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Europäischer geht’s kaum

Schon Grillparzer wusste, dass Österreich den „Völkern schön inmitten“ liegt. Zu jedem Nachbarn haben die Österreicher ein bemerkenswertes Verhältnis von Aversion und Sympathie. Teil eins eines Grenzgangs in drei Teilen
In der ersten Strophe der österreichischen Bundeshymne heißt es: „Heiß umfehdet, wild umstritten, liegst dem Erdteil du inmitten, einem starken Herzen gleich.“ Die Rede ist von der Republik Österreich nach 1945, denn die österreichischungarische Monarchie lag nicht inmitten des Erdteils, sondern war diese Mitte; von der manche meinen, sie würde Europa heute fehlen. Alle Nachbarstaaten seit 1945 waren, von der Schweiz, Liechtenstein und Deutschland abgesehen, bis 1918 entweder Teil dieses österreichischen Mitteleuropas gewesen oder haben heute Landesteile und Regionen, die damals zur habsburgischen Monarchie gehörten.
Der Text der Hymne, über den die meisten Österreicher nach den ersten Versen eher stolpern, als dass sie sich in ihm sicher zu bewegen wüssten, stammt von Paula von Preradović, einer nicht sehr bedeutenden, doch charakterlich untadeligen Schriftstellerin, die mit dem Widerstand gegen die Nationalsozialisten sympathisiert und zusammengearbeitet hat. Ihr Großvater war jener Petar von Preradović, der als Offizier der k. u. k. Armee Mitte des 19. Jahrhunderts Karriere machte, später nach Wien zog und mit seinem umfangreichen literarischen Werk zum ersten kroatischen Nationaldichter wurde. Er lebte im dritten Wiener Gemeindebezirk, gewissermaßen als Nachbar jenes Vuk Karadzić, der das erste serbische Wörterbuch verfasste und eine verbindliche Grammatik des Serbischen festlegte. Der kroatische Nationaldichter und der erste Lexikograf der serbischen Sprache – beide schufen sie die für die Emanzipation ihrer Nationen so folgenreichen Werke ausgerechnet in der österreichischen Metropole! Und träumten nicht von eigenen Nationalstaaten, sondern von einem gleichberechtigten Volk aller Südslawen innerhalb der habsburgischen Monarchie.
2524 Kilometer Grenzlinie
Die Grenzen dieser Monarchie verliefen durch Gebiete, die heute zu Italien, verschiedenen Balkanstaaten, Polen und der Ukraine gehören. Man muss bedenken, dass die Entfernung von Wien und Uzgorod im Westen der Ukraine mit 597 Kilometern um 40 Kilometer geringer ist als die zu Feldkirch ganz im Westen von Vorarlberg. Solche Dimensionen des Kontinents sollte man sich vergegenwärtigen, wenn man glaubt, der Krieg gegen die Ukraine würde in einer vermeintlich fernen Region Europas geführt werden.
Die Grenzlinien der Republik Österreich erstrecken sich entlang ihrer acht Nachbarstaaten auf 2524 Kilometer. Im Uhrzeigersinn liegen, im Norden beginnend, auf der anderen Seite der Grenze Tschechien und die Slowakei, im Osten Ungarn, im Süden Slowenien und Italien, im Westen die Schweiz und Liechtenstein und im Westen wie Norden Deutschland. Drei dieser Länder lagen bis 1989 jenseits einer unüberwindbaren Grenze, dem Eisernen Vorhang mit seinen Todesstreifen; die Grenze gegenüber Jugoslawien, aus der 1991 jene zur einstigen jugoslawischen Teilrepublik Slowenien wurde, war zwar beiderseits kräftig bewacht, aber – da Jugoslawien sich nie dem Warschauer Pakt angeschlossen hatte und sich selbst nicht dem Ostblock zurechnete – doch wesentlich durchlässiger als der Eiserne Vorhang, hinter dem die Tschechen, Slowaken und Ungarn geradezu abgeblockt lebten.
Das Schicksal der Minderheiten
Doch gerade an Slowenien zeigt sich, dass in der Geschichte Konflikte, Animositäten, Verwandtschaften virulent bleiben können, die viel weiter zurückreichen als bloß in die Zeit des Kalten Krieges oder des Zweiten Weltkriegs. Die slowenische Stadt Maribor etwa hieß bis 1918 Marburg und war überwiegend deutschsprachig. Das weiter westlich und ein wenig nördlicher gelegene Klagenfurt hatte hingegen eine zahlreiche slowenische Einwohnerschaft, die ihre Stadt Celovec nannte. Die eine Stadt fiel trotz ihrer deutschsprachigen Mehrheit an Slowenien, die andere trotz ihres starken slowenischen Anteils an Österreich. So zerschnitt die Grenze, die wahrlich blutig umkämpft und stets umstritten war, bis 1938 und wieder ab 1945 Regionen, die über Jahrhunderte zusammengehört hatten. Die slowenische Minderheit in Kärnten ist infolge des lange ausgeübten Drucks, sich zu assimilieren, mittlerweile so sehr geschrumpft, dass sie bereits um ihr kulturelles Überleben kämpft; die deutschsprachigen Gruppen in Slowenien wiederum, wie etwa die Gottscheer-Deutschen, die einen waldreichen Gebirgsstock besiedelten, sind praktisch völlig verschwunden.
Längst haben sich die Nationalitäten vermischt
Die nationale Gemengelage der Region hat manch kuriose Charaktere hervorgebracht – etwa slowenische Nationalisten mit urdeutschen oder deutsche Nationalisten mit krachend slawischen Namen. Welch mörderische Folgen die komplizierte Situation zeitigen konnte, zeigt beklemmend der Fall eines nazistischen Kriegsverbrechers, der die Verantwortung für die Konzentrationslager Belzec, Sobibor und Treblinka innehatte und gegen Kriegsende im slowenisch-italienischen Grenzgebiet die Verfolgung der Partisanen, Juden und Slowenen leitete. Sein schreiend komischer Name lautete: Odilo Globocnik. Dieser Name verrät, dass sein Träger von einer slowenischen Familie abstammte, aber als Odilo zum besten Altgermanen seiner assimilierten Sippschaft bestimmt worden war. Gerade weil er seine Herkunft als Makel empfand, suchte er diesen zu tilgen, indem er sich der Ausrottung für minderwertig erachteter Nationen wie der, der er selbst entsprungen war, verschrieb.
Das ist lange her, doch der nationale Dünkel wirkte auch lange fort in dieser Region, in der sich in Wahrheit die Nationen längst vermischt hatten. Erst in den letzten Jahrzehnten hat sich das Verhältnis, das von einem tiefen Misstrauen geprägt war, merklich entspannt. Das Ihre hat die gemeinsame Zugehörigkeit zur Europäischen Union beigetragen. Heute fahren die Kärntner auf ein Abendessen nicht nur nach Udine oder ins italienische Friaul, sondern auch nach Slowenien „hinunter“. Und die allermeisten stören sich nicht mehr daran, dass es zweisprachige Ortstafeln und Schulen gibt. Die Slowenen wiederum, tüchtig und aufstiegsversessen, kommen nicht mehr nur zum Einkaufen nach Kärnten, sondern auch um hier selbst gute Geschäfte zu machen. Und als Touristen, die mittlerweile genug Geld haben, sich einen Urlaub über der Grenze zu leisten.

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