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Titelthema

Meine moldawische Sehnsucht

Titelthema - Meine moldawische Sehnsucht
Bei der Fahrt durch Fetești, einem kleinen Dorf im Nordwesten Moldaus, hielt die Fotografin vor diesem Kulturhaus aus Sowjetzeiten. Mutter und Tochter kamen zufällig vorbei. © Andrea Diefenbach

Miteinander statt gegeneinander: Moldau könnte im Kleinen ein Europa der Vielfalt repräsentieren, wenn man es nur ließe.

Karl-Markus Gauß01.10.2022

Als meine Frau und ich vor ein paar Jahren ankündigten, unseren Sommerurlaub in der Republik Moldau zu verbringen, war das Befremden bei Bekannten und Freunden groß. Den Wunsch, das kleine Land aus historischem oder kulturellem Interesse ein wenig zu erkunden, hätte man noch verstehen können. Aber dort, an einem der Ränder Europas, einen Sommer verbringen, um Ferien zu machen?


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Ich war vorher bereits zweimal in Moldawien gewesen, wie das Land einst genannt wurde und oft noch immer bezeichnet wird, aber jeweils nur für ein paar Tage. Zum ersten Mal, als ich von der Universität der Hauptstadt Chișinău eingeladen wurde, beim Jahrestreffen der Deutschlehrer des Landes als deutschsprachiger Schriftsteller aufzutreten. Die Deutschlehrer erwiesen sich allesamt als Deutschlehrerinnen, denn auch in der Republik Moldau ziehen es die Männer vor, statt als schlecht bezahlte Pädagogen lieber in technischen Berufen oder der digitalen Wirtschaft zu arbeiten. Die Lehrerinnen sprachen ein passables Deutsch und zeigten sich im Übrigen weniger an der Literatur als am Leben in Österreich interessiert. Sie stellten mir nach Lesung und Vortrag Fragen wie: „Unterstützen Sie Ihre Frau im Haushalt?“ oder „Trinken österreichische Künstler auch so viel Alkohol?“ Als der Kurs zu Ende war, verabschiedete sich eine jede von mir mit Handschlag, Segenswünschen und der Bitte, ein Buch für sie mit persönlicher Widmung zu versehen. Dann fuhren sie mit den kleinen, Marschrutka genannten Bussen in alle Ecken ihres Landes nach Hause.

Korrupte Elite, ehrliches Volk

Den meisten stand eine beschwerliche Fahrt bevor, denn viele Straßen, je weiter sie von Chișinău wegführen, befinden sich in katastrophalem Zustand. Als ich mit dem Dozenten, der die Veranstaltung an der Universität geleitet hatte, ein paar Tage übers Land fuhr, sah ich, dass die kurzen Autobahnstücke schon wenige Kilometer außerhalb der Stadt abrupt in Rumpelpisten mit tief eingebrochenen Stellen mündeten, sodass wir für 20 Kilometer oft eine ganze Stunde brauchten. Dann wieder gab es kurze Strecken, in denen es bestens dahinging. Die kaputten Überlandstraßen waren meist aus Mitteln der Europäischen Union, jene, die sich in gutem Zustand befanden, hingegen mit amerikanischer Förderung errichtet worden. Das Rätsel wurde mir von meinem einheimischen Begleiter aufschlussreich erklärt: Die EU schicke ihre Gelder an amtliche Stellen und vertraue darauf, dass diese schon mit seriösen Baufirmen zusammenarbeiten würden; die Amerikaner hingegen wachten misstrauisch darüber, dass ihre Gelder nicht sinnlos vergeudet werden.

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Eine Dame genießt eine Fußmassage in einem Sanatorium in Cahul. „Ältere Menschen sehen oft erschreckend viel älter aus, als sie wirklich sind“, so die Fotografin © Andrea Diefenbach

Die Republik Moldau ist ein Land, in dem die Korruption im Großen blüht, die sogenannten einfachen Leute dem Besucher aber die Geldtasche nachtragen, wenn er sie irgendwo liegen gelassen hat. 2014 verschwand eine Milliarde Euro an Volksvermögen, 15 Prozent des Bruttonationalprodukts. Drei Banken hatten es über Kredite an OffshoreUnternehmen im Ausland transferiert und so auf verschlungenen Wegen an ihre eigenen Oligarchen überwiesen. Die Banken mussten verstaatlicht werden, die tausend Millionen blieben verschollen, die Manager ungeschoren. Verwechselte ich jedoch in einem Wirtshaus oder einem Geschäft die kleinformatigen, sich frappant ähnelnden Geldscheine, wurde ich von den zumeist bitterarmen Menschen, die daraus ihren kleinen Vorteil hätten ziehen können, geradezu erschrocken auf mein Versehen aufmerksam gemacht. Schon während dieses ersten, kurzen Aufenthalts in der Republik Moldau erwachte in mir etwas, was ich seither meine moldawische Sehnsucht nenne.

Ein paar Monate später war ich wieder in Chișinău, mit dem Fotografen Kurt Kaindl begab ich mich auf eine kleine Recherchefahrt. Am zweiten Tag kamen wir durch eine Stadt namens Leowa, die am legendären, seit je von den Dichtern besungenen Fluss Pruth lag. Der hinter dichtem Gestrüpp silbern glänzende Fluss bildet die Grenze zu Rumänien, ist also, von der anderen Seite betrachtet, eine Außengrenze der Europäischen Union. Wir streiften in der Au am Fluss herum, bis wir unversehens in die Mündungen von Maschinengewehren blickten. Irgendwer hatte der Grenzpolizei gemeldet, dass Schlepper nach einer schmalen Stelle suchten, über die sie Flüchtlinge in das Territorium der EU schleusen könnten. Dazu muss man wissen, dass die Republik Moldau, um überhaupt in Vorverhandlungen zu Verhandlungen mit der EU treten zu können, sich einer simplen Erpressung ergeben musste. Obwohl die Bürger daran nicht das geringste Interesse haben, werden sie genötigt, für die EU den Grenzwächter zu spielen und die eigene Grenze so dicht zu machen, dass niemand unbefugt ihr Land verlassen kann. Wo immer man in der Republik Moldau unterwegs ist, stößt man auf abgewrackte Industrieanlagen, auf marode Infrastruktur. Einzig die Grenzen sind auf EU-Standard eins a hochgerüstet.

Erschöpfte Alte und traurige Kinder

So kam es zu einer denkwürdigen Begegnung: Wir zwei Bürger der Union wurden von der Polizei eines Landes, das der EU nicht angehört, aufgestöbert und angehalten, damit wir es nicht womöglich illegal in das Reich des Wohlstands schafften. Die Sache klärte sich rasch auf, und von den zuvor so martialisch auftretenden Polizisten wurden wir geradezu freundschaftlich verabschiedet: Sie fanden es schlicht großartig von uns, dass wir uns für ihr Land interessierten, von dem sie doch wussten, dass es in Europa kaum jemand kennt, weder seine Geschichte noch seine aktuellen Probleme und schon gar nicht seine Schönheiten und verborgenen, bedrohten Reichtümer.

Natürlich verlassen trotz der strengen Grenzpolizei zahllose Menschen ihre Heimat, um legal oder illegal im Ausland zu arbeiten. In den Dörfern trifft man oft nur erschöpfte Alte und traurige Kinder an, die mittlere Generation ist nach Westen, Osten, Süden aufgebrochen, um sich dort zu verdingen und Geld nach Hause zu schicken. Abertausende Moldauerinnen arbeiten als Haushälterinnen, Altenpflegerinnen, Bardamen in Italien und anderen Ländern der EU, ihre Männer schuften inzwischen auf russischen Baustellen, und besonders populär sind moldauische Frauen als Kindermädchen und Köchinnen in der Türkei.

Die historische Landschaft Bessarabien

Als ich beim dritten Besuch mit meiner Frau das Land kreuz und quer besichtigte, machten wir eine merkwürdige Erfahrung: Je besser man ein Land kennenlernt, umso schwieriger wird es, den Überblick zu bewahren. Gerade die kleinsten Länder Europas haben oft eine verwirrend komplizierte Geschichte. Das Territorium der Republik Moldau deckt sich mit einer historischen Landschaft Europas, für die lange der Name „Bessarabien“ bekannt war. Seit je war diese Provinz zwischen großen Mächten umstritten, die hier ihre Kriege austrugen und ihre Blutspuren zogen. Und ebenso lange siedelten in dieser Region viele verschiedene Nationalitäten: Rumänen und Russen, Ukrainer, Bulgaren, Roma, Juden, seit dem 19. Jahrhundert auch Deutsche. Und Gagausen. Bei diesen handelt es sich um eine mehrere Hunderttausend Menschen zählende turkstämmige Volksgruppe, die auf ihrer langen Wanderung irgendwo den muslimischen Glauben zurückgelassen und den christlich-orthodoxen angenommen hat. Ja, und wer sind bei alldem die Moldauer oder Moldawier selbst? Nun, im engeren, nationalistischen Sinne: jene knappe Mehrheit im Lande, die Rumänisch spricht. Im weiten, übernationalen Sinne: alle zusammen.

Der große Reiz, die große Bedrohung

Was den großen Reiz des Landes ausmacht, erweist sich immer wieder auch als seine größte Bedrohung: die nationale Vielfalt. Dabei sind es nicht die verschiedenen Volksgruppen selbst, die zu Zwietracht neigen oder gerne in Streit geraten, sondern ihre Schutzpatrone aus den Nachbarländern. Das bringt die wechselnden Regierungen in Chișinău oft in große Bedrängnis, wie die kleine Geschichte mit dem Wein zeigt. Der Wein der Region hatte von alters her einen hervorragenden Ruf, selbst der österreichische Kaiser Franz Joseph ließ ihn auf seinen Staatsbanketten kredenzen. Nach 1945, als Moldau eine von vielen Sowjetrepubliken war, ging die jährliche Weinproduktion fast zur Gänze nach Russland. Solange in Chișinău eine prorussische Regierung amtiert, importiert Russland auch heute noch Riesenmengen von moldawischem Wein. Wagt es die Bevölkerung jedoch, einmal eine proeuropäische Regierung zu wählen, wird das Geschäft sofort eingestellt. In der EU wiederum klagen die Winzer ohnedies, dass zu viel Wein das Geschäft störe, sodass es der Republik Moldau erschwert wird, ihn in den Westen zu exportieren.

Der Konflikt zwischen Russen und Rumänen wird neuerdings wieder heftig von Moskau geschürt, als gälte es, vorsorglich einen Grund zu schaffen, um die vermeintlich unterdrückten Volksgenossen eines Tages schützen oder befreien zu können. Die Lehre des moldawischen Alltags klingt freilich ganz anders und viel schöner. Als wir abends in einem Gastgarten in Chișinău saßen, fiel uns auf, dass um uns herum viele junge Paare waren, in denen er sie auf Rumänisch anschmachtete und sie ihm auf Russisch Gleiches zurückgab – oder umgekehrt. Nicht nur die Verliebten wechseln die Sprache, wenn es gerade sinnvoll ist, und verständigen sich über die Sprachgrenzen hinweg als Nachbarn, die aufeinander angewiesen sind und gemeinsam in Frieden leben möchten. Das Land könnte im Kleinen ein Europa der Vielfalt repräsentieren, wenn man es nur ließe.


Blick in den Alltag

Andrea Diefenbachs Bilder aus den ländlichen Regionen der Republik Moldau sind eine Zeitreise an einen Ort, der seit seiner Unabhängigkeit vor 30 Jahren in einer Identitätskrise steckt. Diese visuelle Bestandsaufnahme ist bereits ihr zweites Buch über das zwischen EU und Russland, Stillstand und Fortschritt, Korruption und Rechtsstaatlichkeit hin- und hergerissene Land. Ihre ruhigen, zuweilen auch skurrilen Beobachtungen zeugen von großer Empathie für Moldau und das Lebensgefühl seiner Menschen. In den vergangenen 14 Jahren hat Diefenbach das Land zehnmal bereist, zunächst für einen Fotoauftrag über Sozialwaisen – Kinder, die von ihren Eltern verlassen wurden, um im Ausland Geld zu verdienen. Dann verliebte sie sich in das Land und seine Menschen und kehrte immer wieder zurück. In ihrer Unaufgeregtheit passen sich die Bilder dem zwischen Aufbruch und Stagnation pendelnden Tempo des moldauischen Alltags an. Diefenbach lässt nichts weg und dichtet nichts dazu. Ihre Bilder sind keine Arrangements, viele sogar aus zufälligen Begegnungen entstandene Schnappschüsse. Sie zeigen Szenen aus dem echten Leben der Menschen, denen die korrupten Eliten ihrer Hauptstadt fremd sind, Menschen, die ihren Alltag für sich selbst bestreiten.


Buchtipp

 

Andrea Diefenbach

Realitatea: About Moldova

Hartmann Projects Verlag 2022,

184 Seiten, 45 Euro

Karl-Markus Gauß
Karl-Markus Gauß ist Schriftsteller in Salzburg. Seine Reiseerzählungen wurden in viele Sprachen übersetzt und mit namhaften Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung.