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Der Schatz im Kamin

Das Buch "Von Tür zu Tür" stellt Wiener Hauseingänge vor und erzählt die Geschichten dazu – mit viel Liebe zum Detail.
Sagen Sie nicht, die Liebe zum Detail besäßen Sie, sie sei doch schließlich selbstverständlich! Wüssten Sie die Details der Tür zu beschreiben, durch die Sie das Haus betreten, in dem Sie wohnen? Ich meine nicht eine aus dem Baumarkt, sondern eine vom Tischler handgefertigte. Tausendmal hindurchgegangen, tausendmal angeschaut. Können wir sie wirklich treffend beschreiben? Wie sieht die Klinke aus? Ist die Türschnalle, wie sie in Österreich heißt, aus Messing oder geschmiedetem Eisen? Was für ein Glas ist eingebaut? Geschliffen, genoppt, durchsichtig oder nicht? Türen besitzen ihr eigenes Gesicht, detailreich, individuell. So könnte die Botschaft des Buches Von Tür zu Tür lauten.

Die Schriftstellerin Gabriele Hasmann und die Fotografin Barbora Vavro Gruber besitzen diese Liebe zum Detail. Sie wirkt wie ein Virus – und nennt sich "Das Türen-Entdecker-Virus". Wir sind verabredet, damit sie mir einige jener Türen zeigen, die sie in ihrem Buch vorstellen. Schon auf dem Weg höre ich sie feststellen, dass diese und jene Tür, an der wir vorbeikommen, eigentlich auch ins Buch gehört hätten. Merken wir uns fürs nächste Buch, sagen sie. Ich staune, wie schnell sich das Tür-Virus auf mich übertragen hat.
Augen auf beim Stadtspaziergang
Türen – gemeint sind Türen als Hauseingänge – sind mit vielen Bedeutungen besetzt. Sie bilden eine Grenze zwischen äußerer Welt und innerer. Die Welt draußen wollen sie abhalten, die Welt innen schützen. Dass Architekten und Handwerker viele von ihnen hier in der Inneren Stadt von Wien so prächtig gestaltet haben, sagt aber auch, dass sie nicht nur aussperren wollen, sondern auch einladen: Kommt herein! Schon in der Bibel heißt es im Evangelium des Johannes von Jesus: "Ich bin die Tür!" Wir haben in unserem heutigen Sprachgebrauch viele Redewendungen, die auf die Tür gemünzt sind: Man kann offene Türen einrennen oder die Tür für immer verschlossen finden. Und kehren muss man immer vor der eigenen Tür.
Ich stelle das Thema vom Kopf auf die Füße. Eine Tür darf nicht abfällig als "Schließmuskel" eines Hauses gesehen werden, sondern – zumindest die besonderen Ausführungen – als wichtigster Teil, als Gesicht eines Hauses. Ich vermute, dass Sie als Leser nach der Lektüre des Buches von Hauseingängen ein wenig anders denken. Das bewirkt das Virus. Jetzt wird anders an die Klinke gegriffen und vor allem: Ab jetzt werden Details an Türen wahrgenommen und gewürdigt. Der Blick aufs Handy zieht unseren Blick viel zu oft herunter. Nach der Bekanntschaft mit Hasmanns und Grubers Buch geht er in die Höhe. Darin bin ich mir sicher.
Der angesagte Nachtclub
Heute wissen beide nicht mehr genau zu sagen, wie ihre Leidenschaft für Türen begann. Hat die 1968 in Wien geborene Gabriele Hasmann zuerst einen Bildband mit Türen aus Irland gesehen oder zuerst Fotos von Türen der 1987 in Bratislava geborenen Barbora Vavro Gruber? Die Fotografin liebte schon vor dem Buchprojekt Türen. Es ist ihre Passion, Details an Türen zu entdecken. So begann alles Anfang 2024. Zusammen wählten sie Türen in Wien aus. Ins Buch aufgenommen wurden nicht nur jene, die sich durch ihre Schönheit und ihren künstlerischen Wert empfohlen haben, sondern auch solche, zu denen Gabriele Hasmann Geschichten finden konnte.

Vielleicht gibt es keine zweite Stadt auf der Welt, deren Kulturgeschichte so ausgeforscht und dargestellt ist, wie die von Wien. Als das Kaiserreich 1918 abgewickelt wird, hält der verbliebene Torso umso stärker die zurückgelassene Vergangenheit fest. Türen hatten noch gefehlt. Aber das entstandene Buch zeigt nicht nur Türen, sondern liefert ihre Geschichten dazu: Wer waren die Menschen, die durch die Türen gegangen sind, aus welchen Berufen kamen sie, welche Geschichten haben sie ins Haus gebracht oder von dort mitgenommen? Die Autorin forschte nach Menschen, die in diesen Häusern mit den schönen Portalen im 18., aber meist im 19. Jahrhundert gelebt haben und über die ein einziges Mal etwas in der Zeitung gestanden hatte. Während die Fotografin auszog und mit ihrem Apparat Türen sammelte (wann immer sie nicht zugeparkt waren), tauchte die Schriftstellerin wochenlang in Zeitungsarchive ab und suchte nach Schicksalsgeschichten, die sich in den Häusern ereignet hatten. Man hatte sich – um die Seitenzahl überschaubar zu halten – mit dem Verlag auf 88 Türen und ihre Geschichten geeinigt. Hinzu kamen noch einmal Fotos von mehr als 100 weiteren Türen, die als sogenanntes Bonusmaterial die Auswahl ergänzen.
Die Malerin von Hietzing
Absicht war es nicht, jede ausgewählte Tür kunstwissenschaftlich zu beschreiben. Jedes Foto sollte zu Geschichten derer führen, die hinter ihr gelebt haben. Gabriele Hasmann schreibt in ihrem kleinen Vorwort: "Eines sei vorweg verraten: In unseren Geschichten menschelt es hinter den Türen der Stadt!" Erzählt wird, was sie aus alten Zeitungen über die ehemaligen Bewohner in den Häusern Spannendes, Ergreifendes oder Witziges herausgefunden hat.
Eine der Lieblingstüren von beiden Autorinnen findet sich im Haus Annagasse 3 im 1. Bezirk. Die Tür ist ein Stilmix mit neobarocken Einflüssen. Im Text neben dem Foto erfahre ich, dass sich hier 1840 ein gewisser Joseph Daum einquartiert hatte. Im Keller des Hauses schuf er mit allem Pomp und Luxus das "Neue Elysium", ein angesagtes Lokal. Es bot seinen Gästen den Kontinenten zugeordnete Bereiche, die wie in Geschichten aus Tausendundeiner Nacht eingerichtet waren. Rund 50 Jahre lang spielte sich hier ein großer Teil des Wiener Nachtlebens ab. 1923 erlangte dort Hans Moser mit dem Dienstmann-Sketch, den er hier allabendlich in der Revue Wien, gib acht spielte, schlagartig Berühmtheit. In den 70er Jahren wurde der Keller Heimat der in Wien bis 2001 angesagten Szene-Diskothek Montevideo.
Zusammen mit der Inneren Stadt sind in das Buch Türen aller 23 Wiener Bezirke aufgenommen. Aus dem noblen Hietzing, das sich westlich an Schloss und Park Schönbrunn anschließt, die Tür zum Haus in der Altgasse 27. Sie ist eine der vielen Jugendstil-Türen, von Kacheln gerahmt und mit einem prunkvollen Überbau. Hier lebte seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine emanzipierte und überaus erfolgreiche Juristin mit ihrer Familie. Einige Jahre später bezog eine Malerin den Dachaufbau des dreieckigen Gebäudes und machte daraus ihr Atelier. Von diesem Zeitpunkt an gingen regelmäßig Kunstliebhaber durch das Portal, um ihre Bilder zu bewundern. Im Nachbarzimmer des Ateliers hielt der Ehemann der Malerin Vorträge über "Kunstwanderungen" durch Wien. Für 1934 – das Jahr der Ermordung von Bundeskanzler Dollfuß – ist überliefert, dass eines Tages eine Polizei-Eskorte durch das Jugendstil-Portal stürmte, um einen 17-jährigen Handelsschüler zu verhaften, weil man ihn im Verdacht hatte, einen Sprengstoffanschlag gegen das Lokal der Ständestaat-Partei von Dollfuß verübt zu haben.
Vor 80 Jahren: das goldene Brautpaar

Im 15. Bezirk findet sich an der Markgraf-Rüdiger-Straße 14 eine besonders farbenfrohe Jugendstiltür, hinter der sich eine spannende Geschichte zutrug: Der Rauchfangkehrer Johann Kaun entdeckte bei der Reinigung der Kaminanlage des Gebäudes einen Packen Papier, der in einem Hohlraum verborgen war. Es handelte sich um ein Bündel Geldscheine im Wert von zweieinhalbtausend Reichsmark, die der Finder für abgelaufen hielt. In der nächsten Gastwirtschaft zeigte er das Geld und überließ einen Teil den staunenden Gästen. Bis einer ihn darauf hinwies, dass die Scheine durchaus nicht abgelaufen seien. Weil er sofort bei der Polizei seinen Fund anzeigte und nach dem ehemaligen Besitzer forschen ließ, blieb er straffrei. Das noch vorhandene Geld musste er allerdings abgeben.
"Der Schatz im Kamin" gehört zu den vielen kleinen, oftmals skurrilen Geschichten, die Buchautorin Gabriele Hasmann gefunden hat. An den Türen haftet für sie die DNA großer Menschen, verrät sie mir augenzwinkernd. Sie begeistert die Vorstellung, dass durch diese Tür Gustav Klimt gegangen ist, durch jene Sigmund Freud, hier der Operettenkomponist Ralph Benatzky. Sie bilde sich ein, die Energien dieser Menschen und der Zeiten, in denen sie gelebt haben, zu spüren. Auch vom Ehepaar Wagenhofer, das im Juli 1945 als goldenes Brautpaar mit seinen sechs leiblichen Kindern und der Adoptivtochter durch die im schönsten Jugendstil geschaffene Tür in der Markgraf-Rüdiger-Straße 14 geschritten ist.


Diese Reise Von Tür zu Tür durch Wien hat mich zum Suchen besonderer Türen angesteckt. Das Virus war bei mir angekommen.
Gabriele Hasmann (Texte) und Barbora Vavro Gruber (Fotografien) Von Tür zu Tür. Wiener Geschichten
Styria Verlag, 210 Seiten, 32 Euro

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