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Eh scho wuascht

Seit einem Jahr ist der Wiener Würstelstand Weltkulturerbe – zurecht! Viele lohnen wirklich einen Besuch, nicht nur wegen der Würstel
Vor einigen Wochen besuchte ich in Wien den Zentralfriedhof, nicht weil ich an einem Begräbnis teilzunehmen hatte, sondern um in dem weitläufigen Park, in dem so viel Natur und Kultur, Leben und Tod zusammenkommen, ein wenig herumzuwandern. Einzig der Hamburger Friedhof Ohlsdorf ist noch ausgedehnter, aber mit rund drei Millionen Menschen, die hier bestattet wurden, ist der Zentralfriedhof von seiner „Belegung“, wie es amtlich lautet, der größte Friedhof Europas. Vor dem Haupteingang, dem Tor 2, befindet sich ein stark frequentierter und beliebter Würstelstand. Er heißt an diesem Platz sinnigerweise „eh scho wuascht“, was man aus dem Wienerischen etwa mit „jetzt ist es sowieso egal“ oder „ohnehin alles vorbei“ übersetzen könnte.
Es gibt in Wien zahlreiche Würstelstände, die am Vormittag auf- und am frühen Abend zusperren, weil ihre Kunden tagsüber unterwegs sind und gegen den kleinen Hunger gerne ein Paar Würstel zu sich nehmen; und es gibt zahlreiche Stände, die erst am Abend aufsperren, aber bis über Mitternacht, einzelne sogar bis vier Uhr früh geöffnet bleiben, weil durch die Nächte der Großstadt viele hungrige und durstige Menschen ziehen. Der Stand am Zentralfriedhof öffnet, wenn die ersten Begräbnisse am Vormittag zu Ende sind, und schließt um 19 Uhr, wenn keines mehr folgt. Bei einem Leichenschmaus ist die Stimmung, wenigstens in Österreich, nur selten düster, die Trauernden erinnern sich lieber an lustige Episoden aus dem Leben der Verstorbenen oder verscheuchen die eigenen Todesahnungen mit nonchalanten Scherzen. Der Stand vor dem Zentralfriedhof hält sich kulinarisch achtbar an das übliche Programm der sieben, acht verschiedenen Würstel, samt Beigaben wie mehrerer Sorten von Senf und Gebäck, und hält ansonsten ausdrücklich daran fest, dass bei ihm „voller Geschmack, Geschichten und echter Wiener Schmäh“ angeboten werden.
Dass bei Zubereitung und Verzehr der Burenwurst, Käsekrainer, Frankfurter, Debreziner oder Waldviertler Würstel der Schmäh „läuft“, wie es im österreichischen Deutsch heißt, zählt unverzichtbar zur Mythologie des Würstelstandes. Der Schmäh kann bekanntlich geistreich und muss sprachwitzig sein, nicht selten ist ihm auch eine ordentliche Portion Grant beigemengt. Mit dem richtigen Schmäh kann man mürrisch sein und trotzdem humorvoll wirken. Zu seiner folkloristischen Aufwertung gehört, dass der Würstelstand häufig zum sozialen Ort der Begegnung erhoben wird, an dem die verschiedenen Schichten der Gesellschaft miteinander in Kontakt treten: Arbeiter, Studentinnen und Direktoren, vornehme ältere Damen und ausgeflippte Jugendliche, Arme und Reiche.
Wie die meisten Klischees hat auch dieses seine eigene Wahrheit. Am Würstelstand kommen die Menschen tatsächlich über die Grenzen von Stand, Herkunft, Überzeugungen hinweg ins Gespräch. Als ich mich gegen 16 Uhr, weil es „eh scho wurscht“ war, um eine „Waldviertler“ anstellte – eine dunkle, geräucherte Wurst mit krosser Haut, die mit scharfem Senf, geriebenem Kren und Schwarzbrot serviert wird -, geriet ich in eine Gruppe von älteren Herrschaften in dunkler Kleidung, die sich gerade mit Bier und Würstel von den Anstrengungen eines Begräbnisses erholten. Ich erfuhr viel vom Glück, Unglück und Charakter der in ihren mittleren Jahren verstorbenen Frau, doch als ich gefragt wurde, in welchem Verhältnis ich zu ihr stand, musste ich zugeben, sie weder gekannt zu haben noch zur Trauergemeinde zu gehören. „Macht auch nichts“, sagte einer aus der Runde und nickte mir aufmunternd zu, um den rätselhaften, wiewohl völlig richtigen Satz anzuschließen:
„Sterben müssen wir eh alle!“ Damit war ich in die Gemeinschaft der trauernden Würstelesser aufgenommen.
Aber natürlich gibt es auch Gespräche, bei denen der Schmäh danebengeht oder darunterzielt, zumal wenn sich die oft angeheiterten, manchmal ordentlich betrunkenen Nachtschwärmer nicht nur um eine scharfe Wurst und ein letztes Bier bei der Imbissbude einfinden, sondern auch, um ihrem Verdruss und Ärger in einer veritablen Stänkerei Luft zu machen. Im Allgemeinen verstößt es jedoch gegen Sitte und Tradition, dass sich Kunden, wovon immer sie überzeugt seien, gegenseitig wegen divergierender politischer Auffassungen den Genuss am Vertilgen der Würstel verpatzen.
Da viele Betreiber der Stände, aus Überzeugung oder Berechnung, mit der Zeit gehen, werden manchenorts dem Sortiment vegane Würstel hinzugefügt. Zum Beispiel beim populären Stand in der Pfeilgasse, unweit eines großen Studentenheims in der Josefstadt, dem 8. Wiener Gemeindebezirk, der von Mittag bis Mitternacht geöffnet hat. Dort erklärte mir ein Vegetarier, der seine Wurst genannte Speise lustlos verzehrte, dass er schon seit zwei Jahren auf den Genuss von Fleisch verzichte, aber wenn es sich um Würstel handle, immer noch Appetit auf eine so deftige Burenwurst verspüre, wie ich sie gerade verzehrte. Ich lobte ihn für seine moralische Standfestigkeit und ließ es mir schmecken. Dieser Stand hat sogar eine Wiener Mode begründet, und zwar, indem er die „Original Salzburger Bosna“ in die Hauptstadt holte. Tatsächlich kommt dieses Paar Würstel dem Original relativ nahe, erreichen kann sie es aber nicht, und jene, die nun auch an Ständen in anderen Bezirken Wiens angeboten werden, schon gar nicht.
Dazu muss klärend angefügt werden: Anfang der 1950er Jahre erfand der gebürtige Bulgare Zanko Todoroff einen „Bosna“ genannten Imbiss, der nach 30, 40 Jahren auch den südbayrischen und westösterreichischen Raum eroberte und sehr verspätet nach Wien, das sich als Welthauptstadt der Würstel-Kultur versteht, gelangte. Die Rezeptur der Bratwürstel und deren besonderer Currymischung ist bis heute ein Geheimnis geblieben. Der legendäre Bosna-Stand befindet sich in einem schmalen Durchhaus, das vom Salzburger Universitätsplatz zur berühmten Getreidegasse führt, und jahrzehntelang haben sich viele Einheimische dort ihre Bosna geholt. Zu diesen zählten auch jene zahlreichen Salzburger, die es irgendwo hinaus in die Welt verschlagen hatte und die beim Familienbesuch zuhause gleich an einem der ersten Tage das Durchhaus aufsuchten, um sich ihre Bosna zu genehmigen, denn die Spezialität vom Balkan repräsentierte ihnen längst so etwas wie den Geschmack der Heimat.
Heute wäre das nur schwierig zu bewerkstelligen. Denn der globale Tourismus hat jede Menge von Büchern und Broschüren in allen Weltsprachen hervorgebracht, in denen selbst die eiligsten Touristen erfahren, was sie sich an welchem Ort der Erde unter keinen Umständen entgehen lassen dürfen. So windet sich den ganzen Tag eine lange Schlange aus dem Schlurf des Durchhauses auf den Universitätsplatz hinaus, denn kein Besucher aus Korea, Indien, Südamerika oder Kanada mag es sich entgehen lassen, einmal im Leben die legendäre Original Salzburger Bosna vom Balkan gegessen zu haben.
Der Wiener Würstelstand in der Pfeilgasse bietet übrigens auch vegane Bosna, also Bio-Pilzwürstel, an. Obwohl ich kein Purist bin und den Würstelstand nicht auf ein Museum des Geschmacks und Sozialverhaltens von gestern verpflichten möchte, hege ich ein unangemessenes Ressentiment gegen derlei Novitäten. Auch der wahrscheinlich berühmteste Wiener Würstelstand wird nicht der meine werden. „Bitzingers Würstelstand am Albertinaplatz“ befindet sich zwischen dem Museum Albertina und der Staatsoper, also an einem der renommiertesten Plätze des 1. Bezirks. Er hat alle traditionellen und einige moderat modische Speisen im Angebot, offeriert seinen Besuchern zur kräftigen Käsekrainer aber auch Champagner von Moët. Das ganze Jahr über stauen sich um den Kiosk Touristen aus aller Welt, die in ihren Reiseführern gelesen haben, dass sie Wien keinesfalls verlassen dürfen, ohne sich an dieser elegant gestylten Bude angestellt zu haben. Einmal im Jahr kommt der Bitzinger ins Fernsehen, in der Nacht des Opernballs, wenn die Prominenz, Männer im Frack und Damen im dünnen Ballkleid, zu später Stunde vorbeischaut, um frierend ihr frugales Würstel mit Champagner einzunehmen.
Die Zahl der Würstelstände hat in den letzten Jahren abgenommen, sie sind teils von neuen Imbissstationen verdrängt worden, teils haben sie mit diesen fusioniert. Vor allem wo die Haltestellen von Straßenbahnen und Buslinien mit Zugängen der U-Bahn zusammentreffen, wird der Platz mit rabiater Fastfood-Architektur von Kiosken erobert, die weit größer sind, als es die alten, ursprünglich noch fahrbaren Würstelstände waren. Kann man gute Kost anbieten, wenn man außer allerlei gebratenen, gegrillten, gesottenen Würsteln auch Kebap und Döner, asiatische „Noodles“ und Süppchen, Pizzaschnitten, Falafel, Hamburger, Wraps, Pommes, Frühlingsrollen und Burritos im Programm hat?
Der Würstelstand wird trotzdem nicht untergehen. Wenn die Wiener Kultur und Wiener Küche eines über die Jahrhunderte bewiesen haben, dann dies: dass sie unentwegt fremde Einflüsse aufnehmen, sich aneignen und etwas daraus machen, was man alsbald als typisch Wienerisch schätzt.
© Kurt Kaindl
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