jahren in die Geschichte, die in den Karstgebirgen Jugoslawiens gedreht wurden. Über den Drehort führt der Erzählweg zum Schauplatz der Anfang der 90er Jahre ausbrechenden postjugoslawischen Kriege. Serbien gegen Kroatien, Kroatien gegen Serbien. In der Kette der Ereignisse folgt im Roman dem Krieg im Film mit Karl May als Drehbuchautor der Krieg in der Realität. Wenn außerdem auf das Jahr 1941 zurückgeblickt wird, als die Deutschen auf ihrem blutigen „Balkanfeldzug“ durchs Land zogen, dann braucht eine Geschichte epische Weite, weil es die Figuren auf einem Zeitstrahl sucht. Leicht vorstellbar, dass das Erzählen dann mehr als 1000 Seiten beansprucht. Meyer belässt es nicht beim unterhaltsamen Spiel mit dem deutschen Abenteuerschriftsteller Karl May, sondern dringt in Geschichten von Krieg und Frieden ein. Wenn Gegenwart nicht vorkommt, zieht ihn das Schreiben eines Romans nicht über die 1000-Seiten-Schwelle, sagt er mir.
Romane dieser Länge erscheinen nicht alle Tage, vielleicht einmal im Jahr, vermutlich aber noch seltener. Sofort fällt mir Peter Handkes Mein Jahr in der Niemandsbucht ein. Das Buch hat 1067 Seiten. Für seine Lektüre habe ich mir eine Woche Urlaub genommen. Handkes Literatur eignet sich nicht fürs Nachtkastlbuch. Uwe Tellkamps Der Turm und Der Schlaf in den Uhren blieben in der Länge knapp hinter Handke zurück. Einige wenige internationale 1000-Seiten-Titel stehen noch in meinem LektüreTagebuch: Lew Tolstois zwei Großromane Krieg und Frieden und Anna Karenina, von Gabriel García Márquez Hundert Jahre Einsamkeit und Donna Tartts Der Distelfink – aber dann hört’s auf. Genug mit der Feier der Romanlänge, denn es geht in keinem Fall um Rekorde, sondern um die Länge, die eine Geschichte braucht, um erzählt zu werden. Und Clemens Meyer brauchte diese Länge für seinen Blick auf Krieg und Frieden in unserer Zeit.
Zehn Jahre sind seit Erscheinen des Vorgängerromans (Im Stein) vergangen. Natürlich heißt das nicht, dass er jeden Tag am neuen Werk geschrieben hat. Eineinhalb Jahre bevor er den letzten Punkt gesetzt hat, befand er sich erst bei 500 Seiten. Es gab also einen mächtigen Schlussspurt, der auch nur ging, weil er die noch nicht geschriebenen Kapitel bereits im Kopf hatte und er das Telefon klingeln ließ. Meyer schreibt mit Sorgfalt. Mit einem großen literarischen Anspruch in der Form, was in der Literatur immer die Sprache meint. Da mag es zehnmal um Katastrophen unserer Gegenwart gehen, wenn sie nicht in Literatur verwandelt werden, darf kein Schriftsteller damit antreten, meine ich.
Die Feinheiten seiner Sprache
Ich nehme an, Clemens Meyer ordnen manche, die ihn nur von diesem und jenem Medienauftritt kennen, aus Interviews und Drehbüchern von manchmal dunklen Filmen aus der Reihe Polizeiruf oder Tatort, falsch ein. Nach der Herkunft des Stoffes für seinen Debütroman Als wir träumten gefragt, in dem er die wilde Zeit zwischen dem Abgang der DDR und dem Anfang einer neuen Ordnung feiert, hat er oft gesagt, dass er ihn in Leipzigs Abrissvierteln gefunden hat und dass er dort selbst eine Wohnung besitzt. Seitdem ist er für viele, die über ihn sprechen, der ostdeutsche Schriftsteller aus proletarisch-prekären Verhältnissen. Das mag sein, liegt aber längst hinter ihm. Und auch wenn es nicht hinter ihm läge, was bedeutet die Herkunft für das Schreibhandwerk und den literarischen Stil? Meyer hat am Leipziger Literaturinstitut studiert, gefördert von einem der großen Lehrer in seiner Studienzeit, Professor Walfried Hartinger. Aber Meyer – das bekennt er gern – hat davor schon studiert: die Bücher großer, vor allem amerikanischer Schriftsteller. Hemingway, Faulkner, John Dos Passos, Truman Capote. Lesen, lesen, lesen war bereits die Universität vieler großer Schriftsteller.
Mir fällt sofort der andere Große aus Sachsen ein: Büchnerpreisträger Wolfang Hilbig. Clemens Meyer hat einen Vater mit einer großen Bibliothek. Lassen Sie sich einmal auf ein Gespräch mit Meyer über andere Schriftsteller ein! Sie werden kaum erleben, dass er etwas nicht kennt. In seinem Essay Wozu Literatur, den er seinem Erzählband Stäube (Faber & Faber, 2021) angefügt hat, schreibt er, dass er in der Literatur gern von den „kriminellen Charakteren“ las, was man ihm aber am Literaturinstitut auszureden versuchte – ohne Erfolg: „Aber ich blieb bei meinen ‚kriminellen Charakteren‘, las weiter B. Traven und so viele andere, die mir mehr Lehrer waren …“
Jedes Kapitel ein anderer Gestus
Clemens Meyer hört auf einem Ohr schwer, weshalb er manchmal lauter spricht als nötig. Aber seine eigentliche Stimme, die des Schriftstellers Clemens Meyer, ist eine feine, weil sie den Feinheiten der Sprache, des Stils, der Erzählkunst folgt. Er lässt sich nicht nur von spannenden Geschichten durch einen Roman treiben, sondern von der Lust, sie jeweils auf andere Weise, auf ihre eigene Weise zu erzählen. Das gelingt ihm in seinem neuen Roman Die Projektoren. Jedes Kapitel zeigt einen anderen Gestus, lässt einen anderen Klang und Rhythmus hören. Meyer ist ein Künstler auf dem hohen Seil der Literatur. Auf seinen neuen Roman können wir uns freuen. So viel darf ich schon verraten.
Buchtipp
Clemens Meyer
Die Projektoren
S. Fischer,
1056 Seiten, 32 Euro
Der Roman erscheint am 28. August
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