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Am Rande der Stadt mittendrin

Forum - Am Rande der Stadt mittendrin
© Architekturzentrum Wien/Sammlung/usis

Die sehenswerte Ausstellung „Suburbia“ im Architekturzentrum Wien beleuchtet das Einfamilienhaus als amerikanischen Traum, den auch die Österreicher schätzen. Ist das noch zeitgemäß?

Michael Hametner01.06.2025

Gibt es einen schöneren Lebensort als ein Einfamilienhaus? In der Vorstadt oder am Rande der Stadt, naturnah, mit Nachbarn auf Abstand und einem Zuschnitt der Zimmer nach eigenem Plan? Die ideale Voraussetzung zur Selbstverwirklichung. Lohn einer langen Kette von Mühen. In Deutschland haben diesen Traum 31 Prozent verwirklicht, in Österreich 44 Prozent, und in den USA sind es 67 Prozent. Frei stehende Einfamilienhäuser sind die häufigste Form des Haus- und Grundbesitzes für Privathaushalte. Diesem Phänomen geht unter dem Titel Suburbia. Leben im amerikanischen Traum eine Ausstellung nach, die im Architekturzentrum im Museumsquartier in Wien gezeigt wird. Der Blick geht über das einzelne Haus hinaus und fällt auf Siedlungen von Einfamilienhäusern, auf das, was man Speckgürtel nennt oder Vorort, im Englischen: Suburbia.

2025, am rande der stadt mittendrin, hametner
Ausstellung „Suburbia. Leben im amerikanischen Traum“ © Reiner Riedler

Betrachtet man in der Ausstellung Fotos dieser Wohnsiedlungen – die ersten stammen aus den USA und sind Ende des 19. Jahrhunderts angelegt worden –, fragt man sich mit den Augen von heute, ob es wirklich ein Traum war, so zu leben. Aus dem Fenster sehe ich mein eigenes Haus noch einmal beim rechten Nachbarn – und beim linken auch. Das, womit alles Anfang des 19. Jahrhunderts begonnen hat, mit der Villa im Landhausstil nämlich, war aus Preisgründen nicht zu einem Konsumartikel zu machen. Im Kapitalismus regelt der Preis die Nachfrage. Mit seriellen Hausfertigungen konnte man ihn so weit drücken, dass Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts auch Arbeiterfamilien umworben werden konnten. Jetzt brauchte es eine zweite Voraussetzung: günstige Verkehrsverbindungen in die Wohnsiedlungen am Rande der Stadt. Erst war es die Eisenbahn, dann das Auto – von seinem Typ „Model F“ baute Ford zwischen 1908 und 1927 rund 15 Millionen Stück – und in manchen Städten schließlich sogar die Straßenbahn. Aber auch die Hersteller von Haushaltsgeräten profitierten. Als es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Waschmaschine und Fernseher gab, wurde jedes Haus damit ausgestattet. Immer handelte es sich um Millionenstückzahlen. Das Einfamilienhaus wurde für die Bauherren, für die Hersteller von Möbeln und Haushaltsgeräten, für die Autobauer von GM und Ford fast eineinhalb Jahrhunderte lang zum ganz großen Erfolgsgeschäft. Nicht zu vergessen: auch für die Banken, die bei ihrer Kreditvergabe nicht zögerlich waren. Sie hatten immer eine Sicherheit: das Haus.

Er pendelt, sie bewacht die Möbel

Aber die Vororte erweisen sich als Ghettos. Das traditionelle Rollenbild von Mann und Frau vertieft sich. Für die Männer entstehen zeitaufwendige Fahrten zum Arbeitsplatz in der Stadt. Das Wort „Pendler“ wird bereits Ende des 19. Jahrhunderts geprägt. Die Frau bleibt im wörtlichen Sinn als Hausfrau zurück, beaufsichtigt die Kinder, hält alles sauber und bereitet das Abendessen vor. Sie macht das, was in einem bösen Witz heißt: Sie bewacht die Möbel. Mir geht das Foto nach, auf dem eine Frau im wunderschönen Kimono vor dem Familienhaus posiert. Sie ist eingesperrt in eine Welt aus 150 Quadratmetern und einem höchstens doppelt so großen Garten. Trotzdem nennen viele ihre begrenzte Welt gleich stolzer Königinnen „mein Reich“.

Der amerikanische Traum bekommt Risse. Die Einsamkeit produziert Ängste. Das Wort Vorstadthorror findet Eingang in das neu entstehende Genre des Psychothrillers. Die Ausstellung Suburbia. Leben im amerikanischen Traum betrachtet die sozialen Folgen, wie sie in Romanen und Filmen ausgebreitet worden sind. Auch dieses Kapitel erzählt die Ausstellung. Der Roman Crossroads von Jonathan Franzen liefert ein Beispiel, aber mir das Liebste ist der Roman Zeiten des Aufruhrs von Richard Yates. Der Roman wurde 2008 von Sam Mendes mit Leonardo DiCaprio und Kate Winslet verfilmt und kann durch die Wahl derselben Hauptdarsteller als Gegenentwurf zum Titanic-Film verstanden werden. In Titanic geben sich Rose und Jack ein selbst vom Tod nicht kündbares Liebesversprechen. Das Ehepaar April und Frank Wheeler findet sich in Crossroads in seinem Haus im Vorhof zur Hölle wieder. April versucht mit dem Plan, ihr Einfamilienhaus zu verlassen und nach Paris zu gehen, ihren Mann aufzubauen, doch dann wird er befördert und sie schwanger. Beide bleiben im Haus und in ihrem Leben stecken. Bis zum Ende des Films verwandelt sich für sie der amerikanische Traum in einen Albtraum.

Potenzial oder Altlast?

Trotz der Zersiedelung der Landschaft und der Klimafeindlichkeit – beides stellt die Ausstellung heraus – spricht die Zahl von 67 Prozent Einfamilienhausbesitzern in den USA eine deutliche Sprache.

An dieser Stelle vollzieht die Ausstellung einen Schwenk und blickt auf die Situation in Österreich, wo immerhin 44 Prozent dieses Wohnmodell gewählt haben. Die Ausstellungsmacher sagen es bereits zu Beginn: Diese schier unvorstellbare Zahl besitzt ein Potenzial. „Abreißen und weg damit“ kann der Weg nicht sein. Es muss darum gehen, „wie wir diesen riesigen Bestand von Einfamilienhäusern in eine gute Zukunft bringen können und wie sich gesellschaftliche Normen verändern müssen, um nachhaltige Transformationen zu ermöglichen“.

In Österreich entstanden die ersten Einfamilienhaussiedlungen in der Zwischenkriegszeit. Um dem immer stärkeren Vormarsch der Industrien in die Städte zu entkommen, waren Gartenstädte oftmals eine Lösung. Im großen Stil entwickelte sich die suburbane Lebensform erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Marshallplan schuf gute Finanzbedingungen und die Politik half mit Förderungen nach. Dass in den USA stärker kapitalistische Interessen den Einfamilienhausmarkt vorantrieben, war Europa nicht fremd, aber hier verband es sich mit dem Interesse der Politik, vor allem konservativer Parteien. Ihre Absicht war es, Eigentum in die Hände kleiner Leute zu geben. Hausbesitz stellte ein stabilisierendes Element für Gesellschaft und Demokratie dar.

Verdichtung und Diversifizierung

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Plakat, Österreichisches Produktivitäts-Zentrum, 1952. 1950 wurde aus den Mitteln des Marshallplans das Österreichische Produktivitäts-Zentrum mit dem Ziel gegründet, materielle, geistige und moralische Kräfte auch in den Dienst der Produktivitätssteigerung der österreichischen Wirtschaft zu stellen. © ÖNB Bildarchiv

In Österreich und Deutschland kam man langsamer in Schwung. Die Häuser einer zwischen 1952 und 1954 in Wien errichteten Mustersiedlung waren schwer zu verkaufen. Der Österreicher will es nicht gern seriell, lieber individuell. Aber trotzdem ging es in den 60er und 70er Jahren damit los, was bis heute zu immerhin 44 Prozent Einfamilienhäusern geführt hat. Die Mieter der Pionier-Generation, die vor 40, 50 Jahren mit einem Fest einzogen, sind heute oft alleinstehend und in einem Alter, dass sie kaum an einer Modernisierung interessiert sind. – Was also machen mit den vielen Einfamilienhäusern, gerade da, wo sie eine eigene Wohnanlage bilden?

Auf diesen Punkt setzt die Ausstellung im Österreichteil ihr ganzes Gewicht. Die beiden Stichworte lauten Verdichtung und Diversifizierung. 13 Projekte stellen die drei Kuratorinnen in Wort und Bild vor. Eines ist dieses: In Lustenau, im österreichischen Bundesland Vorarlberg, wo die Grundstückspreise am höchsten sind, lebt eine Frau, der das Haus nach dem Tod ihres Mannes zu groß wurde. Sie schlug ihrer Enkelin vor, mit ihrer Familie einzuziehen. Die Planung des Umbaus übernahm die zweite Enkelin. So wurde aus dem Einfamilienhaus ein modernes Haus mit zwei getrennten Wohneinheiten, die sich äußerlich voneinander absetzen. Die Wohnfläche wurde von 180 auf 250 Quadratmeter aufgestockt.

„Aufgestockt“ ist das Stichwort für andere Verdichtungsprojekte. Ich sehe Fotos von Häusern im Bungalowstil, und auf dem nächsten Foto tragen die Grundmauern ein zweites Geschoss. Aus einem Einfamilienhaus wurde ein Mehrfamilienhaus. Anderswo verwandelten sich Häuser, die aus Altersgründen frei geworden waren und angekauft werden konnten, zu Kinder- oder Senioreneinrichtungen. In Altötting – da schwenkt die Ausstellung nach Deutschland – gibt es das Syndikat „SauRiassl“. Es handelt sich um ein Netzwerk aus solidarischen, ökologischen und gemeinschaftlichen Wohnprojekten. Nach dem Vorbild von Miethäuser-Syndikaten ist es im Sommer 2018 ins Leben gerufen worden. Die Arbeitsweise entspricht einer Genossenschaft. Im Auftrag seiner Mitglieder kauft es von gemeinsamem Geld Einfamilienhäuser an und entwirft neue Nutzungskonzepte. – Solche Projekte zur Aufwertung von Einfamilienhaussiedlungen gibt es mittlerweile in Österreich und Deutschland viele.

Auch wenn die Ausstellung nicht alles anschaulich belegt, sondern stark mit Schrifttafeln arbeitet – eines leistet sie: Sie öffnet die Augen für die unkritische Präferenz dieser Wohnform unter heutigen Lebensansprüchen und Erfordernissen – und sie weist gangbare Wege aus dem augenblicklichen Zustand.

Ich finde auf der Webseite des Syndikats von Altötting einen alten Spruch, der mir sehr gefällt: Dieses Haus ist mein, und doch nicht mein. Nach mir kommt a Andre rein. Und dera ist es auch nicht sein.


 

Ausstellung:

Suburbia. Leben im amerikanischen Traum

Architekturzentrum Wien, bis zum 4. August täglich von 10 bis 19 Uhr.

azw.at